Kapitel 13
Das Ding erfüllte zwar streng genommen seinen Zweck, aber so richtig in Fahrt kam Inge Krämer nicht. Es lag zweifellos daran, dass diese sogenannten Spielzeuge Leben simulierten, aber in Wirklichkeit eben tot waren. Wie sich moderne Frauen damit standardmäßig befriedigen konnten, war ihr schleierhaft. Zugegeben, dieser Vibrator, wie moderne Frauen das Teil wohl nannten, hatte einige Raffinessen, hinter denen sich ein echter Penis verstecken konnte. Er bewegte sich auf Knopfdruck wie eine sich windende Raupe in den erogenen Zonen, war über und über mit Kitzelnoppen gespickt und ließ auch hinsichtlich seiner Größe keine Wünsche offen. Doch vielleicht war genau das der Punkt, der ihn wenig authentisch erscheinen ließ, sondern eher nachgemacht und unecht. Tot eben.
Inge versuchte es mit einer anderen Vorstellung. Bis eben hatte sie sich das Bild vor Augen gerufen, wie Ulrich auf ihr lag. In Wahrheit saß sie jedoch an diesem späten Mittwochabend im Wohnzimmer nackt auf einem Sessel, den sie vorsichtshalber mit einem dicken Handtuch bedeckt hatte, damit der erhoffte Saft aus ihrer Vagina sowie die benutzte Gleitcreme keine Flecken erzeugte. Also visualisierte sie eine andere Situation, die ihrer tatsächlichen Haltung etwas näher kam. Sie im Sessel und Ulrich vor ihr; fingerte sie, leckte sie und stieß schließlich zu. Einen kurzen Moment kribbelte es tatsächlich etwas, doch dann nahm die Lust wieder ab. Und dieses ständige Denken bei der Arbeit wirkte sich kontraproduktiv aus. Es lenkte ab.
Genervt zog sie das sich nach wie vor bewegende Ding aus ihrer behaarten Scheide und versuchte etwas anderes. Sie quetschte sich den Kunstpenis in den Hintern – obwohl das eine Praktik war, die sie verabscheute, zumal Analspielchen sie an ihre Zeit mit Helmut erinnerten. Er hatte darauf geschworen und es damit begründet, dass sie davon nicht schwanger werden konnte. Doch ihr verhasster und längst begrabener Helmut war hier nicht das Thema. Sie stellte sich einfach vor, dass es Ulrich war, der ihr gerade von hinten … der sie anal … mit dem sie … verdammt, der sie mit seinem knüppelharten Schwanz wild in den Arsch fickte. Im gleichen Moment überkamen sie die ersehnten Wonnen. Das Geheimnis lag darin, sich schlichtweg gehen zu lassen. Für einen kurzen Moment überwand sie alle gedanklichen und verbalen selbstauferlegten Schranken und Grenzen. Als sich der Orgasmus ankündigte, glaubte sie fast zu spüren, wie der grotesk rotierende Gummischwanz wie eine Rakete aus ihrem Loch schoss. Ein Feuerwerk von Gefühlen überkam sie, und sie stieß einen hemmungslosen Schrei aus. Dann sank sie mit einem befriedigten Lächeln zurück auf ihren Sessel. Einige Male atmete sie durch, bevor sie sich ihren Bademantel überzog und ihn mit einem verschämten Räuspern an der Vorderseite zuband, um ihre Blöße zu bedecken. Sie beeilte sich mit dem Entfernen der Unterlage, faltete das feuchte Handtuch zusammen und warf es sogleich in die Waschmaschine. Aus den Augen, aus dem Sinn. Das Spielzeug lag noch im Wohnzimmer auf dem Teppich. Widerwillig hob Inge es auf und trug es ziellos durch die Wohnung, bis sie es im Badezimmer verärgert in die Badewanne warf.
Nach dem Orgasmus kam der zu erwartende Frust. Nicht nur, dass sie sexuelle Handlungen zum Selbstzweck ausgeführt hatte. Nein, sie hatte masturbiert und sich dabei wie ein wildes Tier verhalten, sich einer dreckigen Lust hingegeben. Das Ganze obendrein mit einem Hilfsmittel, für das sie bezahlt hatte.
