Kapitel 21
Niemand hielt sich im Eingangsbereich auf, als Ulrich die Etagentür manuell öffnete, mit seiner Mutter zusammen in den Bürotrakt eintrat und ihn hinter sich wieder verschloss. Die durch Glaswände abgegrenzten Arbeitsbereiche waren menschenleer, denn die Mitarbeiter hatten sich alle an der Fensterfront versammelt und schauten nach draußen. Ulrich ging zwar zunächst davon aus, dass sie nach Krauses Beerdigung noch ein wenig miteinander quatschen wollten, bevor sie an die Arbeit gingen. Doch warum drängten sie sich dabei allesamt auf einen Fleck, anstatt das in der gemütlichen Kantine zu tun?
»Mein Gott«, hörte er jemanden sagen. »Was ist denn da nur passiert?«
Ulrich tauschte einen skeptischen Blick mit seiner Mutter. Es ärgerte ihn, dass niemand von ihnen Kenntnis nahm. Irgendetwas da draußen stahl ihm die Show, doch das würde sich jetzt ändern.
»Einen wunderschönen guten Morgen«, rief er zu der Menge hinüber.
Dann betätigte er den Abzug der Maschinenpistole. Geschosse rasten augenblicklich wie Heuschrecken durch den Raum, trafen Köpfe und Rümpfe, Gliedmaßen und Gegenstände. Die schreiende Meute stob in Panik auseinander, die ersten Leiber sanken zu Boden. Blut spritzte in alle Richtungen durch die Räumlichkeiten, als hätte man einen Rasensprenger mit roter Farbe gefüllt. In Sekunden waren die Fenster mit Blut und Gehirn gespickt, darunter lagen bereits fünf Zusammengeschossene, deren Körper durch letzte Nervenregungen zuckten. Einige Kollegen versuchten, sich unter Tischen und hinter Schränken in Sicherheit zu bringen, doch die Projektile machten ihnen schnell klar, dass das ein aussichtsloses Unterfangen war – hinter den zerbrechlichen Schilden platzten ihre Schädel wie Wassermelonen. Andere schafften es, sich an den Wänden entlang an Ulrich vorbeizuschleichen, wobei einige von ihnen jedoch augenblicklich mit der Schärfe des Messers Bekanntschaft machten, das Mutter führte. Die Klinge durchschnitt ihre Kehlen, fuhr in ihre Bäuche und Rücken. Die schwarze Trauerkleidung, die sie alle trugen, markierte nun ihr eigenes Ableben. Zwei Mitarbeiter schafften es an Mutter vorbei, doch sie wurden durch die verschlossene Etagentür aufgehalten. Einer versuchte, sie mit einem Stuhl zu zertrümmern, scheiterte aber kläglich an der Stabilität des Panzerglases. Ulrich verpasste ihm eine Salve von Schüssen in den Hinterkopf, woraufhin die klebrigen Reste seines Gesichts an die Scheibe spritzten und sein Körper, eine blutige Spur hinter sich herziehend, an der Tür hinunterglitt. Eine andere Kollegin schlug verzweifelt auf die Tasten des Fahrstuhls und spürte Sekunden später Mutters Messer in ihren Nieren, mit dem sie wie psychotisch im Viertelsekundentakt immer neu zustach und einen Blutschwall erzeugte, der an einen Wasserhahn denken ließ.
Zwei oder drei Mitarbeiter schafften es bis in die Damentoilette. Um die würde Ulrich sich später kümmern. Er fand es während seiner lang erwarteten Ballerei recht amüsant, wie sich einige bekannte Gesichter entsetzt auf ihre Mobiltelefone verließen, um dann feststellen zu müssen, dass diese sie eben in der Situation, in der sie dringend gebraucht wurden, enttäuschten, und ein teuflisches Lachen entrang sich seiner Kehle.
Von den knapp dreißig Kollegen waren schon nicht mehr viele übrig. Ihre Leichen lagen zum Teil vor den Fenstern grotesk übereinander in sich weit ausbreitenden roten Lachen. Durch die Hosen drang eine andere Flüssigkeit, die darauf schließen ließ, dass ein paar von ihnen sich vor Angst eingeschifft hatten.
Die letzten fünf oder sechs Überlebenden hatten sich wie Kleinkinder heulend in irgendwelchen Ecken zusammengekauert, als wären Schläge alles, was sie zu fürchten hatten. Schnell überzeugte sie Ulrich davon, dass seine Waffen eine höhere Durchschlagskraft als bloße Fäuste hatten. Auch Mutter war alles andere als zimperlich und stach ohne erkennbare Gefühlsregung zu. Während die Heckler & Koch den gesamten Bürokomplex in eine Großraumschlachterei verwandelte und dabei den Rhythmus des Todes trommelte, tanzte sich das große Messer fast im Takt durch die Anatomie der Belegschaft. Endlich verstummten die Schreie. Lediglich das Topfen von Blut war zu hören – und der unverwechselbare Klang von Polizeisirenen, der schwach durch die geschlossenen Fenster vernehmbar war. Doch das war in der Hauptstadt des Verbrechens ein eher vertrautes Geräusch.
