Kapitel 18
Um acht Uhr morgens wurde Ulrich etwas nervös. Er war seinem Plan bisher minutiös gefolgt, hatte eine lokale Funkanlage zu einem effektiven Störsender umgebaut und sie geschickt mit der Akkueinheit eines Strommessgerätes verbunden, sodass das Ding unabhängig vom Stromnetz über Stunden hinweg funktionieren konnte. Das Passwort für die Steuerungen war geändert worden und das Ausräumen der Kasse hatte sich ebenfalls gelohnt. Mit dem erbeuteten Geld des Waffenhändlers hatte er insgesamt fast 20.000 Euro beisammen. Er hatte die Kantine geplündert, dort ordentlich gefrühstückt und sogar ein Nickerchen gemacht, dann pünktlich um kurz vor halb acht die Türen für die Mitarbeiter der verschiedenen Büros im Haus geöffnet. Danach hatte er sich in den Kontrollraum im fünften Stock zurückgezogen, wo die Firma Krause ihren Sitz hatte. Bis dahin schien sich alles über die Maßen zum Guten zu entwickeln: Das erwartete Erbrechen war diesmal völlig ausgeblieben, was neben dem Erhalt von viel Geld eine weitere längst überfällige Lieferung darstellte.
Doch ein anderes Problem tat sich auf: Während er über die eingeschalteten Überwachungskameras beobachten konnte, wie sich die elf vermieteten Büros der anderen Etagen allmählich füllten, war bei Krause noch kein einziger Mitarbeiter zur Arbeit erschienen. Irgendetwas war im Gange, wovon Ulrich nichts wusste. Und er hatte nur die Möglichkeit, sein Versteck vorübergehend zu verlassen, um nach Hinweisen für das Ausbleiben der Belegschaft zu suchen.
Er wurde fündig, als er im Korridor am Schwarzen Brett vorbeikam und die Notizen und Neuigkeiten las. Dort hing eine zweiseitige Mitteilung in großer Schrift. Auf der linken Seite war die kopierte Todesanzeige des Chefs abgebildet. Rechts daneben die Information:
»Wir bedauern das tragische Ableben unseres geschätzten Betriebsinhabers, Herrn Ernst Krause, zutiefst. Wir alle sind fassungslos über die Ereignisse, mit denen wir so unvorbereitet konfrontiert wurden. Wie Sie links dem Zeitungsausschnitt entnehmen können, wird die Beisetzung am Donnerstag um acht Uhr stattfinden. Wir haben uns, Herrn Krause zu Ehren, dazu entschlossen, die Teilnahme zu einer verpflichtenden Betriebsangelegenheit zu erklären, zu der Sie bereits im Vorfeld alle Ihr Einverständnis abgegeben haben. Da zu diesem Anlass sehr viele Gäste erwartet werden, wird die Beerdigung vermutlich länger dauern als üblich. Die hierzu benötigte Zeit wird Ihnen selbstverständlich als Arbeitszeit angerechnet. Bitte kommen Sie daher nicht erst ins Büro. Wir versammeln uns direkt um halb acht vor der Friedhofskapelle. Wir gehen davon aus, ab zehn Uhr am Vormittag wieder unsere Arbeitsplätze aufsuchen zu können und danken Ihnen für Ihre Teilnahme. Die Geschäftsleitung.«
Entsetzt starrte Ulrich auf den Aushang und war fassungslos. Von allen Tagen hatte er ausgerechnet diesen erwischt. Das warf ein paar Probleme auf. Zunächst mal konnte er weder die Türen versperren noch den Störsender aktivieren. Beides lief gewissermaßen Hand in Hand und setzte voraus, dass erst alle Mitarbeiter im Haus waren. Es ergab keinen Sinn, die Türen zu verrammeln und sich schon mal die anderen elf Stockwerke vorzunehmen. Das würde er in zwei Stunden niemals schaffen, zumal er dann einmal mehr die Türen öffnen und wieder schließen musste. Nicht nur, dass während dieser Zeit ungebetene Gäste mit neugierigen Augen hereinkommen könnten. Er war ja zudem völlig unsicher, wann seine ehemaligen Kollegen aufkreuzen würden. Daher sah er keine andere Möglichkeit, als die Zeit weiter abzusitzen.
