Kapitel 19
Karl Bäcker blätterte durch seinen Terminkalender. Obwohl das im Grunde genommen sinnlos war, denn es befand sich bekanntermaßen für die nächsten Tage kein einziger Eintrag darin. Seit dieser bescheuerte Ulrich ausgetickt und auf der Flucht war, kam kein Geld mehr herein. Ausgerechnet dieser Klient, den er die letzten Wochen über ausgenommen hatte wie eine Weihnachtsgans, war ausgefallen. Und es gab momentan kaum Leute, die auf seinen pseudoesoterischen Schwachsinn anschlugen und sich deshalb an ihn wandten. Und derjenige, der ihm brav seine Patienten zugeschanzt hatte, war tot. Die Zukunft sah daher nicht gerade rosig aus. Auch die Ersparnisse neigten sich dem Ende zu. Karls letzte Hoffnung bestand in dem Einstreichen der Belohnung für den Flüchtigen. Er hatte diesem Kommissar schon einige Hinweise gegeben, aber bis jetzt konnte die Polizei noch keinen Zugriff verbuchen.
Dass er Ulrich die Sache mit diesem kosmischen Bestellwesen
verklickert hatte, war ein Fehler gewesen. Als dieser Knallcharge bei ihm vorsprach, wusste er sofort, was er da für einen Deppen vor sich hatte. Und letztendlich war es ja doch nur eine Wette zwischen Karl und diesem Dr. Müller gewesen. Müller hatte ihn vorgewarnt, dass der Kerl ausgesprochen dumm war. Und Karl kam gleich auf diese einfache Tour mit den universellen Bestellungen,
was Müller natürlich als kompletten Unsinn abtat. Da war es zu dieser Wette gekommen. Wenn Karl es schaffte, ihn zu diesem Quatsch zu bewegen, würde er ihm 1.000 Euro zahlen. Umgekehrt wäre Karl in der Pflicht gewesen, hätte Ulrich sich nicht
darauf eingelassen. Karl hatte die Wette gewonnen, aber Müller war tot und das Geld konnte er wohl abschreiben. Ebenso wie das Honorar für weitere Sitzungen. Damit waren seine bisher verlässlichen Geldquellen versiegt. Nun wurde es finanziell brenzlig.
Karl klappte den Terminkalender zu und warf ihn auf den Schreibtisch. In diesem Moment klingelte das Telefon. Tat sich endlich etwas? Ein neuer Klient? Karl ging ran und meldete sich.
»Hi, Karl. Hier ist Ulrich.«
»Was? Wo steckst du, Mann? Die halbe Stadt ist hinter dir her.«
»Ja, aber das ist momentan unwichtig. Hör mal zu, Karl, ich
brauche dich. Wie schnell kannst du dich freimachen?«
»Was heißt das, du brauchst mich? Wofür? Was soll ich machen, Mann?«
»Es geht um diese Sache mit den Bestellungen. Es funktioniert tatsächlich, allerdings etwas verzögert. Und ich bin momentan in einer Situation, die etwas Eile erfordert. Deswegen brauche ich einen Profi dazu.«
»Oh … ja, das ist einzusehen, Mann«, improvisierte Karl etwas überrascht. »Aber das kostet eine Kleinigkeit. Ich muss dafür einen Haufen Termine absagen.«
»Da mach dir keine Gedanken. Ich habe genug Geld. Deine Methode hat gewirkt. Auch die Kotzerei ist weg.«
»Aha«, wunderte sich Karl, »das … na ja … das freut mich, Mann.«
»Warum klingst du so erstaunt? Das war doch Zweck der Sache.«
»Ja, Mann«, fasste Karl sich wieder. »Okay, wo steckst du denn genau?«
»Ich hoffe, ich kann dir weiterhin vertrauen?«
»Ulrich, das weißt du doch, Mann.«
»Gut. Ich bin im Krause-Gebäude. Fünfter Stock. Sieh zu, dass du so schnell wie möglich hier sein kannst. Auf jeden Fall vor zehn, hörst du? Das ist wirklich wichtig.«
»Alles klar. Ich werde da sein.«
Karl stellte das Telefon zurück in die Station. Die Dinge entwickelten sich auf eigenwillige Weise. Ja, er würde dort auftauchen. Und er würde weiter den Kopf dieses Spinners bearbeiten. Möglicherweise war das alles nicht ganz ungefährlich, immerhin hatte er eine Menge Leute umgebracht. Aber jetzt gab er vor, Karl zu brauchen. Das bedeutete, Ulrich hatte sich mit diesem esoterischen Scheiß in eine blöde Lage gebracht. Und er würde auf ihn warten, ganz egal, wie lange er brauchte. Zudem ging Karl davon aus, dass Ulrich unterwegs eine Menge Kassen geplündert hatte. Und das Geld würde er ihm abluchsen. Und dazu kam noch etwas Feines, was er sofort einleiten würde. Wieder griff er zum Telefon und wählte eine Nummer. Eine weibliche Piepsstimme meldete sich. Er hatte wie gewünscht die Polizei dran.