Allein der Kauf dieses Dings war für sie im Nachhinein unerklärlich. Etwas war über sie gekommen, was sie unter normalen Voraussetzungen strikt ablehnte. Ulrich war seit Sonntagmorgen fort. Während der fast vier Tage war es Inge unmöglich gewesen, dafür sorgen zu können, dass er auf dem rechten Weg blieb. Und das wurmte sie. Vermutlich würden es irgendwelche Psychologen völlig anders deuten. Nach deren Auffassung würde ihr lediglich der verbotene Beischlaf mit ihrem Sohn fehlen. Doch sie wusste, wie sie sich für ihn aufgeopfert hatte. Angefangen hatte das schon in seiner Kindheit, als Inge bemerkt hatte, wie sein verdorbener Vater Helmut ihn immer weiter auf eine gefährliche Schiene gelenkt hatte, weil er die Dinge einfach zu locker angegangen war. Da hatte sie diesen kleinen Unfall arrangiert und damit eine hohe Gefängnisstrafe riskiert, wäre sie überführt worden. Sie hatte sich somit für ihren Sohn strafbar gemacht und der Einzige, der sie dafür belohnen würde, war Gott selbst.
Ihre täglichen Vorsorgemaßnahmen waren nichts weiter als regelmäßige Selbstgeißelungen. Immer, wenn sie Ulrich nach dem Essen mit oralen Praktiken entleerte, stellte sich ihr die eigene Gefühlsebene in den Weg und verleitete sie zu Kollateralhandlungen. Ulrich blieb es verborgen, wenn sie sich – versteckt unter dem Esstisch – gleichzeitig selbst befriedigte. Das war eine Nebenerscheinung, ausgelöst durch ihre Selbstlosigkeit. Wiederum ein Opfer, das sie für die gute Sache zu geben bereit war. Und wenn sie ihn zuweilen abends zu sich ins Bett holte, wurde das natürlich zu einem weit größeren Problem. Um Ulrich in dieser bösen Welt vor der Dunkelheit zu schützen, ließ sie die Dämonen der Begierde in sich fahren, was sie täglich aufs Neue schwächte. Oft fragte sie sich, ob Christus am Kreuz körperlich ähnlich gelitten hatte wie sie auf seelischer Ebene.
Nun war es wahrhaftig so weit gekommen, dass sich in kurzen Momenten etwas über sie legte, was bei primitiven Menschen vermutlich als schnöde Geilheit bezeichnet wurde. Doch was sie selbst betraf, so wusste sie, dass dies nur dem Entzug der Möglichkeit, gottgefällige Handlungen auszuführen, geschuldet war. Es war erniedrigend gewesen, über die Schwelle dieses Erotikshops zu treten und sich dort von einem männlichen Individuum beraten lassen zu müssen. Für diese abscheuliche Sünde hatte sie bereits gebüßt – in finanzieller Hinsicht. Fast hundert Euro hatte das dreckige Penisimitat gekostet. Und innerlich hatte sie zu Gott gebetet, dass niemand, der sie kannte, sie gesehen hatte, während sie mit leeren Händen in diesen Laden hinein- und mit einer gefüllten Plastiktüte wieder hinausgegangen war.
Viele Tränen hatte sie vergossen, im Kampf gegen die Dämonen, die sich um ihre Seele stritten. Sie hatte sich schließlich gewünscht, dieses verdammte Ding wäre von Anfang an kaputt gewesen. Aber es funktionierte tadellos. Es hatte nicht die Klasse seines lebendigen Gegenstücks, aber als ihr das bewusst geworden war, waren augenblicklich diese bösen Geister zur Stelle gewesen und hatten sie mit den schmutzigsten Gedanken versorgt, sie furchtbar ordinäre Begriffe für die perversen Handlungen finden lassen und sie zu einem Verhalten genötigt, das an das Treiben in einem Schweinestall erinnerte. Sie selbst war sich dabei fremd geworden – das war sie auch nicht. Vermutlich hatte sie einen kurzen Eindruck davon bekommen, wie Dämonen sprachen. Man hörte das ja immer wieder von Besessenen. Sie hoffte, dass sie sich mit ihrer Stärke erfolgreich dagegen wehren konnte und nahm sich fest vor, den künstlichen Phallus dem Müll zu überantworten.
