Kapitel 7
Obwohl Ulrich sich bis in die Nacht hinein ziemlich verausgabt hatte, war sein Schlaf von übelster Natur gewesen. Zumindest hatte das heiße Bad hoffentlich eine schwere Erkältung verhindert. Seine Mutter war durch die Geräusche im Badezimmer wach geworden und Ulrich hatte vorgegeben, geschwitzt zu haben und sich deswegen säubern zu müssen. Er kannte Mutter gut genug und wusste, dass sie Reinigungsmaßnahmen niemals etwas entgegensetzen würde.
Als er sich am Frühstückstisch auf seinem Platz niederließ, war alles wie gewohnt vorbereitet. Sein Tee dampfte, seine Brote waren geschmiert. Aus dem Radio sägte irgendeine italienische Operndiva unerträgliche Arien und stach damit akustisch schmerzhaft auf seine Ohrmuscheln ein. Er mochte zwar Klassik, aber diese südländischen Sängerinnen waren doch etwas zu viel des Guten.
»Ist alles in Ordnung, mein Junge?«, fragte Mutter mit sorgenvollem Blick.
»Alles gut. Hab nur wirres Zeug geträumt. Muss mich erst mal sammeln.«
»Warst ungewöhnlich früh im Bett. Du wirst mir doch nicht krank, hoffe ich?«
»Nein, keine Sorge. Hat sicher mit dem Wetter zu tun. Das schlägt etwas aufs Gemüt.«
Ulrich nippte an seinem Tee und biss dann in seine obligatorische Marmeladenstulle. Auch eine Schnitte mit Lyoner sowie ein Leberwurstbrot hatte Mutter ihm serviert. Und da es Sonntag war, stand ein Frühstücksei bereit, fertig gepellt.
Als sie sich beim Griff zur Teekanne über den Tisch beugte, rutschte ihr die rechte Brust aus dem Morgenmantel. Ulrich assoziierte den Anblick augenblicklich mit ihren gestrigen Vorsorgetätigkeiten,
von denen sein Penis nach wie vor schmerzte. Irgendwie war er all dessen inzwischen überdrüssig. Doch um die ersehnte Änderung einzuleiten, musste endlich geliefert
werden. Deswegen würden seine heutigen Tätigkeiten etwas intensiver ausfallen müssen. Allein durch die unvorhergesehenen Ereignisse am gestrigen Tag hatte sich einiges verändert. Nicht nur, dass Ulrich Krauses Kopf in der Halle wiederfinden musste – Dr. Müller würde nunmehr für zwei arbeiten müssen.
»Das stimmt«, meinte Mutter, »man traut sich kaum, aus dem Fenster zu schauen. So ein anhaltendes Miesepeterwetter hatten wir noch nie, wenn ich mich recht erinnere.«
Das stimmte. Es grenzte an ein Wunder, dass es keine Meldungen bezüglich Überschwemmungen gab. Der Dauerregen wechselte nur hinsichtlich seiner Heftigkeit. Ganz aufgehört hatte er aber seit Tagen nicht. Trotzdem waren diese Wetterdiskussionen ebenso nervig wie das Thema der Unterredungen selbst. Man war ja sowieso außerstande, etwas daran zu ändern. Außer, nun ja – sein Therapeut hatte Vermutungen geäußert … Er hatte da irgendwas von Chemtrails erzählt und Wettermanipulationen seitens der Regierung. Irgendein geheimes Projekt, das sich HAARP
nannte oder so ähnlich. Bäcker hatte ihm zwar versichert, dass das mit seinem Problem in keinerlei Zusammenhang stand, aber er versprach, ihm die ganze Thematik später mal zu erörtern.
Endlich hörte das Gekrächze der Diva im Radio auf. Die Sendung wurde durch die Nachrichten unterbrochen. Es war also halb neun und Ulrich fiel ein, dass er seine Pille nehmen musste, damit das heute etwas ausgedehntere Frühstück in seinem Magen blieb, und drückte eine der Tabletten aus dem Blister. Zum Glück würde er die Dinger bald nicht mehr brauchen.
»Sehr gut, ich wollte dich gerade dran erinnern«, kommentierte Mutter.
»Hab mich dran gewöhnt«, murmelte Ulrich.
Selbst mit Flüssigkeit nachgespült, kämpfte sich die dicke Pille wie ein Stein durch seine Speiseröhre. Und als er sie gerade hinuntergewürgt hatte, hielt er anlässlich einer Meldung in den Nachrichten inne.
