Kapitel 9
Alle Vorbereitungen waren getroffen, das Finale war eingeleitet. Das x-förmige Gestell, auf dem Dr. Müller fixiert war, hatte eine kleine Änderung erfahren. Es war mit einer doppelten Hydraulik ausgestattet, sodass es eine beidseitige Höhenverstellbarkeit ermöglichte. Für sein Vorhaben hatte Ulrich den Mediziner in die Waagerechte gebracht, denn so konnte er effizienter arbeiten. Um eventuellen Missgeschicken vorzubeugen, wie er sie gestern erlebt hatte, war er auf die pfiffige Idee gekommen, die Werkbank in die Nähe des breiten Abflusses zu rücken, der in die Kanalisation führte. Es ging um mehr als Fäkalien; möglicherweise wurde auch Blut freigesetzt, was dann problemlos abfließen konnte. Die Reinigungsprozedur würde dann schneller vonstattengehen können.
Um eine Symbiose zu den juristischen Angelegenheiten zu schaffen, hatte Ulrich zudem zwei Baustellenstrahler auf das Gesicht des Arztes gerichtet. Diese blendeten seinen Mitarbeiter mit grellem Licht und strahlten zudem eine ungeheure Hitze aus. Das Ganze wirkte dann wie ein Verhör. Das hatte gut funktioniert. Immerhin hatte er Dr. Müller entlocken können, dass er sich von Berufs wegen mit bestimmten Gesetzen auskannte. Er hoffte, dass die Analogie ausreichend war, um seine zusätzliche Forderung nach Erhaltung seiner Freiheit zu erzwingen. Im Folgenden würde der Mediziner gewissermaßen die Rolle der Justitia einnehmen. Zusätzlich musste er den Part des ausgeschiedenen Ernst Krause übernehmen, der für die finanziellen Angelegenheiten zuständig gewesen war. Auch hier stützte Ulrich sich auf die Hoffnung, dass der Mann als Arzt aufgrund seines Verdienstes genug mit Geld zu tun hatte, um das zu bewerkstelligen. Und selbstverständlich musste er weiterhin die gesundheitlichen Aspekte erfüllen. Das würde sicherlich ein Knochenjob für ihn werden, aber das wollte Ulrich wiedergutmachen.
Die Baustellenstrahler hatte er allerdings etwas bearbeiten müssen. Sie waren auf ihren Stativen zwar höhenverstellbar, ließen sich am oberen Ende aber nicht in die exakte Position kippen. Deshalb hatte Ulrich die Stangen entsprechend verbiegen müssen. Das jedoch hatte zur Folge, dass die Strahler etwas wackelig standen und beim kleinsten Windhauch umzukippen drohten. Er musste also ein wachsames Auge auf sie haben, um das zu verhindern.
Ulrich war sichtlich nervös und stand unter Druck. Es musste heute funktionieren, denn mehr Zeit konnte er nicht herausschlagen. Zu viel war schiefgegangen, dazu hing ihm der Ärger mit seiner Mutter nach, weshalb er innerlich aufgebracht und sogar wütend war. Doch er durfte diesen Gefühlen keine Plattform geben. Was er tat, basierte schließlich auf Liebe. Das durfte unter keinen Umständen durch niedere Emotionen gefährdet werden.
Neben der Werkbank brannte auf einem kleinen Beistelltischchen ein Bunsenbrenner unter einem grillartigen Gestell. Darauf befanden sich zwei murmelgroße Metallkugeln, in die Ulrich zuvor mit einem Gewindebohrer je ein Loch gebohrt hatte, um in jedem davon eine Schraube zu befestigen. Zwei Zangen lagen ebenfalls bereit sowie ein Cuttermesser. Die Kugeln glühten allmählich.
»Sind Sie bereit?«, fragte Ulrich.
»Verpfeif dich, du Bastard!«, kam die geschwächte Antwort des Arztes, der unter dem heißen Licht der Strahler nassgeschwitzt war.
»Bitte lass ihn in Ruhe, Ulrich«, rief Helga weinerlich durch das Fenstergitter. »Hast du nicht schon genug angerichtet?«
»He, mach dir keine Sorgen, Kleines!«, antwortete Ulrich mit einem kurzen Blick nach hinten. »Ich komme gleich zu dir.«
Er wandte sich wieder dem Mediziner zu.