»Hier ist Karl Bäcker«, sagte er, »ich hätte gern mit Kommissar Hoffmann gesprochen, Mann.«
»Oh, der ist momentan leider abwesend. Er war heute Nacht im Einsatz. Ganz schreckliche Sache. Dabei steht heute so was
Interessantes in seinem Horoskop. Ich hoffe ja, dass …«
»Erzählen Sie mir doch keinen Roman«, herrschte Karl die Frau an. »Wann wird er kommen?«
»Keine Ahnung. Ich kann ihm aber etwas ausrichten. Worum geht es denn?«
»Sagen Sie ihm, ich kann ihm den Gesuchten Ulrich Krämer auf einem Silbertablett servieren. Aber das ist an Bedingungen geknüpft, Mann. Die Belohnung wird mir dann ohnehin sicher sein. Und ich will mit dem Gesuchten vorher persönlich sprechen. Nur dass das klar ist.«
»Oh, das ist aber was ganz Gefährliches, was Sie da vorhaben.«
»Das weiß ich auch, Mann. Aber so wird es laufen, wenn er meine Hilfe will. Er soll mich anrufen, klar?«
»Wer, der Gesuchte?«
»Nein, Herzchen. Der Kommissar.«
»Ah, okay. Ich hatte mich schon gewundert.«
Karl beendete das Gespräch. Diese Polizeitippse schien wirklich selten dämlich zu sein. Aber es war ihm bereits bei seinem Besuch dort aufgefallen, dass sie irgendwie einen Draht zu esoterischem Hokuspokus hatte. Möglicherweise würde sie irgendwann zu einem Termin werden. Doch zunächst hoffte er darauf, dass das, was heute folgen würde, seine eigene Kasse erst mal zu Genüge auffüllte. Er legte die Füße auf den Tisch und wartete auf den Rückruf.
Kapitel 20
Emotionslos starrte Ulrich auf die Monitore. Nachdem er seine Anrufe getätigt hatte, war eine Menge Zeit übrig gewesen, die er mit innerer Anspannung in seinem Versteck verbracht hatte. Es war kurz vor zehn und er hatte vergeblich auf die Ankunft von Karl Bäcker gewartet. War er nur von anderen Klienten aufgehalten worden oder steckte etwas anderes dahinter? Verschiedene vorstellbare Szenarien nahmen in Ulrichs Kopf Gestalt an, doch letztendlich waren sie alle ohne Belang. Bäcker war nicht innerhalb des ihm gegebenen Zeitfensters gekommen und jetzt war es zu spät. Die Mitarbeiter der Firma Krause hatten die Beisetzung ihres Chefs hinter sich und trafen ein. Ulrich beobachtete über die Monitore, wie sie nach und nach durch den Haupteingang kamen und sich auf die Fahrstühle zubewegten. Sobald sie alle oben angekommen waren,
würde er die Türen verrammeln. Dann käme niemand mehr rein, auch kein Karl Bäcker.
Während die annähernd dreißig bekannten Gesichter leicht verpixelt über den Bildschirm huschten, fühlte Ulrich trotz allem eine gewisse Vorfreude. Ohne die erwartete Hilfe würde es vielleicht etwas länger dauern, aber auch das war kein gewichtiges Problem. Immerhin war es während der verlängerten Öffnungszeit
zu keinerlei Störungen gekommen und er sah dem weiteren Verlauf nun doch positiv gestimmt entgegen.
