Kapitel 16
Der Schock, der aus der Erkenntnis über Maria Schmidts Identität resultierte, hatte in Ulrichs Kopf ein unüberschaubares Chaos erzeugt. Irgendwie waren die Dinge aus den Fugen geraten. Dass Helga sich bei ihrer Mutter aufhielt, obwohl die beiden sich ihren Angaben zufolge doch spinnefeind waren, hatte eine Unbekannte in seiner Gleichung offenbart. Mit Sicherheit hatte Helga bereits die Polizei verständigt, weswegen Ulrich sich nicht in aller Ruhe eine andere Wohnung aussuchen konnte. Zu groß war die Gefahr, dass verstärkt Streifenwagen im Einsatz waren, die ihn gezielt suchten, denn Helga hatte ihn möglicherweise trotz seines Stilwechsels erkannt. Deshalb hatte er es für ratsam angesehen, sich so schnell und weit wie möglich vom Ort des Geschehens zu entfernen. So war er schließlich mitten im Zentrum an dem ihm nur zu bekannten Hochhaus angekommen, in dem sich die Büros der Firma Krause befanden. Offenbar wurde internationaler Besuch erwartet, denn das Gebäude war auf halber Höhe ringsum zwischen den Fenstern mit Flaggen verschiedener Länder geschmückt. Die hingen, vom Regen durchtränkt, erbärmlich schlapp nach unten und trieften vor Nässe, anstatt an den vorstehenden Fahnenstangen imposant im Wind zu flattern.
Ulrich hatte keine Zeit, lange zu überlegen. Er musste von der Hauptstraße runter und hatte den gesamten Schlüsselsatz dieses Bauwerks. Also wählte er einen Nebeneingang und verschwand, hoffentlich unbemerkt, im dunklen Parterreflur, wo er zunächst an einer Wand regungslos verharrte. Kein Laut war zu hören, woraus er schloss, dass sich kein Wachmann in der Nähe befand.
Ulrich kannte die Gegebenheiten des Hauses wie kein anderer. Das Gebäude war seinerzeit von Krause selbst errichtet worden. Es hatte zwölf Stockwerke, von denen das fünfte die Büros der Firma des Eigentümers beherbergte, wo sich sein eigener Arbeitsplatz befand. Die anderen Etagen waren an andere Firmen vermietet worden. Arbeitsbeginn war im gesamten Haus um acht Uhr. Bis dahin war es verschlossen und wurde erst eine halbe Stunde vorher durch die Nachtwächter geöffnet. Ulrich schaltete seine Maglite ein und richtete sie auf die Wand, wo eine Uhr kurz vor vier anzeigte. Es waren also noch über vier Stunden, bis sich das Gebäude füllen würde.
Ulrich grübelte. Die Voraussetzungen waren im Prinzip wie geschaffen, um sein spektakuläres Vorhaben heute schon durchzuziehen. Ohnehin musste er innerlichen Druck abbauen. Aber er musste taktisch vorgehen, wenn er nicht wollte, dass das Haus bereits nach wenigen Schüssen von der Polizei gestürmt wurde.
Recht schnell kam ihm die passende Idee. Immerhin war er aufgrund seines bekannten technischen Verständnisses damals in die Ausarbeitung der Sicherheitseinrichtungen einbezogen worden. Streng genommen hatte er sie sogar selbst entworfen und entwickelt und alles war von externen Fachleuten abgesegnet worden. Wenn ohne sein Wissen keine Änderungen daran vorgenommen worden waren, hatte er die Möglichkeit, ohne Probleme das komplette Gebäude hermetisch zu verriegeln. Niemand würde mehr rein- oder rauskommen. Zudem hatte er die Schlüssel für jede Etage und die darin befindlichen Steuerungsräume, die sich jeweils vor den Büros befanden. Er musste also lediglich warten, bis seine Kollegen zur Arbeit erschienen, konnte dann den ganzen Komplex verriegeln und alle wären ihm hilflos ausgeliefert.
