Zu Hilfe!
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Da es ihr erstes Mal in Rosevale war, sah Coco neugierig aus dem Fenster, während sie die Prachtstraße der Stadt entlangfuhren, die schließlich an deren Wahrzeichen, der Liberty Fountain, vorbeiführte. Es war noch früh genug am Abend, dass man die Lichtspiele des Brunnens bewundern konnte, die erst kurz vor Mitternacht abgeschaltet wurden.
Sie senkte den Blick auf den Schirm des Navigationssystems in ihrem Smartphone, auf dem ein blinkender roter Punkt auf der Karte anzeigte, wo sie sich befand und eine karierte Fahne den Zielort markierte. Das Viertel wurde Botanical Quarter
genannt, wie Coco bereits wusste. Sie fand die Namensgebung der Straßen besonders charmant.
Vor dem Brunnen verliehen Blumen den Straßen Namen und gen Ende wurde das Viertel Tree Section
genannt, weil hier die Bezeichnungen von Bäumen die Straßennamen bildeten. Ihr Ziel war die Twinberry Nook
, sozusagen ein Schlupfloch, das nach einer kleinen Baumart benannt war, die Zwillingsbeeren trug.
In der kurzen Straße fanden sich kleinere Geschäfte Seite an Seite mit schmalen Wohnhäusern, die meist nicht mehr als zwei bis drei Etagen besaßen. Die Hausnummer 80 war ein weißes Gebäude, dessen Erdgeschoss älter als die zwei oberen Etagen waren. Das grenzte das Ladengeschäft auch optisch vom Wohnbereich ab.
Eighty Days Antiques
.
Coco kannte bisher nur Bilder davon, die ihr immer wie die Vorlage für eine Postkarte vorgekommen waren. Die weiße Eingangstür wurde von zwei Schaufenstern eingerahmt, die mit dekorativen Gittern gesichert waren. Die Fassade der weißgetünchten oberen Etage waren ebenfalls mit Ziergittern versehen, die sich entlang der Wandnähte und der Fenster zogen und sich hübsch von der hellen Farbe abhoben. Ein unglaublich idyllisches Bild.
Allerdings hätte sie erwartet, dass ein kleines Willkommenslicht brennen würde. Das Haus lag aber in völliger Dunkelheit, obwohl sie ihr Kommen angekündigt hatte. Niemand trat auf die Straße, um sie zu begrüßen, womit sie fest gerechnet hatte, weil sie über der angegebenen Zeit lag. Auf ihrem Handy war auch keine Nachricht von ihrem Gastgeber zu entdecken, was so gar nicht seine Art war. Coco runzelte die Stirn.
„Merkwürdig …“, murmelte sie und warf ihrem Fahrer nur einen flüchtigen Seitenblick zu.
„Un moment, s’il te plait
.“
Die paar Minuten würde Beau hoffentlich noch verschmerzen können.
Coco machte sich vom Gurt los und stieg aus dem Wagen, um sich dem Laden zu nähern und in den Windfang zu treten. Die weißgestrichene Ladentür war halb verglast, so dass sie ins Geschäft schauen konnte, aber dort war nichts zu entdecken. Zumindest ein Nachtlicht wäre zu erwarten gewesen. Unvermittelt hatte sie nach der Klinke gegriffen und fand die Tür unverschlossen vor, obwohl das Schild, das in der Mitte des Türfensters hing, closed
verkündete.
Sie schob die Tür auf und drückte sich durch den schmalen Spalt, der entstanden war, als wäre sie ein Dieb auf Beutezug. Hastig suchte sie die Taschenlampenfunktion ihres Telefons heraus und zuckte zusammen, als sie ein Scheppern vernahm und dann ein dumpfes Poltern. Nichts hielt sie mehr am Fleck und sie leuchtete sich einen Weg durch die schmalen Gassen der ausgestellten Waren, um den Geräuschen zu folgen. Ihr Herz schlug kräftiger, aber sie versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Sie dachte an einen Unfall oder ein Missgeschick, aber sicher nicht an das, was sie schlussendlich erwartete.