Der Strom seiner ehemaligen Kollegen am Haupteingang verebbte allmählich, somit richtete Ulrich den Blick auf den Monitor, der den Flur des Büros in seiner Etage überwachte. Aus dem Augenwinkel sah er auf dem Bildschirm, der das Erdgeschoss zeigte, lediglich noch eine offenbar weibliche Person in einem Regenmantel durchs Bild huschen. Sobald sie alle beisammen waren, konnte die Show beginnen.
Das Büro füllte sich somit innerhalb von ein paar Minuten. Die letzten völlig durchnässten Nachzügler trafen ein. Gerade als Ulrich die Hand auf den verhängnisvollen Knopf zur Verriegelung des Gebäudes legte, öffnete sich der Fahrstuhl. Die Frau, die er gerade auf dem Monitor wahrgenommen hatte, trat heraus. Er kannte sie – doch sie gehörte nicht hierher. Was wollte die? Was in drei Teufels Namen hatte seine Mutter an diesem Ort zu suchen?
Ulrich spürte, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich. Dieser Vorfall würde alles verändern. Mutter würde im Weg stehen, wenn er gleich sein Normandiefeuer eröffnete. Und wie hatte sie überhaupt herausbekommen, wo er gerade war?
Er nahm die Hand von der Taste und schaltete stattdessen den Ton der Kamera ein, die den Bürokorridor im Visier hatte. Mutter war bereits der Belegschaft aufgefallen und in ein unruhiges Gespräch mit dem Büroleiter verstrickt. Ulrich verfolgte die Worte, die ihn durchaus verstörten.
»Sagen Sie mir sofort, wo mein Sohn ist!«, forderte Mutter den Mann auf.
»Frau Krämer, wir haben doch keine Ahnung, wo er ist«, beteuerte dieser.
»Sparen Sie sich Ihre Lügen, er hat mich von seinem Büro aus angerufen. Er muss
im Haus sein!«
Ulrich fiel es wie Schuppen von den Augen: Mutter hatte die
Nummer auf dem Display des Telefons gesehen. Verdammt, hätte er sich den Anruf doch bloß verkniffen! Jetzt hatte er den Salat. Sie würde alles durcheinanderbringen.
»Noch einmal, Frau Krämer«, mahnte der Büroleiter, mit drohendem Tonfall. »Wir haben keine Ahnung, wo er sich rumtreibt und wir wollen ihn hier auch nie wiedersehen. Und Sie möchte ich bitten, zu gehen. Und zwar unverzüglich!« Damit packte der Mann sie am Oberarm und geleitete sie gewaltsam zur Etagentür, während sie sich in seinem starken Griff wand und ungewöhnlich heftige Flüche und Schimpfwörter ausstieß.
Das war Ulrichs Chance. Der Steuerraum, in dem er sich befand, war außerhalb des Büros an einer Ecke, an der ein schmaler Gang zum Treppenhaus führte. Und der Büroleiter hatte Mutter in eben diesen Gang befördert. Er betätigte den Schalter. Es piepte nur kurz, kein dramatisches Klickgeräusch, das sich durch das ganze Haus zog. Nein, die Vorrichtungen waren sehr leiser Natur. Niemand hatte wohl etwas von der Verriegelung mitbekommen. Damit waren alle Schlachtschweine in ihren Ställen eingesperrt. Und Mutter befand sich von ihnen getrennt außen vor. Er würde sie in sein Versteck holen. Vorher schaltete er den Störsender ein und drückte den letzten Schalter, der – sehr dramatisch – alle Lichter im Haus erlöschen ließ und die Telefone und Computer unbrauchbar machte. Die Monitore im Kontrollraum wurden so schwarz wie der Rest des Zimmers. Ulrich schaltete seine Maglite ein. Dann öffnete er die Tür und fand Mutter wie erwartet auf dem Gang vor, ihr Gesicht von Verwirrung gekennzeichnet. Schnell zog er sie zu sich in den Raum und schloss augenblicklich wieder die Tür.