Dass er trotz dieser Maßnahmen per Schlüssel ins Haus gekommen war, war einer besonderen Abmachung geschuldet, die ihm jetzt zugutekam. Nachts war die elektronische Verriegelung, für deren Aufhebung man ein Passwort benötigte, inaktiv. Das hatte den plausiblen Grund, dass bei technischen Problemen die Mitarbeiterschaft von zwölf Firmen der Zugang zu ihren Büros verwehrt worden wäre. So reservierte man die Benutzung dieses Systems für etwaige Katastrophenfälle. Einbrecher konnte man beispielsweise gezielt per Fernsteuerung in den Räumen einsperren, in denen sie sich gerade befanden. Feuer war ebenfalls dadurch leicht einzugrenzen und mit zusätzlichen, luftabsaugenden Einrichtungen schnell zu ersticken. Nachts jedoch verließ man sich auf das ausgebildete Wachpersonal und die überall angebrachten Infrarotkameras. Und es waren standardmäßig gerade mal vier Sicherheitskräfte anwesend, die für je drei Etagen zuständig waren. Diese waren zudem lediglich mit Schlagstöcken und Elektroschockern bewaffnet und daher leicht aus der Ferne zu eliminieren.
Ulrichs Plan sah nunmehr wie folgt aus: Er würde sich an den Kameras, die er bezüglich Position und Aufnahmewinkel genau kannte, vorbeimogeln und den Steuerraum im Parterre aufsuchen, der gleichzeitig als Überwachungsraum für den jeweiligen Nachtwächter diente. Würde dieser sich gerade nicht dort befinden, war er vermutlich gerade in einem anderen Stockwerk unterwegs. Ulrich musste dann also nur auf ihn warten. Im Normalfall war es aber so, dass der jeweils unterste Raum der jeweiligen Zuständigkeit auch als Hauptaufenthaltsraum fungierte. Die Chancen, dass er ihn dort antraf, waren also sehr hoch. Er würde den Wachmann ausschalten und anschließend das übertragene Bild der Kameras auf Videoausgabe umstellen. Dazu musste er nur die gespeicherten Aufnahmen etwas zurückspulen und schon würden die Bildschirme Szenen zeigen, die ein paar Stunden her waren. Auf diese Weise konnte er sich frei im Haus bewegen, ohne gesehen zu werden. Gleichzeitig würde er alle Bewegungsmelder deaktivieren, von denen auf dem Weg zum Steuerraum, der sich direkt um die Ecke befand, glücklicherweise noch keiner in der Nähe war. Was ihm bei alledem sehr in die Hände spielte, war die Tatsache, dass er aus jedem Steuerraum heraus Zugriff auf die Vorrichtungen im gesamten Gebäude hatte. Er musste diese Prozedur also keineswegs in jeder Etage aufs Neue durchziehen, sondern konnte hier unten alles arrangieren und dann die übrigen Wachleute nach unten locken, wo er sie einen nach dem anderen erledigte.
Um halb acht würde er die Türen aufschließen und den Steuerraum im Stockwerk der Firma Krause als Versteck nutzen. Dort konnte er in aller Seelenruhe warten, bis sich die Büros gefüllt hatten, um dann das Gebäude unwiderruflich elektronisch abzusperren, wobei er das Passwort zur Entriegelung schlichtweg ändern würde. Selbst die Polizei hatte dann keine Möglichkeit, in das Gebäude zu gelangen. Die Fenster- und Türscheiben waren überdies allesamt aus Panzerglas, was ebenfalls ein Eindringen unmöglich machte. Es bedurfte seiner Meinung nach schon einer gewaltigen Sprengung, um sich Zugang zum Inneren zu verschaffen. Ulrich musste sich also keinerlei Sorgen machen, bei seinem Auftritt gestört zu werden. Wenn er in seinem eigenen Stockwerk fertig war, konnte er sich nach und nach die anderen Etagen vornehmen. Schließlich waren die zu schlachtenden Schweine alle in ihren gläsernen Käfigen eingesperrt und hatten keine andere Wahl, als dort auf ihren Metzger zu warten.
