Kapitel 25
Eine schlimmere Eskalation der Sache war kaum vorstellbar. Kommissar Hoffmann hatte innerlich längst aufgegeben. Nichts, aber auch gar nichts, hatte er verhindern können. Während hier unten auf der Straße die Sanitäter der Verletzten kaum Herr wurden und ein Leichensack nach dem anderen abtransportiert wurde, waren immer wieder Meldungen der Helikopterpiloten eingegangen. Vorsichtshalber hielten sie Abstand, beobachteten aber über Präzisionskameras jede Bewegung auf dem verdammten Hochhausdach. Und da hatte sich in kürzester Zeit ein schauriges Drama abgespielt.
Er hatte die Abfolge der Dinge und insbesondere deren Hintergrund nur erahnen können. Im Minutentakt war Peter Meier, der über Funk mit den Fliegern in Kontakt stand, mit neuen Hiobsbotschaften gekommen. Demnach hatte Ulrich seine Mutter und zwei Geiseln bei sich gehabt, als er auf dem Dach erschienen war. Nachdem er den Hubschrauber angefordert hatte, war es da oben irgendwie zum Streit mit seiner Mutter gekommen, die er daraufhin durch die Tür des Dachzugangs zurückgestoßen hatte. Da war es dann zu einer Explosion gekommen, bei der auch eine der Geiseln getötet worden war. Irgendwas hatte er dann mit diesem bescheuerten Karl Bäcker besprochen. Die größte Katastrophe war passiert, als dieser mit dem Piloten, aber seltsamerweise ohne den Verrückten, wieder abflog: Krämer hatte auf den Hubschrauber geschossen, der infolgedessen in die gegenüberliegende Seite des Hochhauses gestürzt war. Trümmer waren auf die Straße gefallen und hatten viele Menschen unter sich begraben. Das alles war erst Minuten her und hatte das absolute Chaos ausgelöst. Hoffmann hatte eine Vollsperrung der gesamten Umgebung des Gebäudes angeordnet, die noch auf sich warten ließ. Die viel zu späte Wende war erst gekommen, als dieses Arschloch auf dem Dach die andere Geisel vernachlässigt hatte. Dieses junge Mädchen hatte den Moment genutzt und sich einer der Waffen bemächtigt, die Krämer offenbar in einer Packtasche verstaut hatte. Damit hatte sie ihm die Beine zerschossen.
Was Hoffmann jetzt sah, spottete jeder Beschreibung. Als er nämlich zum Dach hinaufschaute, erblickte er dort an der Brüstung
vor dem grauen Himmel die Silhouette eines Mannes, der die Arme weit ausgebreitet hatte und sich offenbar mit Absicht über den Rand rutschen ließ. Fast erinnerte es an einen Raubvogel, der sich zum Sturzflug auf ein Opfer aufmachte. Dieser Mann, der im freien Fall wie ein Wahnsinniger lachte, war ohne Zweifel Ulrich Krämer. Wie ein Erzengel stürzte er an den oberen Stockwerken vorbei und vollführte dabei ungewollt sportliche Drehungen, bis sein Körper jäh von einem der am Gebäude herausragenden Fahnenmasten gebremst wurde. Mit einem grotesken Laut, der sich aus einer Mischung von Reißen und Klatschen zusammensetzte, wurde er am Brustkorb aufgespießt. Sein Bauch war vom Becken an dabei aufgerissen worden. Wie eine Galionsfigur hing der endlich besiegte Attentäter an der Stange, an der, wie ein nasser Sack, die vom Regen völlig durchnässte Flagge der Türkei herunterlappte.
»Na, das wars dann wohl«, seufzte der Kommissar.