Ulrich hatte während der befreienden Aktion kaum Blutspritzer abbekommen. Seine Mutter hingegen sah aus wie eine Metzgerin. Immer noch trug sie ihren Regenmantel, diesmal von einem Blut regen benetzt. Doch auch ihr Gesicht war mit dem roten Saft besprenkelt, ganz zu schweigen von ihren Händen, in denen sie nach wie vor das Messer wie ein Racheengel erhoben hielt.
»Alles in Ordnung?«, fragte Ulrich mit einem boshaften Lächeln.
»Alles okay«, antwortete sie. »Ich fühle mich prächtig.«
»Ein paar von den Scheißern sind in die Kloräume abgehauen«, erinnerte Ulrich. »Um die kümmern wir uns auch gleich.«
Dann begab er sich zum Fenster. Erst einmal war er neugierig, was seine ehemaligen Kollegen da draußen so fasziniert hatte. Und als er hinaussah, öffneten seine Augen sich weit vor Schreck. Dort unten hatte sich eine halbe Armee von Blaulichtern versammelt, darunter Streifenwagen, Notärzte und Feuerwehr. Eine riesige Menschenmenge war zusammengekommen und Polizeikräfte waren verzweifelt damit beschäftigt, diese im Zaum zu halten. Es war offensichtlich, dass dieser Auflauf keine Fremdursache hatte, sondern eindeutig dem Krause-Gebäude galt. Trotz Ulrichs Vorsichtsmaßnahmen war irgendwo eine undichte Stelle gewesen, welche zur Katastrophe geführt hatte. Die Einsatzkräfte mussten genau in dem Moment eingetroffen sein, in dem er den Bau verriegelt hatte. Das war wohl sein Glück gewesen, eine Sache von Minuten. Denn sonst würde es auch im Haus von Polizei nur so wimmeln.
Trotzdem war er sich im Klaren darüber, dass er und Mutter selbst zu Gefangenen geworden waren. Ein Verlassen des vermutlich komplett umstellten Gebäudes war so gut wie undenkbar geworden.
»Oh, verdammt!«, entfuhr es ihm. »Wir müssen uns was einfallen lassen.«
»Was wollen die denn ausrichten?«, lachte Mutter. »Wir haben erst ein einziges Stockwerk gesäubert. Das bedeutet, wir haben ungefähr 300 Geiseln. Und Munition. Berge davon.«
Das stimmte. Es war sicherlich unangebracht, den Plan fortzuführen, als wäre nichts geschehen. Auch wenn Ulrich das Hochhaus verrammelt hatte – auf kurz oder lang würde die Polizei einen Weg finden, hier einzudringen. Er musste also irgendwie die Beamten aufhalten, die Sache verzögern, Zeit schinden. Und die Angst vor Situationen wie dieser waren der Grund, warum er Karl Bäcker kontaktiert hatte. Sein Wissen um die Sache mit den Bestellungen hätte die ganze Sache beschleunigen können. Doch das war ausgerechnet durch Mutter vereitelt worden, wie sie ja zu verstehen gegeben hatte.
Es war sinnlos, sich darüber zu ärgern oder ihr deshalb eine Szene zu machen. Ein Streit würde sich in dieser Situation lediglich destruktiv auswirken. Deshalb richtete er seine Gedanken auf mögliche Szenarien und ein daraus resultierendes taktisches Vorgehen.
Das Druckmittel mit den Geiseln war schon mal ausgezeichnet. Um diese möglicherweise am Fenster zu präsentieren, musste er noch nicht mal ein weiteres Stockwerk öffnen. Er hatte ja die Feiglinge, die in die Toilette geflüchtet waren. Und außerdem konnte er jetzt, wo die Polizei sowieso Wind von allem bekommen hatte, ruhig den Strom wieder anstellen und den Störsender ausschalten. Auf diese Weise hatte er die Möglichkeit, mit den Einsatzkräften zu telefonieren. Im Normalfall wurden solche Gespräche als Verhandlungen bezeichnet, doch Ulrich würde lediglich bluffen. Er hatte keine ernsten Forderungen ihnen gegenüber. Sein freies Geleit würde von ganz woanders garantiert werden. Nur Zeit war von Bedeutung.
Als er von draußen das Geräusch von Hubschraubern hörte, wurde er sich plötzlich eines Lecks in seinen bisherigen Überlegungen bewusst. Dieses Leck war das Dach! Über das Treppenhaus gab es einen schmalen Zugang dort hinauf. Und die Tür, die auf die große Plattform führte, war vom zentralen elektronischen System getrennt. Es handelte sich um eine Metalltür mit konventionellem Schloss. Die Gefahr lauerte also über ihm. Und im selben Moment wusste er, was er zu tun hatte.