Nun blieb nur die Frage offen, wie er aus dem Gebäude wieder herauskommen sollte. Mit Sicherheit würde jemand die Polizei verständigen, die im Nu das Haus umstellt hätte.
Was diesen Punkt anging, kam er augenblicklich auf die Lösung. Es würde keine Polizei auftauchen, wenn es keine Möglichkeit gab, sie zu rufen. Um das zu bewerkstelligen, musste Ulrich nur sofort nach dem Aktivieren der elektronischen Schlösser den Strom abstellen. Dann waren Telefone und Computer tot. Da Fenster und Türen verschlossen sein würden, konnte niemand sie öffnen und aus ihnen heraus um Hilfe schreien. Und was Mobiltelefone anbelangte, so war Ulrich versiert genug, im Handumdrehen aus den Gerätschaften in einem der Kontrollräume einen netzunabhängigen Störsender zusammenzubasteln. So würde keine Information rein- oder rausgelangen. Was in diesem Hause in den nächsten Stunden passierte, blieb innerhalb dieser vier Wände, sodass er den ganzen Tag hier verbringen und am Abend in aller Seelenruhe wieder auf die Pirsch gehen konnte. Es gab auch Kantinen im Haus, sodass für sein Leibeswohl gesorgt war. Und ein Platz zum Schlafen würde sich ebenfalls finden.
Ulrich schlich sich vorsichtig durch die ihm bekannten toten Winkel der Kameras und gelangte Sekunden später bereits an die Tür des Steuerraums. Um den Wachmann zu täuschen, schaltete er seine Maglite ein. Wenn er den Lichtkegel direkt auf ihn richtete, würde er zunächst nicht erkennen, wer den Raum betrat und davon ausgehen, dass einer seiner Kollegen hereinkam. Gleichzeitig machte er die Pumpgun startklar.
Als er gerade die Tür öffnen wollte, hörte er gedämpft Stimmen, die aus dem Raum zu ihm hervordrangen. Eine davon kam jedoch über Funk. Der Wachmann war also tatsächlich an seinem Platz und unterhielt sich mit einem anderen Nachtwächter, der sich in einem der anderen Stockwerke befand.
»Ich habe da grad ’ne Unregelmäßigkeit auf dem Schirm«, sagte die verzerrte Funkstimme. »Mir wird angezeigt, dass im Parterre ein Nebeneingang auf- und wieder abgeschlossen wurde. Warst du das?«
»Nein, aber ich sehe es gerade. Tippe zwar auf einen Systemfehler, aber werde trotzdem mal nachsehen. Muss sowieso gleich wieder meine Runde drehen.«
»Okay, Heiner, sei aber vorsichtig. Das war ausgerechnet dieser tote Winkel, der von der Überwachung ausgeschlossen ist. Die Kameras sollten unbedingt mal neu ausgerichtet werden. Sag mir Bescheid, wenn du was Auffälliges entdeckst.«
»Klar, Werner. Mach ich. Bis später.«
Augenblicklich löschte Ulrich das Licht der Taschenlampe. Der Mann würde jeden Moment zur Tür herauskommen. Er musste also umdenken. Und es war wichtig, dass alles sehr schnell passierte. Die Kamera schwenkte gerade zur anderen Seite des Flurs. Ulrich nutzte den Moment, sprang zur gegenüberliegenden Wand, sodass er die Tür genau vor sich hatte. Sie öffnete sich und die Silhouette eines muskulösen Mannes war in dem Lichtschein, der aus dem Raum drang, zu erkennen.
Ulrich schoss augenblicklich. Ein lauter Knall entfuhr dem Gewehr und der Wachmann wurde mit einem kurzen, jedoch jäh unterbrochenen Aufschrei zurück in den Raum katapultiert. Als er auf dem Fußboden aufprallte, erklang ein nasses Geräusch, als hätte jemand eine Tasse Kaffee ausgeschüttet. Ulrich konnte sich denken, was es war, und bevor die Kamera sich wieder in seine Richtung gedreht hatte, war er schon durch die Tür gestürmt und hatte sie hinter sich verschlossen.