„Tonton
?“, flüsterte sie.
Der Lichtkegel streifte etwas Dunkles, dessen Form allerdings nicht starr war und somit kein Ausstellungsstück sein konnte. Es folgte ein Knurren, dann setzte der Schatten auf sie zu. Im Schein der Lampe blitzte es metallisch auf und Coco blieb nicht viel Zeit zu reagieren. Sie konnte gerade noch die Hände abwehrend anheben und die vorschnellende Hand abblocken. Sie stolperte und stürzte, da sie auf ihren hohen Absätzen kaum richtig Halt fand.
Die Luft wurde aus ihren Lungen gepresst, aber sie war so geistesgegenwärtig, die Beine zu heben und diese Füße voran mit aller Kraft in den Angreifer zu rammen, von dem nun ein animalisches Aufjaulen zu hören war. Das Messer fiel klirrend auf den Boden, weil es dem Mann aus den Fingern geglitten sein musste. Dieser trat den Rückzug an, während Coco über den Schmerz in ihrem Rücken hinwegzuatmen versuchte.
„TONTON!
“
Ihr gepeinigter Aufschrei durchzuckte die Stille des Ladens, der nun beinahe in totale Finsternis getaucht war, weil ihr Telefon auf das Display gefallen war. Coco rappelte sich auf und griff nach dem Handy, mit dem sie ihre Umgebung abscannte. Sie befand sich unweit einer Tür, hinter der der Flur liegen musste, der den Laden vom Bürobereich abteilte. Ein Aufstöhnen unterdrückend stellte sie sich auf die Füße und lief mit zitternden Knien über den Korridor auf das Zimmer zu, dessen Tür halb offenstand und in dem sie das Büro vermutete.
Es war nichts zu sehen, außer einem verlassenen Schreibtisch und den antiken Möbeln, die das Zimmer schmückten. Ganz automatisch streckte Coco die Hand aus und suchte an der Wand zu ihrer rechten einen Schalter. Sekunden später erhellte warmes Licht den Raum, in dem ihr zuerst wilde Unordnung ins Auge stach. Die Schreibtischplatte wirkte so, als hätte jemand in wütender Geste alles heruntergewischt, was darauf gelegen hatte. Ihr Blick glitt auf den Boden, was sie dazu veranlasste, einen entsetzten Laut auszustoßen.
„Non
!“
Coco wankte und stolperte ein paar Schritte nach vorne, wo die leblose Gestalt eines älteren Herrn lag, dessen altmodische Weste aufgeklappt war und einen riesigen roten Fleck auf dem Bauch enthüllte, der mit jedem Blinzeln größer zu werden schien, weil sein weißes Hemd davon durchtränkt wurde. Sie sank neben ihm auf die Knie.
„Onkel Phil!“
Panisch tastete sie nach seinem Puls und bemerkte zu ihrer Erleichterung, dass er noch schlug. Aber schwach, viel zu schwach.
Das Messer!
Sie konnte in der Blutlache das Zentrum der Wunde ausmachen, aus der weiterhin Blut quoll. Mit fiebrig glänzenden Augen sah sie sich um, konnte aber nichts entdecken, was ihr als Druckverband dienen könnte, also zerrte sie sich die Bluse vom Leib, knüllte sie zusammen und drückte sie auf die Wunde. Die erlesene Seide würde die Flüssigkeit wie ein Schwamm aufsaugen und hoffentlich den Blutfluss stoppen.
„Schon gut, tut mir leid, Onkel Phil. Aber wenn es wehtut, bist du noch bei mir!“, flüsterte ihm Coco zu, deren Miene einen heimgesuchten Ausdruck angenommen hatte, als der Verletzte ein gequältes Aufstöhnen von sich gab.