»Wie die Frankfurter Polizei mitteilte, ist der seit Donnerstag als vermisst gemeldete Fabrikant Ernst Krause tot. Er starb eines gewaltsamen Todes, über dessen Einzelheiten der Polizeisprecher nichts Näheres verlauten ließ. Ein Zeuge berichtet jedoch, der Kopf des Opfers sei in der Nacht in der Nähe des Bahnhofs aus einem fahrenden Auto gefallen, das sich augenblicklich mit hoher Geschwindigkeit entfernt habe. Dabei handelte es sich mutmaßlich um einen alten VW Kombi, der von einem jungen Mann gefahren wurde. Sachdienliche Hinweise nimmt die örtliche Polizei entgegen.«
»Hast du das gehört, Ulrich?«, fragte Mutter mit entsetztem Gesichtsausdruck.
Auch Ulrich war schockiert, doch waren es bei ihm etwas andere Gründe. Ein abstruses Kopfkino baute sich in ihm auf und er konnte förmlich spüren, wie blass er mit einem Mal wurde. Plötzlich ergab sich ein klares Bild bezüglich dieses merkwürdigen Ereignisses von gestern Nacht. Dieser Glatzkopf, der im Stau hinter ihm gestanden hatte – er
war zweifellos dieser Zeuge. Ulrich hatte den Kopf seines Chefs vermisst. Doch diesen hatte er keineswegs in der Lagerhalle vergessen. Nein, das gut verschnürte Paket war hinten aus seinem Wagen gerollt, als er mit offener Heckklappe losgefahren war. Sein Hintermann hatte das gemerkt und scharf abgebremst, als der Kopf auf die Straße gefallen war. Dabei musste die Folie des Bündels zerrissen sein und der Kerl hatte gesehen, was sich darin befand. Und als Ulrich stehen geblieben war, um den Kofferraum zu schließen, war der Hüne mit dem Kopf in der Hand hinter ihm hergelaufen, um ihn aufzuhalten. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Es gab einen Zeugen, der ihn sicherlich wiedererkennen würde. Ihn und seinen Wagen. Was, wenn die Polizei mehr über sein Auto wusste, als in den Nachrichten gesagt worden war? Dann würden die Halter aller in dieser Gegend angemeldeten Autos dieses Typs womöglich überprüft. Sein Nummernschild hatte der Glatzkopf offenbar nicht erkannt, denn dann wäre die Polizei wohl längst hier gewesen.
Er hatte durch mangelnde Aufmerksamkeit einen großen Fehler begangen, der fatale Folgen nach sich zu ziehen drohte. Er musste sofort handeln, denn jetzt ging es ums Ganze. Wenn er es heute vermasselte, die lange ausstehende Lieferung zu erzwingen, und gleichzeitig strafrechtliche Unversehrtheit durchzusetzen, dann würde er den Rechtsstreit verlieren. Und das wäre katastrophal – nicht nur für ihn selbst.
Für das Erreichen seines Zieles hatte er jedoch nur noch einen einzigen aktiven Mitarbeiter. Der Arzt musste heute alles geben und das Doppelte leisten. Helga schied aus, was solche Knochenjobs anging. Mit ihr hatte er andere Pläne, für die ihre körperliche Unversehrtheit von Bedeutung war.
»Ulrich«, kam es von seiner Mutter, »sag doch was. Das ist dein Chef, von dem die da gesprochen haben.«
Da schien das nächste Problem auf ihn zuzukommen. Mutter würde ihn bestimmt aufzuhalten versuchen und eine Tirade von
Vermutungen, Warnungen und Verhaltensmaßregeln absondern. Sie hatte schließlich keinen Schimmer von seiner Rolle in der Angelegenheit. Wusste nichts von seinen guten Absichten, die aufgrund mangelnder Kooperation mit seinem Handelspartner zu all diesen Verwicklungen geführt hatten. Nur eines war klar: Er musste ganz schnell hier raus und an die Arbeit gehen. Zeit war ein absolut knappes Gut.
»Ja, Mutter, ich habe es gehört«, bestätigte er lapidar. »Grauenvoll, einfach nur schrecklich.«
»Wer macht so was denn? Da kann doch nur ein Wahnsinniger hinter stecken. Den Kopf abgeschnitten; das ist ja furchtbar.«
»Alles wird gut, Mutter«, machte Ulrich den sinnlosen Versuch, das sich anbahnende Gespräch zu einem Ende zu führen.
»Gut?«, kam die sarkastische Wiederholung. »Du verkennst wohl den Ernst der Lage. Die suchen einen jungen Mann, der ein ähnliches Auto fährt wie du. Möglicherweise gerätst du da in Verdacht. Wir müssen dringend was unternehmen.«
»Ach, Mutter, das ist doch Unsinn. Was soll man denn da unternehmen?«
»Ulrich, wir müssen sofort zur Polizei und sie aufklären, dass du mit der Sache nichts zu tun hast. Immerhin warst du die ganze Nacht zu Hause. Ich kann das bezeugen. Ich habe ja mitbekommen, dass du sehr spät in der Badewanne warst.«
Es war so weit – die ohnehin ziemlich vertrackte Situation drohte, sich in ein unkontrollierbares Chaos zu verwandeln. Mutter würde ihn mit aller Gewalt hierbehalten wollen und gleichzeitig keinen Deut von ihrer Forderung abweichen.