»Gut, Mutter«, meinte er entschlossen. »Tu genau das, was ich sage! Wir brauchen die Idioten aus der Toilette. Du wirst dich um sie kümmern. Dann gehen wir aufs Dach.«
»Aufs Dach?«, fragte Mutter ungläubig. »Was sollen wir dort?«
»Stell keine Fragen! Wir müssen uns etwas beeilen.«
Er schlug den Weg zur Toilette ein und Mutter folgte ihm, während sie ihren Regenmantel abstreifte und das blutüberströmte Bündel auf dem Fußboden zurückließ. Die Tür war nicht verschlossen und die Geflüchteten, die sich dahinter befanden, stellten keine Gefahr dar. Trotzdem trat Ulrich theatralisch gegen das Holz, das sofort am Klinkenbereich auseinander barst und dahinter, verängstigt und in gegenseitiger Umarmung, den Blick auf zwei Frauen freigab, bei denen es sich um die alte Trudel Schubert sowie um die junge und recht hübsche Anja Peters handelte. Sofort ging ein Geschluchze und Gejammer los, als die beiden Ulrich und seine Mutter erblickten. Sie waren ebenfalls mit Blut besprenkelt, das aber offenbar aus anderen, inzwischen toten, Körpern stammte.
»Hört mit der Wimmerei auf!«, herrschte er sie an. »Los, kommt raus da!«
Zitternd verließen die beiden ihr Versteck. Ulrich packte Trudel am Kragen und stieß Anja zu seiner Mutter hinüber.
»Oh, bitte, tut uns nichts!«, weinte Trudel.
»Halt die Klappe!«, befahl Ulrich. »Vorwärts, Tempo!«
Mehr stolpernd als gehend leisteten die beiden Damen seinen Befehlen Folge. Der Weg führte sie durch den Korridor bis zur Etagentür. Dort ließ Ulrich Trudel kurz los, um die kopflose Leiche an die Seite zu ziehen. Er öffnete die Tür zum Treppenhaus. Vorsichtig trat er hervor und blickte sich um, lauschte. Alles ruhig, wie er erwartet hatte.
Als er sich umdrehte, um die anderen herüberzurufen, fiel sein Blick zunächst auf Anja, die sich in Mutters eisernem Griff befand und es voller Angst zu vermeiden versuchte, laut loszuschreien. Aus ihren geschlossenen Augen drangen Tränen hervor. Ihre Bluse war aufgerissen, ihr Büstenhalter vorn durchtrennt. Das riesige Messer bewegte sich mit der Spitze um ihre nackten Brustwarzen herum, während Mutters Zunge ihre Wange leckte.
»Mutter, was hast du eigentlich für ein Problem?«, fragte Ulrich mit skeptisch fragender Miene.
»Ich kann nichts dazu, Junge«, raunte sie. »Es sind die Dämonen, die Versuchungen. Sie haben mich in ihrer Gewalt.«
»Hör mit diesem Blödsinn auf! Wir müssen sieben Stockwerke nach oben. Und das Ganze recht zügig, bevor ein Hubschrauber auf dem Dach landet.«
»Über die Treppen? Was ist mit dem Fahrstuhl?«, fragte Mutter, inzwischen etwas gefasster.
»Damit uns die Polizei gleich in Empfang nimmt, wenn die Türen aufgehen? Über die Treppe kriege ich rechtzeitig mit, wenn schon jemand auf uns wartet. Wenn ich wüsste, dass niemand oben ist, wäre das eine Option. Aber dazu müsste einer von uns die Kontrollen im Auge behalten. Also lassen wir das lieber und bleiben zusammen.«
»Zusammen gefällt mir.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.«
Unterwegs betrat Ulrich noch einmal den Kontrollraum, wo er den Strom wieder einschaltete, den Störsender deaktivierte und die Tasche mit den Waffen einsammelte. Und prompt hörte er das Klingeln eines Handys. Es war offenbar das seiner Mutter.
»Wer ruft dich denn an?«, fragte er neugierig.
Mutter griff in ihre Hosentasche und schaute auf das Display.
»Das ist die Polizei«, stellte sie fest. »Dieser Kommissar Hoffmann, der mich verhört hat.«
»Du hast seine Nummer im Handy?«
»Er hat mir seine Karte gegeben. Denkt, ich bin zu Hause. Wahrscheinlich will er mir mitteilen, dass du hier bist.«
»Lass es klingeln, nicht rangehen! Wenn wir oben sind, gibst du es mir, ja? Der Kerl ist vermutlich mit von der Partie da unten. Und damit ist das genau der Depp, mit dem ich sprechen muss.«
»Wie du willst«, antwortete Mutter, während sie weiterhin Anjas Brust ritzte.
»So, und jetzt gebt Gas!«, ordnete Ulrich an. »Die Zeit ist gegen uns. Aber wenn wir vor der Polizei auf dem Dach sind, haben wir eine Chance.«
Widerwillig spurten die anderen. Tatsächlich schafften die beiden Geiseln es, Ulrichs Tempo zu halten, der förmlich die Treppen hinaufrannte. In jeder Etage sahen sie fragende Gesichter hinter den verschlossenen Glastüren. Immerhin waren Strom und Handynetze wieder verfügbar.
Sie erreichten die schmale Stiege, die aufs Dach hinaufführte. Ulrich ging voran, öffnete die Eisentür am Ende und trat hinaus in den Regen. Sofort hörte er das Geräusch von Propellern.