Wie sich das alles weiter entwickeln würde, wagte sie sich nur ungern vorzustellen. Da schien sich etwas ganz Böses zusammenzubrauen. Seit ewigen Zeiten arbeitete Inge daran, ihren Sohn im christlichen Glauben zu erziehen, schirmte ihn von all den üblen Einflüssen ab und saugte diesen ganzen Dreck, der in seine Richtung unterwegs war, wie ein Schwamm in sich selbst auf. Jetzt kam so ein Flittchen daher und machte ihm schöne Augen. Und Ulrich war ihr prompt verfallen. Diese Schlampe war nur ein weiterer Abkömmling ihrer eigenen Dämonen, eine weitere Versuchung, die in Wirklichkeit möglicherweise mehr an Inge als an ihren Sohn gerichtet war. Die Ausmaße dessen, was dadurch ausgelöst worden war, konnte sie noch nicht überblicken. Dieses Miststück hatte es tatsächlich geschafft, dass Ulrich per Fahndung polizeilich gesucht wurde. Sogar die Zeitung berichtete täglich über den Stand der Dinge. Bereits am Sonntag waren zwei Ermittler bei ihr aufgetaucht, hatten sie mit Fragen belästigt und ihrem Sohn Dinge unterstellt, die völlig weltfremd waren. Ein Mörder und Entführer sollte er sein, sich in der Kanalisation herumgetrieben haben und solche Sachen. Die beiden erkundigten sich nach Ulrichs Kindheit, seinen Gepflogenheiten, seinen Charakterzügen. Wollten Einzelheiten über die häuslichen Gegebenheiten wissen. Und Inge hatte wahrheitsgemäß immer wieder beteuert, dass er ein unbeschriebenes Blatt sei, das Opfer einer Intrige, heraufbeschworen durch ein dummes Frauenzimmer. Was auch immer in Wirklichkeit passiert war: Dieses Weibsbild hatte offenbar als Einzige die Vorgänge in dieser Halle überlebt. Vor den Beamten hatte Inge keinen Hehl daraus gemacht, dass sie diese Kuh am liebsten vor allen anderen tot gewusst hätte. Schließlich handelte es sich bei den anderen beiden um Ulrichs Chef sowie um seinen Arzt. Was hätte er denn für einen Grund gehabt, die beiden umzubringen, geschweige denn zu Tode zu quälen? Immerhin verdiente er bei Krause sein Geld – was sich dank dieser Mistziege erledigt haben dürfte. Und Dr. Müller brauchte er doch, um sich seine Medikamente verschreiben zu lassen, falls sein Therapeut die psychosomatische Ursache seiner Magenprobleme nicht finden würde. Aber auch das war beides erst mal hinfällig. Die Tabletten hatte er nämlich zu Hause liegen lassen. Weitere Termine bei diesem Karl Bäcker waren vorübergehend passé; da konnte er auch gleich der Polizei in die Arme laufen. So hatte ihr armer Sohn keine andere Möglichkeit, als sich irgendwo zu verstecken und abzuwarten, bis seine Unschuld erwiesen war.
Inge Müller kamen erneut die Tränen bei der Vorstellung, wo Ulrich sich rumtreiben mochte. Bilder drängten sich auf, wie er völlig durchnässt unter verschimmelten Treppen saß. Nachts in feuchtkalten Abbruchhäusern schlief. In Mülltonnen nach etwas Essbarem kramte und verdrecktes Regenwasser trank. Doch all das schien weder Polizei noch Presse zu interessieren. Im Gegenteil wurde während der Nachrichten im Radio heute sogar noch eins draufgesetzt: Angeblich hatte Ulrich einen dieser Rockertypen getötet. Das war völlig abwegig, weil er sich solchen Subjekten niemals auch nur auf fünf Meter genähert hätte. Es wurden offenbar alle Register gezogen, um sein Ansehen in der Öffentlichkeit zu zerstören. Wie das am Ende wieder geradegebogen würde, da war Inge sehr gespannt. Vermutlich würde er einen ganzen Batzen Geld als Schmerzensgeld für diese feige Verleumdung einklagen können. Doch dazu musste diese ganze Sache erst einmal ausgestanden sein. Auch für Inge.