Der Kopf des Mannes war schlichtweg nicht mehr vorhanden. Was Ulrich gehört hatte, waren die blutigen Fetzen des Schädelinneren gewesen, die sich über den Estrich verteilt hatten. Als er über die Leiche hinwegstieg, hörte er ein rauschendes Piepen, das aus dem Funkgerät des Toten kam.
»Hast du da eben geschossen, Heiner?«, folgte die verzerrte Stimme von vorhin.
Ulrich war etwas perplex. Wieso hatte der Mann den Schuss gehört? Die Stockwerke waren schalldicht und das Funkgerät war doch außer Gebrauch gewesen, als der Nachtwächter den Raum verlassen hatte. Zumindest hatte er es nicht in der Hand gehabt. Um etwas zu übermitteln, musste man jedoch eine Taste gedrückt halten. Doch da fiel sein Blick auf die Apparaturen und sofort fiel ihm ein, was er übersehen hatte: Die Männer hatten zusätzlich an ihrem Pult eine fest installierte Funkstation, die als Gegensprechanlage eingerichtet war und daher auf Dauersendung stand. Über das Tischmikrofon war der Schuss daher zu hören gewesen.
Doch da war noch etwas anderes, was Ulrich sehr beunruhigte: Es war die Frage des anderen, ob Heiner geschossen hätte. Womit hätte er schießen sollen, wo das Personal doch nur spärlich bewaffnet war?
Mit Entsetzen fiel sein Blick auf den Toten. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Mann eine andere Uniform trug. Und am Gürtel befand sich ein Holster, das eine automatische Pistole beinhaltete. Und nun kamen ihm die vielen Fahnen in den Sinn, mit dem die Stadt geschmückt war – für diesen Staatsbesuch waren offenbar überall die Sicherheitsmaßnahmen verschärft worden, weswegen in diesem Haus temporär auf besser ausgerüstete Security zurückgegriffen worden war. Das waren keine Pfeifen in Uniform, sondern ausgebildete Profis, möglicherweise Scharfschützen, gegen deren Treffsicherheit Ulrichs Schießkünste wahrhaft verblassten. Er musste schnell einen neuen Plan entwickeln. So schnell wie erhofft, ging das Ausschalten der Wachmänner wohl doch nicht über die Bühne.
»Heiner, sag was!«, setzte die Stimme nach. »Der Knall hörte sich anders an als deine Glock. Was ist los bei dir da unten?«
Ulrich musste irgendwie in Heiners Namen antworten. Aber es war unklug, das über Funk zu tun. Man hätte die fremde Stimme sofort erkannt. Er probierte es daher über den internen Chat, den die Männer offenbar auch benutzt hatten. Zumindest war bei Heiner auf dem Bildschirm ein Fenster geöffnet.
»Mit dem Funk ist was faul«, tippte Ulrich ein. »Kann dich zwar hören, aber nicht antworten. Ist alles okay, keiner hier. Aber kannst du kurz kommen und dir das Funkgerät ansehen?«
Es entstand eine unheilvolle Pause von fast einer Minute. Ulrich wurde argwöhnisch.
»Ich komme«, erschien schließlich die Antwort.
Es war wohl unnötig, die Kameras auf Videoabspielbetrieb umzuschalten, wie er es ursprünglich geplant hatte. Und Sekunden später war er auch schon froh, dass die Bildschirme die Realität zeigten. Denn die anderen Wachmänner hatten offenbar Verdacht geschöpft. Drei der Monitore zeigten rennende Personen in den Korridoren, die sich geradewegs zum Fahrstuhl bewegten. Ulrich schloss daraus, dass trotz des ausgetauschten und besser ausgerüsteten Personals nur vier Wächter im Haus waren. Und diese übrigen drei hegten ganz offensichtlich keinen Verdacht, dass er sie an den Kontrollen bespitzelte. Genau das war seine Chance.