»Hören Sie, Dr. Müller. Es wird alles gut. Sie müssen noch einmal kurz die Zähne zusammenbeißen. Wenn Sie kooperieren, wird heute alles erledigt sein, das verspreche ich Ihnen.«
»Ich scheiße auf Ihre Versprechungen. Nehmen Sie das Ding da aus meinem Hintern und lassen Sie mich hier raus!«
»Bleiben Sie ruhig!«
Zunächst ging es um das Thema Finanzen. Ohne weiter auf das Gewimmer zu achten, griff Ulrich zu dem Cuttermesser, fuhr die scharfe, frische Klinge heraus und setzte es am nackten Bauch des Arztes an. Diesmal wollte er jedoch nicht bis zum Magen vordringen, sondern schnitt zwischen dem stark entzündeten Hermes-Symbol und dem Bauchnabel ein Rechteck in die Haut, hob dann mit der Klinge eine Ecke an und zog unter ständigen Schnitten den Hautlappen ab. Blut lief an beiden Körperseiten hinunter und Dr. Müller schrie wie von Sinnen, während er den Kopf hin und her warf.
»Ich weiß, es tut weh«, gab Ulrich zu. »Aber geht es vielleicht trotzdem etwas leiser? Ich kriege sonst nämlich Kopfschmerzen. Und ich möchte davon absehen, Sie zu knebeln.«
Helga war am Fenster ihres Zimmers in einen Weinkrampf verfallen. Sie schluchzte und schniefte, stammelte dabei unverständliches Zeug. Sie tat ihm leid.
»Bitte, Schatz«, rief er ihr beruhigend zu. »Sieh dir das doch nicht an!«
Dann griff er in seine Hosentasche und holte zwei Geldscheine hervor, legte sie in die offene Wunde und bedeckte sie mit dem zuvor herausgeschnittenen Hautstück.
»Sehen Sie, alles erledigt«, wandte er sich an Dr. Müller.
Die Antwort bestand lediglich in einem halb unterdrückten Jaulen.
»Jetzt kommt noch eine Sache und dann sind wir auch durch«, versicherte Ulrich ihm.
Bei dieser Sache handelte es sich nunmehr um den juristischen Aspekt. Justitia war immerhin blind, und was er vorhatte, tat er wiederum nur sehr ungern. Am liebsten hätte er dem Mediziner dafür eine Betäubungsspritze verpasst, doch von Narkosen hatte er keine Ahnung.
Die Metallkugeln über dem Brenner glühten bis zur Hälfte. Das reichte vollkommen für seine Zwecke. Nachdem er den Kopf des Arztes mit einem Lederriemen auf der Werkbank fixiert hatte, nahm er die Kugeln vom Rost, indem er sie mit den Zangen an den hervorstehenden Schrauben packte. Dann näherte er sich damit Dr. Müllers Gesicht.
»Was hast du vor, du Wahnsinniger?«, schrie der Arzt.
»Ruhig bleiben!«, meinte Ulrich unbeirrt.
Offenbar sah der Mann kommen, was ihn erwartete und schloss in Verzweiflung die Augen, während er Angstschreie ausstieß. Doch seine Lider waren keineswegs feuerfest und die Kugeln brannten die dünnen Hautschleier im Nu hinfort, versanken dann mit zischenden Geräuschen in seinen Augäpfeln. Übelriechender Dampf stieg auf, aus den Rändern seiner Augenhöhlen rann eine klebrige Flüssigkeit. Während seine Sehorgane sich unter der Gluthitze auflösten und verdampften, wandelten sich seine Angstschreie zu erbärmlichen Schmerzenslauten, die Ulrich in der Seele wehtaten. Einen weiteren kurzen Moment, dann hatte er alles erledigt.
Er zog die Kugeln wieder heraus, bevor sie sich in das Gehirn des Mannes durchbrannten, denn einen weiteren Toten durfte es auf keinen Fall geben. Ein schmieriger Schleim klebte an ihnen, der sie auch nach dem Herausziehen mit den schwarz verkohlten leeren Höhlen verband. Schließlich tropfte der stinkende und qualmende Brei zu Boden. Ulrich platzierte die verkrusteten Kugeln wieder auf dem Rost und löschte die Flamme des Bunsenbrenners.
»Sehen Sie, wir haben es geschafft«, versuchte er, ihm Trost zu spenden, doch seine Worte gingen in den Schreien unter.
Egal! Zunächst hatte er etwas anderes zu tun. Der Schuldner wartete immerhin auf Post. Er begab sich zur Hinterwand, richtete seinen Blick auf die vom Regen gefluteten Oberlichter und holte tief Luft.
»Nachdem die Lieferung abermals ausgeblieben ist«, stieß er kraftvoll hervor, »sah ich mich gezwungen, finale Maßnahmen einzuleiten. Ich erwarte den Eingang meiner Forderungen daher innerhalb der nächsten halben Stunde. Sollte wiederum …«
Ein zischendes Geräusch von hinten riss ihn aus der Konzentration. Er versuchte, den Fokus zurück auf seine letzte Mahnung zu richten.
»Sollte wiederum …«
Das Geräusch wurde lauter, begleitet von den infernalischen Schreien des Mediziners.