»Verdammt, Mutter«, ranzte er sie an. »Was machst du hier? Hab ich dir nicht gesagt, du sollst zu Hause warten?«
»Das war mir unmöglich, mein Junge«, erklärte sie mit weinerlicher Stimme. »Versteh doch, ich will dir helfen. Und ich habe etwas getan, was eine Rückkehr für mich unmöglich macht.«
»Was
hast du getan?«, fragte Ulrich etwas ängstlich, hatte jedoch schon einen Verdacht.
»Ich habe die Ursache für alles beseitigt«, erklärte sie. »Die Person erledigt, die dich überhaupt erst auf dumme Gedanken gebracht hat.«
Das erklärte so einiges. Zum Beispiel das Fernbleiben von Karl Bäcker. Er war tot. Mutter war irgendwie an die Information gelangt,
was er Ulrich für eine Praktik vermittelt hatte. Und es war klar, dass das alles für sie wie abergläubischer und vor allem unchristlicher Unsinn herüberkam. Sie hatte ja keinen Schimmer davon, dass es bereits funktioniert hatte und ein Haufen Geld für sie zusammengekommen war. Aber es sah trotz allem danach aus, als würde es funktionieren. Somit konnte Ulrich diesen Verlust verschmerzen. Am Ende wäre Karl ohnehin keiner seiner Auserwählten
gewesen. Dass Mutter aber dazu fähig war, ließ ihn innerlich stutzen. Anscheinend hatte er sie falsch eingeschätzt.
»Okay, Mutter«, sagte er lapidar. »Lass uns später darüber reden. Sag mir lieber, wie du dir das mit der Hilfe
vorgestellt hast.«
»Ich habe die Nachrichten gehört. Und die Polizei hat mich laufend genervt. Sie sagen, du wärst möglicherweise schwer bewaffnet. Stimmt das wirklich?«
»Ja, so kann man es ausdrücken.«
»Dann gib mir was, womit ich klarkomme. Ich werde mich an deinem Gang beteiligen. Werde dir helfen, diese Welt zu säubern. Wir werden die biblische Offenbarung einleiten, mein Junge. Gottgefällig, wie prophezeit. Ich bin in den letzten Tagen einigen Versuchungen erlegen und habe das wieder gutzumachen. Und auch wir, Ulrich, haben so einiges nachzuholen.«
Sie griff ihm sanft in den Schritt, während sie das sagte. Ulrich war einen kurzen Moment etwas perplex. Er spürte eine Regung zwischen seinen Beinen, die auf ein gewisses Verlangen hindeutete. Schnell fasste er sich jedoch wieder.
»Dazu haben wir keine Zeit, Mutter«, herrschte er sie an. »Außerdem habe ich dir da doch was zu gesagt. Aber seis drum, es gibt andere Sachen zu tun. Und ich möchte, dass du hier wartest, bis alles erledigt ist, klar?«
»Nein, mein Sohn. Keine Chance. Ich werde dicht hinter dir bleiben, bewaffnet oder unbewaffnet.«
Ulrich seufzte. Er richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Reisetasche und entnahm ihr ein Kampfmesser, das er Mutter entgegenstreckte.
»Versuch es hiermit«, meinte er. »Bevor du mich
irrtümlich mit irgendwelchen Schusswaffen umlegst. Glaub mir, ich war selbst am Anfang überrascht von der Heftigkeit.«
Sie nahm das Mordinstrument entgegen, zog es aus der Hülle und begutachtete es grinsend. »Gut, für den Anfang reicht es wohl«,
sagte sie.
»Setz es ein, wie du willst. Aber lauf mir damit nicht vor die Mündung, hörst du?«
Ulrich entschied sich für die Heckler & Koch und deckte sich gleichzeitig mit genug Munition ein. Doch die knapp drei Dutzend Ziele, die sich auf dieser Etage befanden, würden bei seinem Arsenal kaum ins Gewicht fallen. Es war genug da für das gesamte Haus.
»Dann lass uns durchstarten«, kommandierte er und öffnete die Tür.