»Ja, sieht ganz so aus«, bestätigte Peter Meier, der unbemerkt neben ihm aufgetaucht war. »Jetzt heißt es dann Schadensfeststellung. Und Wunden lecken.«
»Er wollte die ganze Welt kontrollieren. Nun hängt er da wie ein Döner am Spieß.«
»Soll das etwa eine Anspielung auf die Fahne sein, Chef?«
»Unsinn, Peterchen! Sagen Sie so was bloß nicht zu laut, sonst findet sich das morgen in irgendwelchen Satireblättern wieder. Rassismus und Beleidigungen von Nationen hätten mir gerade noch gefehlt. Ist schon schlimm genug alles. Das wird eine mächtige Untersuchung geben. Vor allem die Sache mit dem Helikopter und dem Fuzzi da drin werde ich irgendwie erklären müssen. Wer weiß, ob ich da je wieder rauskomme. Könnte mir das Genick brechen.«
»Irgendwie mussten Sie entscheiden.«
»Erklären Sie das mal den Sesselfurzern weiter oben! Die wissen sowieso alles besser und haben keine Ahnung, wie es draußen zugeht. Und das hier – das war ohnehin ein ganz besonderes Kaliber.«
»Da gebe ich Ihnen allerdings recht«, bestätigte Meier. »Aber eins muss man ihm lassen: Wenn man bedenkt, dass er aus der Kanalisation kam und zuletzt auf dem Dach da oben war, dann muss man ihm zugestehen, dass er es von ganz unten nach ganz oben geschafft hat.«
»Was ist das denn für ein Scheißvergleich?«, grummelte Hoffmann.
Meier zuckte leicht grinsend mit den Schultern, während sich trotz des vergangenen Blutbads auf der Straße neue Schaulustige versammelten. Die Beamten gaben sich Mühe, die Umgebung komplett abzuriegeln. Hoffmann fasste sich ein Herz und begab sich auf den Bürgersteig vor dem Hochhaus, um ein Machtwort zu sprechen.
»Ähm … Chef«, setzte sein Kollege an.
»Okay, meine Damen und Herren«, rief der Kommissar laut, ohne Meier zu beachten, »die Show ist vorbei. Es gibt nichts mehr zu sehen. Bitte gehen Sie unverzüglich weiter!«
»Chef, ich würde da weggehen«, legte Meier nach.
»Wieso, was ist denn?«, fragte Hoffmann genervt.
Dann bemerkte er, dass der Blick seines Kollegen auf etwas gerichtet war, das sich irgendwo über ihm befand. Neugierig blickte auch er nach oben. Erst jetzt stellte er fest, dass er sich genau unter dem aufgespießten Verrückten befand. Gleichzeitig nahm er wahr, dass da etwas auf ihn zukam. Eine rote, ihre Form verändernde Masse hatte sich irgendwie von der Leiche gelöst und ihren Weg nach unten angetreten. Bevor der Kommissar wirklich registrierte, um was es sich da handelte, trafen ihn die aus Krämers offenem Bauch ausgetretenen Eingeweide mit einem klatschenden Geräusch genau auf den Kopf. Sie besudelten ihn im Nu mit rotschleimigen Sekreten, bevor sie zu seinen Seiten auf dem Bürgersteig aufschlugen. Versteinert stand er da, glotzte in die ebenso entsetzte Menschenmenge vor ihm. Die Innereien, die sich um ihn herum ausgebreitet hatten, reichten für einen Anatomiekurs. Neben dem Darmtrakt, der sich wie ein Haufen aus Würmern und Schlangen neben ihm auftürmte, waren auch Leber, Nieren, sogar die Lungenflügel und ihm völlig unbekannte Organe dabei. Das viele Blut wurde schnell vom Regen verwässert.
Trotz allem behielt Hoffmann die Ruhe. Es war jedoch eher eine auf Verzweiflung fußende Ruhe, die auf der Gewissheit aufbaute, dass alles Übel nun wirklich seinen Zenit erreicht hatte. Unbeweglich stand der Kriminalbeamte im Regen und blickte ins Leere. Das merkwürdig reißende Geräusch über ihm nahm er nur am Rande wahr.
»Hören Sie, Chef«, erklang Meiers Stimme. »Kommen Sie da weg! Ich mein das ernst!«
»Ach, Peterchen«, raunte Hoffmann gelangweilt. »Was um alles in
der Welt kann denn jetzt noch passieren?«
Seine Frage wurde umgehend beantwortet, als sein Kopf von einem schweren Objekt umhüllt wurde, das ihn sofort erblinden ließ und jäh zu Boden riss. Kurz bemerkte er den widerlichen Geschmack auf der Zunge, bevor er mit Schrecken feststellte, dass er keine Luft mehr bekam. Sein Nacken schmerzte überdies durch den harten Treffer des … was immer es auch war. Dieses Ding, das irgendwie hart und weich zugleich war, umschloss seinen Kopf komplett. Alle Versuche, es abzustreifen, misslangen – er steckte fest. Während er dumpf hektische Stimmen hörte und spürte, wie starke Hände an diesem Etwas
herumrissen, verlor er aufgrund des Sauerstoffmangels das Bewusstsein.