»Verdammt!«, schrie Ulrich voller Wut und fuhr herum. »Kapiert denn niemand, dass ich …«
Noch bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, sah er, was passiert war. Einer der Baustrahler war umgekippt. Der glühend heiße Scheinwerfer war auf dem Bauch des Arztes gelandet und hatte genau die Stelle getroffen, an der Ulrich vorhin die Geldscheine hinterlassen hatte. Der aufgelegte Hautlappen und die Banknoten waren rettungslos verbrannt und zu Dampf aufgestiegen. Der Strahler hatte sich bereits mithilfe seiner enormen Hitze tiefer in den Körper hineingefressen und vermutlich alle Hautschichten zerstört. Ein unerträglicher Gestank machte sich breit. Gleichzeitig waren die Schreie kaum auszuhalten. Schreie, die nicht nur von Dr. Müller, sondern auch von Helga kamen, die am Fenster stand und die Situation mitverfolgt hatte.
Panik machte sich in Ulrich breit. Es war ihm unmöglich, den heißen Baustrahler einfach mit bloßen Händen aus dem Körper herausziehen. Hektisch wanderten seine Blicke durch die Halle und registrierten ein Brecheisen, das in einer Ecke an der Wand lehnte. Er rannte los, ergriff das Werkzeug und stürmte zurück zur Werkbank, wo er mit dem hakenförmigen Ende des Utensils verzweifelt versuchte, den Strahler fortzuziehen. Er verspürte einen heftigen Widerstand, der ihm unmissverständlich verriet, dass sich das Ding regelrecht im Bauch des Arztes festgebrannt hatte. Er setzte seine gesamte Kraft ein. Endlich löste sich der Scheinwerfer mit einem widerlich reißenden Laut aus dem Fleisch und fiel zu Boden. Die Birne platzte und das Licht erlosch.
Fassungslos sah Ulrich sich die Bescherung an. Der Strahler hatte ein riesiges Loch in Dr. Müllers Bauch gebrannt. Der Magen war zwar intakt, aber an seiner äußeren Haut schon angekokelt. Und es grenzte an ein Wunder, dass der Arzt bei diesen offensichtlichen Schmerzen bei Bewusstsein blieb und weiterhin aus vollem Hals schrie. Helgas Heulerei begleitete das irre Crescendo. Ulrich war kurz vorm Durchdrehen.
»Himmelkreuzdonnerwetter!«, fluchte er. »Könnt ihr vielleicht mal die Klappe halten? Ich muss nachdenken, verdammt noch mal!«
Er drehte sich weg, sodass er beide nicht mehr sah, und bewegte sich zur Wand, wobei er das Brecheisen hinter sich herzog. In seinem Ärger blendete er kurz die Realität aus und nahm keine Notiz von dem Widerstand am Boden. Erst als ein lautes, klirrendes Geräusch hinter ihm ertönte, eine weitere Lichtquelle versiegte und die Schreie des Arztes sich zu verkrampften Lauten veränderten, fuhr er panisch herum – und traute seinen Augen kaum. Offenbar war der Haken des Brecheisens, das über den Boden geglitten war, an dem Kabel des zweiten Strahlers hängen geblieben. Dieser war nun ebenfalls umgestürzt. Der Scheinwerfer war exakt auf Dr. Müllers Gesicht gefallen, wobei die Stabbirne zerbrochen war. Während das heiße Metall des Gehäuses seinen Kopf verbrannte, gaben die nunmehr offen liegenden Kontakte Stromstöße ab. Der geschundene Körper zuckte, bäumte sich auf. Funken und Flämmchen entstanden an den unterschiedlichsten Stellen, der Kopf war von kleinen Blitzen umhüllt. Vom Strom durchflutet, richtete sich der Penis des Unglücklichen auf und gab einen starken Urinstrahl ab, der sich unkontrolliert im Raum verteilte.
Ulrich fiel das Brecheisen aus der Hand. Mit offenem Mund starrte er auf das Szenario. Wertvolle Sekunden verbrachte er in dieser Paralyse, bis er die Herrschaft über seine Muskulatur zurückerlangte, zur Wand rannte und den Stecker des Baustrahlers aus der Dose zog. Augenblicklich erschlaffte der Körper des Mannes. Kein Laut entsprang mehr seiner Kehle und Ulrich wusste, dass keine Eile mehr geboten war, um den Strahler aus seinem Gesicht zu entfernen.
Es war hoffnungslos. Sein Schuldner war übermächtig und zu allem bereit, um weiterhin die Lieferung verweigern zu können. Doch warum? Was hatte er ihm getan, was ein solches Sträuben rechtfertigte? Doch vor allem plagte ihn die Frage, was in der Folge werden würde. Es war immerhin das passiert, was niemals hätte passieren dürfen. Dadurch blieb ihm nur Helga als Mitarbeiterin – und ihr konnte er aus nachvollziehbaren Gründen kein Haar krümmen, um brauchbare Ergebnisse zu provozieren.