Als er gerade wieder zurück in den Steuerraum gehen wollte, fiel sein Blick auf den Eingang zu seinem eigenen Büro. Der Strom war eingeschaltet, die Telefone aktiv. Niemand würde Verdacht schöpfen. Ob er es wagen sollte?
Er fasste sich ein Herz, trat ein und nahm das Telefon von der Station, wählte eine Nummer. Es tutete zweimal.
»Krämer«, meldete sich eine vertraute, aber merkwürdig gehetzte Stimme.
»Mutter. Ich bin es«, antwortete Ulrich leise.
»Was? Das ist doch … Wo steckst du?«
»Ich erzähl dir alles später, Mutter. Ich wollte mich nur kurz melden. Es ist alles gut. Wie geht es dir?«
»Junge, weißt du eigentlich, wie sehr ich mich hier um dich sorge? Und ich brauche dich. Wir brauchen einander.«
»Hör zu, alles entwickelt sich weitestgehend nach Plan. Ich werde dich zu gegebener Zeit abholen. Du verstehst das vermutlich alles nicht. Aber bitte mach dir keine Sorgen!«
»Das sagst du so einfach. Was weiß ich denn schon über deinen sogenannten Plan? Aber was da auch läuft, mein Sohn: Du kannst dir sicher sein, dass ich hinter dir stehe. Deshalb möchte ich, dass du mir sagst, wo du bist. Ich werde dir sogar helfen. Oh, diese Gottlosigkeit, diese Dämonen … Wenn du wüsstest, was ich durchmache. Bitte hol mich runter von diesem Kreuz!«
»Mutter, was redest du denn da? Bleib ruhig, niemand tut dir was. Ich muss erst ein paar Dinge erledigen. Danach melde ich mich. Davor ist es zu gefährlich.«
»Ulrich, dein Verschwinden hat Kräfte auf den Plan gerufen, die mir zu mächtig werden. Und damit meine ich nicht die Idioten von der Polizei. Ich werde angegriffen, verführt, zu Dingen verleitet. Als hätten sich Himmel und Hölle gegen mich verschworen, als wäre das ganze Universum mir feindlich gesinnt. Und dann musste ich diese blöde Hure …«
»Schluss jetzt, Mutter. Keine Ahnung, was da genau bei dir passiert. Ich bin so schnell wie möglich da. Aber du musst dich noch etwas gedulden. Bitte bleib zu Hause und tu nichts. Absolut nichts!«
»Aber …«
Ulrich legte auf. Das Gespräch war sinnlos. Seine Mutter war völlig durcheinander. Tatsächlich musste er ihr irgendwie helfen. Aber er durfte keinen Fehler begehen, indem er Hals über Kopf nach Hause stürmte. Auch wenn er Zeit hatte, bis zur Rückkehr der Belegschaft, konnte er sich nicht am helllichten Tage einfach so durch die Stadt bewegen. Hingegen war die Wortwahl, die Mutter benutzt hatte, sehr verdächtig. Sie sprach von religiösen und spirituellen Dingen: Dämonen, Himmel, Hölle und Universum. Das machte ihn etwas stutzig. Dass er selbst nach seiner Kriegserklärung zu Geld gekommen war und seine Magengeschichte in den Griff bekommen hatte, zeigte ihm einerseits, dass sein Gegner endlich einknickte. Andererseits schien dieser als letzten Notnagel zu versuchen, eine ihm nahestehende Person als Druckmittel zu benutzen. Doch dieser Versuch würde ihm misslingen. Die Schlacht, die Ulrich nunmehr vor sich hatte, würde ihm ein für alle Mal zeigen, wer am längeren Hebel saß. Das sollte ihn ferner davon abhalten, auf Helga loszugehen.
Für den Moment schien es ratsam, sich anderweitig Hilfe zu holen. Die Dinge funktionierten zwar schleppend, doch vermutlich konnten sie beschleunigt werden. Ulrich war erst seit Kurzem vertraut mit diesen universellen Beziehungen. Und es gab jemanden, der es darin gewissermaßen zur Meisterschaft gebracht hatte, der sogar ursächlich dafür verantwortlich war, dass Ulrich sich überhaupt damit befasste. Und den brauchte er jetzt und hier!