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Percy als Hundeführer

In den folgenden Wochen und Monaten bemühte sich die Mutter sehr, Percy das richtige Üben beizubringen. Percy aber rannte, so oft es irgend möglich war, in die Bibliothek. Manchmal besuchte er Mrs Morris, die sich sehr freute, wenn sie ihn sah, aber nicht so verrückt wie Darling, der auf den Hinterbeinen tanzte, bellte und jaulte, sich auf den Rücken warf und knurrte, wenn Percy ihn nicht lang genug kraulte. Wenn ihre Beine sehr wehtaten, bat die alte Frau Percy, mit Darling spazieren zu gehen.

Ab und zu trafen sie dabei seine Mutter, die seufzend die Hände rang, wenn sie sah, wie viele wundervolle Gelegenheiten Percy vorbeigehen ließ, während Darling einen anderen Hund beschnupperte.

Was soll nur aus ihm werden, wenn ich nicht mehr bin?, fragte sie sich.

Percy hatte seine Mutter lieb und wollte ihr gern eine Freude machen. Aber wenn er nur die Hand nach einer Geldbörse in einem offenen Einkaufskorb ausstreckte, bekam er solche Bauchschmerzen, dass es ihn zusammenkrümmte. Seine Mutter schickte ihn zum Arzt, der verordnete Bewegung an der frischen Luft.

Kurz darauf fragte Mrs Morris, ob Percy nicht auch mit dem Spaniel ihrer Nachbarin spazieren gehen könne, die Nachbarin hätte sich das Bein gebrochen und könne nur ganz mühsam an zwei Krücken humpeln.

Sie selbst, sagte sie, könne Frisky nicht ausführen, der renne noch schneller als Darling. Und die beiden Hunde seien ihr einfach zu viel, die tobten wie eine wilde Horde durch die Gassen.

Percy machte mit beiden lange Ausflüge, warf ihnen Stöckchen und Bälle und freute sich, wenn sie Schwanz wedelnd und vergnügt herumtollten.

Einmal schnappte ein drahtiger schwarz-weißer Hund Darling den Ball vor der Schnauze weg. Darling knurrte böse, doch plötzlich fing er an, den fremden Hund zu beschnuppern und wild mit dem Schwanz zu wedeln.

Ein Mädchen, dem ein dicker schwarzer Zopf über den Rücken baumelte, kam herangestürmt.

„Cindy!“, rief sie. „Cindy, komm her!“

Cindy balgte sich mit Darling und Frisky und ließ sich nicht stören. Das Mädchen griff nach Cindys Halsband, Cindy raste davon, die beiden anderen Hunde hinterher.

Percy brüllte: „Darling! Frisky!“

Das Mädchen rief: „Cindy!“

Die Hunde kümmerten sich nicht darum.

Percy fand zwei Kekse in seiner Hosentasche, die ihm die alte Frau gegeben hatte, und versuchte die Hunde damit zu locken.

„Irgendwann werden sie müde“, sagte er.

„Hoffentlich noch in diesem Jahr“, sagte das Mädchen. „Meine Mutter wartet.“

Die Hunde kamen auf sie zugelaufen, kurz vor ihnen machten sie einen Bogen und rannten in einem großen Kreis weiter.

Percy spannte seine Muskeln. Als die Hunde wieder in die Nähe kamen, hechtete er auf sie zu, erwischte Darling am Halsband. Alle drei blieben stehen, die Zungen hingen ihnen aus den Mäulern, ihre Flanken bebten.

Das Mädchen legte Cindy die Leine an. „Danke!“, sagte sie und rannte davon.

Erst als sie längst außer Sichtweite war, begann sich Percy zu ärgern, dass er nicht nach ihrem Namen gefragt hatte.

„Blöder Hund“, schimpfte er mit Darling. „Du bist echt ein blöder Hund.“

Darling wedelte vergnügt.

In der Nacht baumelte der schwarze Zopf durch Percys Träume.

Die Nachbarin stellte begeistert fest, dass Frisky ziemlich viel abgenommen hatte, seit Percy mit ihm spazieren ging. Sie wäre froh, sagte sie, wenn er weiterhin einmal im Tag für einen richtigen Auslauf sorgte, und überreichte ihm einen Briefumschlag.

Percy gab das Geld seiner Mutter.