Ein letzter Funken Hoffnung stieg in ihm auf: Es ging zunächst nicht mehr um Gesundheit und Reichtum. Nur zwei Dinge waren von Bedeutung: Das erste war ein für ihn rechtlich folgenloser Ausgang der Angelegenheit. Das zweite war Helga. Der letzte Strohhalm, an den er sich klammerte, bestand in der minimalen Zuversicht, dass seine letzte Mahnung wenigstens in diesen beiden Punkten zum Erfolg führen würde.
Er näherte sich dem vergitterten Fenster, hinter dem Helga nach wie vor schluchzend die Geschehnisse verfolgte.
»Liebes«, sprach er sie an, »jetzt gibt es nur noch uns.«
»Nein, Ulrich«, dementierte sie. »Es hat uns nie gegeben. Hör endlich auf, mich Liebes oder Schatz zu nennen! Ich habe nie etwas von dir gewollt, kapier das doch! Schau dir an, was du angerichtet hast! Du bist wahnsinnig, sieh das endlich ein! Du brauchst psychiatrische Hilfe!«
»Ich?«, antwortete Ulrich. »Ich brauche psychiatrische Hilfe? Was hier passiert ist, ist alles eure verdammte Schuld! Ich wollte das Beste für alle Beteiligten. Eine strahlende Zukunft für uns beide. Sicherheit für Mutter. Gesundheit und ein gesichertes finanzielles Auskommen. Und den anderen beiden wäre gar nichts passiert, hättet ihr nur besser mitgearbeitet. Aber ihr musstet ja immer aus der Reihe tanzen. Wart nie richtig bei der Sache. Aber es ist wohl der Fluch der Liebevollen, dass man sie mit Füßen tritt.«
»Liebevoll? Du hast gemordet, Ulrich! Menschen zu Tode gefoltert. Um Himmels willen, was ist denn daran liebevoll?«
»Das wirst du nie verstehen können, weil du von Anfang an immer nur gegengesteuert hast. Genau wie die anderen beiden. Ich liebe dich, Helga, und du bist alles, was mir geblieben ist. Wir gehen irgendwo hin und fangen ganz neu an.«
»Nein, wir gehen nirgendwo hin! Zumindest nicht zusammen.«
»Warum hast du mir dann Avancen gemacht?«
»Das habe ich nie. Du hast es nur so aufgefasst. Keine Ahnung, ob du einfach nur liebeskrank bist oder ob was anderes dahintersteckt. Irgendjemand hat dir doch völlig den Kopf verdreht. Und damit meine ich jemand anderen als mich. Was soll das alles? Von wem erwartest du irgendwelche Lieferungen?«
»Von wem? Natürlich vom …«
Motorengeräusche von draußen ließen ihn aufhorchen. Mehrere Fahrzeuge waren offenbar in den Hof gefahren. Ein finaler Vertrauensschimmer ließ ihn hoffen, dass die Überbringer der Lieferung endlich angekommen waren. Doch Strohhalme waren zerbrechlicher Natur, wie er sich schnell eingestehen musste, als durch die nassen Oberlichter ein blinkender blauer Schein zu erkennen war. Und ein paar Sekunden später drang eine männliche Stimme, verzerrt durch ein Megafon, durch die schützenden Mauern.
»Achtung, hier spricht die Polizei. Kommen Sie mit erhobenen Händen raus!«
Aus und vorbei. Damit war die Sache entschieden. Keine Lieferung, keine Freiheit, kein Leben mit Helga – eine ungewisse Zukunft, die nichts Positives erkennen ließ. Nur in der Flucht bestand noch eine geringe Chance. Doch das Gebäude war zweifellos bereits umstellt.
Ulrich richtete seinen Blick in Richtung der Werkbank, auf welcher der verkohlte Leichnam seines Arztes lag. Seine Augen wurden zu Schlitzen. Ein seltsames Lächeln zog sich über sein Gesicht.
»Du hast die Möglichkeit, mit mir zu kommen«, richtete er das Wort an Helga. »Überleg es dir, sofort! Willst du mich begleiten?«
»Ulrich, es ist vorbei. Kapier es endlich! Du bist ihnen ausgeliefert.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage. Zum letzten Mal: Willst du mit mir kommen?«
»Nein, niemals!«, antwortete das Mädchen entschlossen. »Und wenn du der letzte Mann auf der Welt wärst.«
Damit verließ Ulrich seine Angebetete, öffnete das Gitter am Boden und verschwand in der Kanalisation.