„AU SECOURS
!“, schrie sie wie von Sinnen.
„HILFE … ZU HILFE!“
Coco wagte nicht, den Druck, den sie auf die Wunde ausübte, zu verringern und nach ihrem Telefon zu suchen, das ihr aus den schwachen Fingern entglitten war, als sie den Verletzten am Boden liegend vorfand. Zudem sie sich hier nicht auskannte und nicht riskieren wollte, eine halbe Stunde auf den Notarzt zu warten, wenn es direkt in der Stadt einen Arzt geben sollte, der prompt zur Stelle sein konnte. Sie beugte sich über ihren Onkel und flüsterte ihm süße Worte zu, die ihn hoffentlich ins Bewusstsein holen würden.
Bitte lass ihn nicht zu viel Blut verloren haben … Bitte!
„HILFE! Ich brauche … HILFE!“
Coco hoffte, ihre aufgeregte Stimme würde weit genug tragen, dass Beau sie auf der Straße hören konnte. Wenn er ohne Abschied abgefahren sein sollte, steckte sie in großen Schwierigkeiten, aber diesen Gedanken schob sie trotzig beiseite. Er musste noch da sein.
Er musste!
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„Was …?“
Beau saß noch wie befohlen im Wagen und sah plötzlich eine dunkel gekleidete Gestalt aus dem Antiquitätengeschäft stürmen. Diese hatte so gar keine Ähnlichkeit mit Coco und außerdem hielt sie sich den Schritt, was zur geduckten Haltung ziemlich verdächtig wirkte. Genauer gesagt sogar sehr … beängstigend.
„HEY SIE!“
Er sprang aus dem Wagen und war drauf und dran, die Verfolgung aufzunehmen, als er die Schreie aus dem Geschäft hörte. Mit einem Fluch auf den Lippen rannte er hinein und musste sich im dunklen Ladenraum erst einmal orientieren, bevor er den Zugang zum Flur bemerkte, in dem das hell erleuchtete Büro lag. Gleich darauf schrie Coco noch mal aus Leibeskräften um Hilfe.
„Ich komme!“, rief Beau ihr zu und stürmte alarmiert dorthin, wo er sie vermutete.
Ein Blick genügte, um ihn auf der Stelle kehrtmachen zu lassen.
„Ich bin gleich wieder da! Bleib ganz ruhig, Frenchy!“
Beim Ausspruch ihres Namens war Beau schon wieder draußen bei seinem Wagen angelangt. Mit einer Hand öffnete er den Kofferraum und mit der anderen wählte er auf seinem Telefon den Notruf. Der Operator meldete sich nach dem dritten Klingeln. Beau gab ihm die Adresse durch und einen ungefähren Status davon, was und wem etwas passiert war. Dabei wühlte er zwischen Cocos Koffern nach dem Erste-Hilfe-Set, welches er immer dabeihatte. Der Operator versprach, sofort Hilfe zu schicken. Beau drängte darauf, dass sich die Sanitäter und die Sheriffs besser beeilten. Mit einer Bauchverletzung war nicht zu spaßen und das, was er in der Eile von Cocos schlanken Händen hatte ausmachen können, war bereits blutgetränkt gewesen.
Beau legte auf und rannte zurück ins Haus. Binnen Sekunden war er wieder bei Coco, die immer noch weinte und den Mann am Boden eindringlich darum bat, er möge sie nicht verlassen. Ein Verwandter vielleicht? Ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Er riss den Reißverschluss der roten, rechteckigen Tasche auf, deren Seiten mit einem weißen Kreuz versehen waren. Ein gezielter Griff und er hielt dicke Päckchen mit Kompressen in der Hand, die er geübt aufriss und zu einem Stapel aufeinanderlegte. Die Zeit schien trotzdem im Schneckentempo zu vergehen, bis er seine Hände mit den Kompressen über die von Coco legte und sie in sanft aber nachdrücklich genug darum bat, vorsichtig loszulassen.