Nervosität sowie auch blanker Zorn machten sich in Ulrichs Kopf breit und vernebelten allmählich seine Fähigkeit zum klaren Denken. Auf den Gedanken, ihr einfach zu versichern, zur Polizei zu fahren, während er in Wirklichkeit zur Halle aufbrach, kam er gar nicht erst.
»Mutter, ich muss dringend los«, stieß er stattdessen nur hervor.
»Junge, ich werd dir helfen, einfach mit dem Auto durch die Gegend zu fahren. Die suchen nach einem alten VW Kombi, kapierst du das nicht?«
»Ob er nun vorm Haus steht oder auf der Straße unterwegs ist – was macht das für einen Unterschied?«
»Einen sehr großen! Hier kann ich dich beschützen, dir an Ort und Stelle ein Alibi geben, wenn sie kommen. Oder aber wir fahren
zusammen zur Polizei. Fährst du allein, werden sie dich aufgreifen und mitnehmen. Und bis ich auf der Wache bin, sitzt du längst in Untersuchungshaft. Abgesehen davon, willst du deine Mutter etwa zu Fuß durch den Regen laufen lassen?«
»Mutter, du übertreibst wirklich«, meinte Ulrich verzweifelt. »Vertrau mir einfach. Ich werde das anders regeln.«
»Gut, dann sag mir, wie
du das regeln willst!«
»Ich sagte doch: Vertrau mir!«
»Irgendwas ist doch merkwürdig an deinem Benehmen«, äußerte sie den befürchteten Verdacht. »Du weißt doch irgendwas. Komm, Junge, sprich mit mir!«
»Dazu habe ich keine Zeit. Ich muss sofort los!«
»Von wegen!«, kam die harsche Antwort. »Und erst recht nicht ohne … du weißt schon.«
»Mensch, Mutter!«, wurde Ulrich laut. »Das ist auch so eine Sache. Lass endlich diesen Quatsch! Du hast das gestern dreimal gemacht. Mein Ding tut mir heute noch weh.«
»Dann sind meine Maßnahmen anscheinend erfolgreich. Und wage es nie wieder, mich anzuschreien – nach allem, was ich für dich tu!«
»Verdammt, das ist alles unnötig. Ich werde das Mädchen so schnell nicht anrühren.«
Eine verbale Pause stellte sich ein. Mutter stand mit geweiteten Augen und offenem Mund vor ihm und Ulrich wurde sich bewusst, dass er aufgrund des Durcheinanders in seinem Kopf das Tabu preisgegeben hatte.
»Was
hast du da eben gesagt?«, kam es auch ihrerseits wie befürchtet.
»Ach, vergiss es, Mutter! Versteh doch: Ich bin kein kleiner Junge mehr. Du erdrückst mich mit alledem.«
»Sag mir sofort den Namen der Hure, die dir schöne Augen macht!«
»Der spielt keine Rolle. Ich werde jetzt fahren und vermutlich erst zum Abendessen zurück sein.«
»Das könnte dir so passen! Du wirst schön hierbleiben! Es gibt einiges zu bereden.«
»Scheiße, nein! Es ist alles gesagt worden!«, brüllte Ulrich. »Du wirst mich nicht aufhalten. Ich werde mich auf den Weg machen und meinen Angelegenheiten nachgehen. Und aus meinen Angelegenheiten wirst du dich ab sofort raushalten!«
Eine schallende Ohrfeige war die Antwort.
»Das ist nun der Dank«, stieß Mutter erbittert hervor. »Der Dank für ein Leben in Geborgenheit. Der Dank für eine behütete Kindheit. Der Dank dafür, dass ich alles für dich tue. Aber geh! Fahr zu deiner dreckigen Nutte. Du wirst bald sehen, was sie wirklich im Schilde führt. Geh, lass dich verhaften! Lass dich verhören! Vielleicht wird eine vorübergehende Haft dafür sorgen, dass du wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehrst.«
»Du hast keine Ahnung, woran ich arbeite, Mutter. Vielleicht tröstet es dich, wenn ich dir sage, dass auch für dich eine Menge drin ist.«
»Verschwinde!«, fuhr sie ihn an. »Und heute Abend erwarte ich dich in meinem Bett. Ich werde dir die Flausen schon austreiben. Dich so hart rannehmen, dass du gar keine Gehirnzellen mehr dazu frei haben wirst, Gedanken an irgendwelche Frauenzimmer zu verschwenden.«
Als Ulrich daraufhin ohne ein weiteres Wort die Wohnung verließ, wussten weder er noch seine Mutter, dass es einen gemeinsamen Abend nie wieder geben würde. Gewaltige Veränderungen warfen ihre Schatten voraus und was bleiben würde, war lediglich der Regen.