Sie nahm es, bedankte sich, fügte aber hinzu: „Wenn es richtig geklaut wäre, würde ich mich noch mehr freuen, aber man kann leider nicht alles haben. Selbst die besten Familien haben ihre schwarzen Schafe. Schau dir unsere arme Königin an. Die hat doch auch nichts als Kummer mit ihren Söhnen.“

Im Laufe der Zeit weitete sich Percys Geschäft aus. Es gab viele alte Leute in der Gegend, die froh waren, wenn jemand ihre Hunde ausführte, und sie waren durchaus bereit, gut dafür zu zahlen. Percy ging mit den Hunden immer auf die Wiese, wo er das Mädchen mit dem dicken schwarzen Zopf getroffen hatte, aber das kam nicht wieder.

In der Schule ging es ihm ganz gut. Hier verlangte niemand schwierige Dinge von ihm wie Arbeit an der Glöckchenpuppe, Anschleichen und so weiter. Die Lehrer waren schon zufrieden, wenn er die Nebenflüsse der Themse hersagen, die Rechenaufgabe lösen, die Fährten der Waldtiere erkennen und die Fragen zu der Geschichte im Lesebuch beantworten konnte.

Es machte ihm Spaß, Lieder zu lernen, und er war stolz, als es ihm gelang, eine Flöte aus einem Holunderzweig zu schnitzen, auf der man richtige Melodien spielen konnte.

Einmal saß er auf der Mülltonne hinter dem Fahrradschuppen und spielte, da kam die Musiklehrerin vorbei. Sie blieb stehen und hörte zu.

Als er fertig war, klatschte sie in die Hände.

„Du hast ja richtig Talent!“, rief sie. „Aus dir kann ein Musiker werden. Komm doch in der nächsten Pause zu mir ins Lehrerzimmer, ich hab etwas für dich.“

Als Percy die Tür zum Lehrerzimmer öffnete, hörte er die Musiklehrerin sagen: „Erstaunlich, wirklich ganz erstaunlich. Ich hätte es nie für möglich gehalten, wenn ich es nicht mit eigenen Ohren gehört hätte.“

Percy kam gar nicht auf den Gedanken, dass sie von ihm sprach. Er räusperte sich.

Die Lehrerin sprang auf, lief zu einem Schrank, schubste alle möglichen Dinge zur Seite, nahm schließlich eine Blockflöte heraus und reichte sie Percy.

„Ich dachte, du würdest vielleicht gern versuchen, auf der zu spielen. Ich borge sie dir. Allerdings musst du dann auch in den Flötenunterricht kommen, jeden Donnerstag nach der vierten Stunde.“ Sie sah Percy streng an. „Und du musst natürlich jeden Tag üben. Verstanden?“

Percy nickte. Das glatte dunkle Holz fühlte sich gut an.

„Na, probiere sie doch!“, sagte die Lehrerin ungeduldig.

Percy legte die Finger auf die Tonlöcher, blies vorsichtig hinein. Diese Flöte klang ganz anders als seine selbst gemachte, voller, runder.

Er begann zu spielen, vergaß die Lehrerinnen, die ringsum saßen, vergaß sogar, dass er in der Schule war.

„Na?“, sagte die Musiklehrerin, als er geendet hatte, und blickte sich triumphierend um. „Also dann, bis Donnerstag. Und sei pünktlich.“

Er sah, dass sie Mühe hatte, ein strenges Gesicht zu machen.

Percy verstand nicht, warum seine Mutter so schreckliche Dinge von den Lehrern in einer normalen Schule erzählt hatte. Es gab nettere und weniger nette, es gab freundlichere und weniger freundliche, es gab welche, die lachen konnten und welche, die meist böse dreinschauten. Natürlich musste man lernen, wie man mit ihnen umzugehen hatte.

Leider gab es keine Gebrauchsanweisungen für Lehrerinnen und Lehrer, aber es gab ja auch keine für Tanten, Großtanten, Kusinen und so weiter. Auch keine für die anderen Kinder in seiner Klasse, aber die waren eigentlich ohnehin ziemlich nett. Er hatte zwar keinen besten Freund gefunden, aber er war auch nie der Letzte, der ins Team gewählt wurde.

„Rennen kann er“, sagten die Buben.

Seit Katharina erklärt hatte, er sei nicht ganz so blöd wie manche anderen, fanden ihn viele Mädchen süß, aber das wusste Percy natürlich nicht.