Er hatte eine geschätzte Minute Zeit. Die Sicherheitsleute stiegen vermutlich von oben nach unten nacheinander in den Lift. Unten angekommen, würden sie zusammen mit gezückten Waffen herausstürmen und die Gegend sichern. Sie hatten wahrscheinlich keine Skrupel, sofort zu schießen. Ulrich packte die Leiche und zog sie zum Pult. Er setzte den kopflosen Erschossenen auf den Stuhl zurück und ließ ihn so weit nach unten rutschen, dass man von hinten nur die Arme und Beine sah. In dieser Position konnte man nicht sofort erkennen, dass der Kopf fehlte, weil die Rückenlehne das Wichtigste verdeckte. Er knipste das Licht aus, griff zu seiner Tasche und stürmte aus dem Zimmer, wobei er die Tür offen ließ. Gleich neben dem Steuerraum war eine Gangabzweigung und Ulrich stellte sich hinter die Wand, wartete in der Ecke auf das Erscheinen der Männer. In der Hand hielt er bereits das, was er gleich brauchen würde.
Er hörte, wie der Fahrstuhl weiter hinten das entsprechende Signal gab. Er war unten angekommen und sofort erklang das Getrappel von schwerem Stiefelwerk.
»Sauber!«, rief jemand.
Ulrich wusste, dass einer dieser Kerle auf den Namen Werner hörte. Leise rief er den Namen in den Gang.
»Das kam vorn aus dem Kontrollraum«, reagierte einer von ihnen. »Scheint wohl doch alles okay zu sein.«
Die Schritte normalisierten und näherten sich.
»Ich bin trotzdem skeptisch, dass Heiner das getippt hat«, ertönte eine andere Stimme. »Der schreibt unüberlegter und macht mehr Fehler.«
»Warum sitzt der denn im Dunkeln?«, fragte der Nächste, während die Schrittgeräusche sich nacheinander in den Steuerraum bewegten.
Ulrich stürmte nach vorn und um die Ecke, riss die Ringe von den beiden Handgranaten und warf die Sprengkörper in den Raum. Die drei Wachleute waren nicht einmal dazu gekommen, das Licht einzuschalten. Sofort riss Ulrich die Tür hinter sich zu und überantwortete die Männer einem Schicksal, das sich für ihn selbst nur als einen aus zwei lauten Donnerschlägen bestehenden Rumms darstellte, der das Stockwerk erbeben ließ. Kurz zog der Nachhall durch den Gang, dann kehrte eine gespenstische Stille ein.
Ulrich wartete ab, doch es blieb ruhig. Die schwere Tür hatte den Detonationen tatsächlich standgehalten, ebenso die Wände. Dass er keinen Alarm durch den Rauchmelder hörte, war ein Zeichen dafür, dass er zerstört worden war, und das beruhigte ihn. Trotzdem wollte er etwas Zeit verstreichen lassen, bevor er den Raum betrat, um zu vermeiden, dass der austretende Rauch womöglich die anderen Brandmelder im Gang auslöste. Und er hoffte nur, dass der laute Knall nicht draußen zu irgendwelchen unerwünschten Reaktionen führte. Die Wände des Hauses galten zwar als weitgehend schalldicht, aber das bezog sich auf eher konventionelle Geräusche. Der ungeheure Lärmpegel explodierender Granaten waren hingegen ein anderes Kaliber.