Es war ein unbeschreiblicher Hass, der von ihr Besitz ergriffen hatte. Und sie ohrfeigte sich innerlich, dass sie ihren Sohn am Sonntag im Zorn hatte gehen lassen. Schließlich war das, was er ihr vorgehalten hatte, nicht wirklich von ihm gekommen. Es waren Gedankengänge gewesen, die eindeutig die Folge einer niederträchtigen Gehirnwäsche waren. Und wer diese Manipulation vorgenommen hatte, stand ja völlig außer Frage. Das Flittchen, das alles verursacht hatte, war ja sogar per Interview in den Medien aufgetreten, hatte alles abgestritten und sich als Unschuldslamm gegeben. Dabei hatte die Hure einen Fehler gemacht, der jedoch bei den polizeilichen Ermittlungen keine Beachtung gefunden hatte: Von Ulrich wusste Inge ja schon, dass er von ihr bezirzt worden war. Es hätte also gar keinen vernünftigen Grund für ihn gegeben, sie zu entführen. Und das warf ein ganz anderes Bild auf die Vorgänge in der Lagerhalle: In Wirklichkeit war sie es gewesen, die den Arzt und den alten Krause entführt hatte, um irgendetwas aus ihnen herauszupressen. Ulrich war ihr derart verfallen gewesen, dass er sich nicht dagegen zur Wehr zu setzen getraut hatte, aus Angst, verlassen zu werden. Auf der anderen Seite hatte er möglicherweise aber an ebensolchen Höllenqualen zu leiden gehabt wie seine Mutter und verzweifelt versucht, von ihr loszukommen, woraufhin diese Trine ihm gedroht hatte, die Geiseln umzubringen – was dann auch passiert war. Und nun drehte sie die Sache einfach um. Sprach in den Medien offen darüber. Zeigte unverblümt ihr Gesicht, während sie schamlos in die Kamera und Mikrofone log, und trat dabei sogar unter ihrem Namen vor die Menge. Als würde sie ein Buch voller Unwahrheiten bewerben:
Helga Schmidt präsentiert: Wie ich Ulrich Krämers Fängen entkam.
Mal wieder ein langweiliger Name, der den Anschein erweckte, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Und da lag das Problem für Inge Krämer: Sie hätte dieser Mistfliege zu gern die Leviten gelesen, die Dinge geradegerückt, sie öffentlich an den Pranger gestellt … oder wesentlich Schlimmeres. Doch obwohl sie ihr Gesicht und ihren Namen kannte, war sie so gut wie machtlos. Das Gesicht würde sie vielleicht auf der Straße erkennen, wenn die Frau ihr zufällig über den Weg liefe. Doch anhand des Namens die Adresse herauszufinden, war ein Unterfangen, das an die berühmte Nadel im Heuhaufen denken ließ. Unter dem Namen Helga Schmidt gab es unzählige Einträge. Die Richtige zu finden, würde eine wahre Sisyphosarbeit bedeuten. Und selbst im Falle eines Treffers war die Gefahr sehr groß, dass die falsche Schlange unter Polizeischutz stand und ihr Wohnsitz versteckt observiert wurde. Es war davon auszugehen, dass die Polizei Ulrich für so dumm hielt, sie zu Hause aufzusuchen.
Irgendetwas musste aber geschehen. Und für die Wendung der Angelegenheit fühlte Inge sich mitverantwortlich. Zum einen musste Ulrichs Unschuld bewiesen werden. Er musste zurückkommen. Zurück zu seiner Mutter, wo er hingehörte. Zurück in ihr Bett, aus dem sie ihn nie wieder herauslassen würde. Und zum anderen galt es, diese Dreckschlampe Helga Schmidt ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Und wenn Inge sie in die Finger bekam, dann würde sie sich wünschen, dass die Polizei sie vorher entlarvt hätte. Der Hass, den Inge auf diese Frau entwickelt hatte, war von einer Stärke, die ihr selbst schon fast unheimlich erschien. Doch dieser Hass rührte nicht von den Dämonen her, die sich in ihrem Innern festgesetzt hatten. Es war der Zorn Gottes, zu dessen Werkzeug sie auserkoren war, das spürte sie nur allzu deutlich. Und einsam waren die Rechtschaffenen.
Es war zunächst an der Zeit für eine Reinigung auf der ganzen Linie. Alten Plunder beseitigen, die Wohnung reinigen – und sich selbst. Das waren die besten symbolischen Handlungen, um den seelischen Eindringlingen endlich den Ausgang zu zeigen. Anschließend konnte sie mit neuer Kraft ans Werk gehen.
Inge Krämer begab sich entschlossen ins Badezimmer zurück, um dieses verruchte Objekt in der Wanne nun ein für alle Mal zu entsorgen. Sie bückte sich, nahm es an sich und drehte es in der Hand hin und her. Letztlich griff sie zum Duschkopf, drehte das Wasser auf und spülte es gründlich ab. Sie nahm ein neues Handtuch aus dem Regal im Bad und ging zurück ins Wohnzimmer, wo sie mit Tränen in den Augen die Tube Gleitgel betrachtete, die auf dem Tisch lag. Dann breitete sie das Tuch auf dem Sessel aus und stellte sich resignierend die quälende Frage, ob ihre Qualen jemals enden würden.