Er war auf dem Weg zu Mrs Morris, als plötzlich der dicke John vor ihm stand, begleitet von zwei ebenso großen, ebenso dicken und sehr gefährlich grinsenden Kerlen.

„Ja, wohin geht denn unser Mamibubi?“, fragte der dicke John.

„Zu dir nicht“, sagte Percy und ärgerte sich fürchterlich, dass seine Stimme wackelig klang.

„Aber, aber“, knurrte der dicke John und seine Freunde schüttelten die Köpfe. „Mir scheint, du hast ganz vergessen, mit wem du es zu tun hast, kleiner Hosenscheißer.“

Links von den Dreien war kein Platz. Rechts von den Dreien war kein Platz.

Der dicke John runzelte die Stirn. „Ich fürchte, ich fürchte, wir müssen der kleinen Kröte Manieren beibringen.“

Er trat einen Schritt vor und nahm Percy in den Schwitzkasten.

Percy strampelte verzweifelt, da hob ihn der dicke John auf und warf ihn dem größeren von seinen Freunden zu. Ein Schlag in den Magen nahm Percy den Atem. Er japste.

Im nächsten Augenblick sank der dicke John in die Knie und hielt sich den Bauch. Gleich darauf lehnten seine beiden Freunde an der Hausmauer.

Percy blickte auf. Vor ihm stand ein Mann mit wilder Lockenmähne und lachte ihn an.

„Drei gegen einen ist feig“, sagte der Mann. „Und lasst euch gesagt sein, beim nächsten Mal kommt ihr nicht so billig davon. Jetzt haut ab.“

Die drei sahen einander an, dann rannten sie so schnell davon, dass der Staub auf der Gasse aufwirbelte. Der Mann lachte.

„Die kommen natürlich wieder“, sagte er zu Percy. „Das können sie nicht auf sich sitzen lassen. Aber für die nächsten Tage hast du Ruhe vor ihnen. Es wäre keine schlechte Idee, inzwischen ein paar Karatewürfe zu lernen.“

Percy nickte, dann fiel ihm ein, dass er sich gar nicht bedankt hatte.

Der Mann machte eine wegwerfende Handbewegung. „Hat Spaß gemacht. Wenn du Lust hast, gehen wir in den Park und ich zeig dir ein paar Tricks.“

Natürlich hatte seine Mutter Percy oft genug vor fremden Männern gewarnt. Aber dieser Wildgelockte kam ihm gar nicht so fremd vor. Irgendwann, irgendwo hatte er ihn schon gesehen. Und im Park waren sowieso immer Mütter und Kinder und Taubenfütterer und Jogger und Spaziergängerinnen und Skateboard-Fahrer und überhaupt jede Menge Menschen. Was konnte dort schon passieren? Karate zu lernen wäre bestimmt sehr nützlich.

„Gut“, sagte er.

Auf der großen Wiese im Park begann der Unterricht. Der Mann fand, dass Percy sich ziemlich geschickt anstellte. Eine Stunde später wusste Percy, dass er mehr Muskeln an seinem Körper hatte, als er je gedacht hätte, und dass jeder einzelne auf seine eigene Art protestierte. Trotzdem war Percy sehr zufrieden.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte Mrs Morris, als Percy Darling abholte. „Du hast einen Gang wie ein betrunkener Matrose.“

„Muskelkater“, seufzte Percy.

An diesem Nachmittag ließ er sich von Darling ziehen. Seiner Mutter erzählte er nichts vom dicken John und nichts von dem Wildgelockten. Die machte sich sowieso genügend Sorgen.

Als Percy am nächsten Tag aus der Schule kam, schlenderte der Wildgelockte gerade vorbei.

„Na?“, fragte er. „Bist du aus dem Bett gekommen?“

„Sonst wäre ich nicht da“, sagte Percy und erschrak ein bisschen über sich selbst.