Vorsichtshalber begab er sich abermals zu der Tür, durch die er gekommen war, und schaute durch die Scheibe. Nichts. Kein Mensch zu sehen, weder auf der Straße noch an den Fenstern anderer Gebäude. Autos fuhren vorbei, keine neugierigen Blicke. Es sah ganz danach aus, als war das Glück auf seiner Seite. Und er fühlte ein gewisses Triumphgefühl in sich aufsteigen. Bis zuletzt hatte das Universum ihm immer wieder Fallstricke gelegt, doch er hatte in allen Belangen Stärke gezeigt und seine Macht demonstriert. Schien so, als würde sein Vorhaben trotz aller Widrigkeiten gelingen. Und noch etwas wurde ihm gerade bewusst: Er hatte längere Zeit keinen Brechreiz verspürt. Zuletzt nach dem üppigen Mahl in der Wohnung der alten Frau, und das hatte sich im grünen Bereich bewegt. Darüber hinaus war er durch die Einnahmen des Waffenhändlers zu einer Stange Geld gekommen und hatte zudem die Kasse der Firma Krause vor sich, die er in jedem Fall plündern würde. Geld und Gesundheit waren ihm wie durch Geisterhand zugespielt worden. Nun, da er keine Gnade mehr kannte, schlotterten dem mächtigen Schuldner wohl endlich die Knie. Er lieferte. Und nun war Ulrich sich sicher, dass er Helga bekommen würde. Als Herr der neuen Welt würde er sich den Thron mit seiner Königin teilen.
Ulrich wagte den Versuch und öffnete die Tür zum Kontrollraum einen Spaltbreit. Sie war etwas verzogen, weshalb er auf leichten Widerstand stieß, aber sie ließ sich mit etwas Kraft problemlos öffnen. Es kam zwar ein wenig Rauch durch die Öffnung, aber in keiner solchen Intensität, auf die die Brandmelder anschlugen. Nicht einmal Hustenreiz verspürte er und der leichte Nebel im Raum ließ dennoch eine gute Sicht auf die angerichtete Bescherung zu. Er verzichtete auf die Betätigung des Lichtschalters, weil die Lampen zerstört waren. Stattdessen knipste er seine Maglite an.
Das Chaos war unbeschreiblich. Die Steuerungseinheiten und Kontrollen waren restlos zerstört. Zum Glück hatte das Ganze keinen totalen Stromausfall nach sich gezogen. Die Apparaturen für die Sicherheitseinrichtungen liefen unabhängig voneinander, sodass Ulrich später das Gebäude aus einem anderen Raum aus verriegeln konnte. Dieser Raum war unrettbar vernichtet – inklusive der vier Unglücklichen, die sich darin aufgehalten hatten. Das Durcheinander aus technischen Trümmern und blutigen Körperteilen machte fast den Eindruck, als wären mehrere Cyborgs geschreddert worden. Hier lugte eine Hand aus einem rotverschmierten Bildschirmgehäuse, dort ging Kabelsalat fast nahtlos in einen Darmtrakt über, woanders fanden sich blutgetränkte Bruchstücke von Platinen oder ein Mischmasch aus Plastikfetzen und Gehirnmasse. Was vom Fußboden sichtbar war, war von einem ekligen Zusammenspiel aus Blut und geschmolzenem Kunststoff überzogen. Ulrich vermied es, weiter in das Zimmer vorzudringen, um draußen auf dem Flur keine verräterischen blutigen Fußspuren zu hinterlassen. Und mit dem, was er sah, war er durchaus zufrieden.
Nun ging es jedoch zunächst weiter im Plan. Er würde sich in den Kontrollraum auf der Krause-Etage zurückziehen. Um halb acht mussten die Türen geöffnet werden. Wenn alle Mitarbeiter anwesend waren, würde er wie geplant das Gebäude abriegeln. Ein Blick auf die Uhr im Gang verriet ihm, dass die Sache mit den Wachmännern keine fünfzehn Minuten gedauert hatte. Es war nicht mal Viertel nach vier. Über drei Stunden hatte er Zeit, um das Passwort für die Steuerung zu ändern und einen Störsender zu basteln. Bei diesem musste er nur darauf achten, dass dessen Reichweite sich in den Grenzen des Gebäudes bewegte, damit von draußen niemand Empfangsschwierigkeiten melden konnte. Denn dann würden die zuständigen Techniker mit ihren Messwagen der Quelle sehr schnell auf die Schliche kommen, was wiederum die Polizei auf den Plan rufen würde. Aber das würde er schon hinbekommen. Er war aufgrund seiner technischen Finesse sehr zuversichtlich, es so schnell zu schaffen, dass er sich noch in der Kantine satt essen konnte. Von nun an konnte alles nur noch glattgehen. Glaubte er.