Das galt wohl als freche Antwort, aber der Wildgelockte lachte und streckte ihm die Hand entgegen. „Übrigens hab ich mich nicht vorgestellt. Tim heiße ich.“

„Percy.“

Tim grinste breit. „Also, Percy, gehen wir beide gleich in den Park? Das Beste für einen Muskelkater ist Weitermachen, dann verkriecht er sich irgendwann.“

„Ich muss erst nach Hause. Meine Mutter flippt aus, wenn ich nicht zum Essen komme. Ist Ihnen drei Uhr recht?“

Tim nickte, streckte drei Finger in die Höhe und wandte sich zum Gehen. „Wir treffen uns im Park.“

Percy bemühte sich, eine Gangart zu finden, bei der seine Muskeln nicht schmerzten. Das gelang ihm nicht. Trotzdem stellte er verwundert fest, dass er sich auf den Nachmittag freute. Er beeilte sich mit den Hausaufgaben. Seine Mutter fragte nicht, was er vorhatte. Sie hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass er jeden Tag mit den Hunden unterwegs war.

Die Wohnung von Mrs Morris duftete nach Zimt und Äpfeln.

„Wenn ihr zurückkommt, gibt’s Apfelkuchen“, sagte sie, während sie die Leine an Darlings Halsband befestigte.

Tim war nicht begeistert, als er Darling sah. „Wenn das nur gut geht“, murmelte er.

Er hob ein Bein der Parkbank am Rand der Wiese an und stellte es in die Schlinge von Darlings Leine. Dann begannen sie mit den Übungen.

Darling bellte wie verrückt. Er zerrte an seiner Leine.

Eine alte Dame, die sich auf die Bank gesetzt hatte, versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen.

„Du bist doch ein lieber Hund, ein guter Hund!“, schmeichelte sie. „Der Mann tut deinem Herrchen nicht weh, glaub mir.“

Darling sprang auf und ab, riss so fest an der Leine, dass die Bank mitrutschte. Die alte Dame landete auf dem Boden.

Percy rannte zu ihr hin. Sie klopfte ihren Rock ab, kraulte Darling zwischen den Ohren.

„Nix passiert“, sagte sie. „Guter Hund, ja, ich weiß schon, du wolltest nur dein Herrchen verteidigen.“

Darling schleckte ihre Hand ab und wedelte heftig. Sein Schwanz klopfte an ihre Waden.

Ein paar Leute schimpften über den Hund, ein paar mehr über Percy und Tim. Die alte Dame wiederholte, es sei ja nichts passiert und fütterte Darling mit Keksen aus ihrer Handtasche.

Tim meinte, für heute hätten sie genug geübt und Percy war durchaus seiner Meinung.

„Morgen kommst du aber ohne Hund“, sagte Tim. „Ich hab ja gleich gewusst, das wird Ärger geben.“

„Darling ist ein lieber Hund“, sagte Percy.

„Eben deswegen“, erklärte Tim. „Er hat geglaubt, ich greife dich an. Wenn der dabei ist, haben die drei Kerle keine Chance.“

Mrs Morris war gekränkt, weil Percy in den nächsten Tagen nie zum Tee blieb und immer gleich losrannte, wenn er Darling abgeliefert hatte.

„Schmecken dir meine Kuchen nicht mehr?“, fragte sie.

„Doch! Ich … ich erkläre es Ihnen später, ja?“, versicherte er. Er war nicht sicher, ob Tim warten würde, wenn er zu spät kam.

An diesem Nachmittag gelang es Percy zum ersten Mal, Tim niederzuwerfen.

„Gar nicht schlecht“, lobte Tim. Er lag im Gras, grinste und drückte mit dem Daumen an Percys Bizeps. „Schauschau, da wächst ja etwas!“ sagte er. Plötzlich aber sprang er auf und ging mit langen Schritten davon.

Was hat er denn? dachte Percy verwirrt.

Als Tim am nächsten Tag nicht kam, stellte Percy fest, dass ihm die Trainingsstunde fehlte. Hatte er Tim geärgert? Irgendwann hatte Tim gesagt, sie müssten üben, bis Percy ihn auf die Matte werfen konnte. Er machte ein paar Liegestütze, um nicht aus der Form zu kommen.

Mrs Morris strahlte, als er an ihre Tür klopfte, und Darling führte einen seiner großen Freudentänze auf.

Zwei Tage später erkannte Percy, dass er sich an Tim gewöhnt hatte, nicht nur an das Training. Nicht, dass sie viel geredet hätten, eigentlich so gut wie gar nicht.

Der dicke John war höchst erstaunt, als er Percy im Vorübergehen ein Bein stellte und ihn in den Schwitzkasten nehmen wollte, sich aber gleich darauf auf dem Pflaster sitzend fand. Percy wartete nicht, bis er sich von seinem Erstaunen erholte.