„Ich mach das schon … lass mich das übernehmen, Frenchy … der Notarzt wird jeden Augenblick hier sein … ganz ruhig … ruhig … okay …“
„Non!
“
Coco atmete gehetzt. Sie hatte Angst, loszulassen. Für einen kurzen Moment weigerte sich jede Zelle ihres Körpers, in den Bemühungen nachzulassen, den Mann am Boden am Leben zu erhalten. Dann gab sie mit einem Aufseufzen nach.
Nun war Beau derjenige, der Druck auf die Blutung ausübte und endlich war Zeit genug, die Lage vollständig zu überblicken. Natürlich mit rasendem Verstand, der sich nur mit der fahlen Gesichtsfarbe des schwer verletzten Mannes und dessen blau werdenden Lippen beschäftigte und der halbnackten Frau neben sich gar keine Beachtung mehr zukommen ließ.
„Fühl seinen Puls, Coco … Los, mach schon!“, drängte er sie, nachdem nicht mehr als ein heiserer Laut über ihre Lippen kam.
Der kleine Rüffel sorgte dafür, dass sie nicht in Schockstarre verfiel und tat, was er sagte. Der Puls war immer noch da, wenn auch sehr viel flacher als in den Minuten, in denen Coco ihn gefunden hatte.
„Öffne seinen Mund und prüf, ob er noch atmet … Geh mit dem Kopf seitlich drüber … du fühlst es an deiner Wange … ja, gut so … gut!“
Beau versuchte, so gut es ging, die eigene Angst im Zaum zu halten und lächelte Coco aufmunternd zu, nachdem sie verkündet hatte, dass Atmung vorhanden war. Ein gutes Zeichen. Jetzt mussten sie nur noch dafür sorgen, dass er weiterhin Luft bekam.
„Überstreck seinen Kopf … Kinn nach oben … so ist gut … perfekt … du machst das super, Frenchy! Es wird alles wieder gut, hörst du? ‒ Wir schaffen das!“
Bezwingend sah er ihr in die Augen und versuchte ihr so, die nächste Welle des Schocks zu erleichtern.
„Merci
!“, bekam Coco mit erstickter Stimme heraus, die ihr nicht richtig gehorchen wollte.
Sie riss sich von dem eindringlichen Blick ihres Helfers los und streckte ihre nun mehr nackte Hand nach dem Gesicht des älteren Mannes aus, dessen Lider flatterten. Sie hatte die blutdurchtränkten Handschuhe ausgezogen und auf den Boden fallen lassen. Da ihre Hände sowieso verschmiert waren, machte sie sich keine Gedanken darum, ob jemand die verblassenden rötlichen Schnörkel auf ihren Handrücken erkennen würde, das sie nur bedeckte, weil der Anblick sie fuchsteufelswild machte.
Es war ein kompliziertes Hennamuster, das einen verzierten Kreis mit Ranken und Tupfen darstellte. Das konnte man ganz harmlos erklären, aber ihr war heute nicht danach gewesen, danach gefragt zu werden.
„Tonton … Je suis là
… Ich bin hier bei dir, ich lasse dich nicht gehen. Nicht auf diese Weise! Ich weiß, du bist stark wie ein Fels. Bleib hier bei mir, hörst du?“, flüsterte sie mit gebrochener Stimme und strich ihm zärtlich über die Stirn.
Ihre Augen weiteten sich in unfassbarer Erleichterung, als er die Lider hob und sie mit wässrigen grauen Augen ansah, als hätte er eine himmlische Erscheinung.
„Oh … meine … kleine … Spitzmaus.“
Seine Augen leuchteten auf und ein zittriges Lächeln umspielte den schmalen Mund, den ein sorgfältig getrimmter Schnauzer zierte.
„Oui … Tonton … C’est moi!
“
Coco lachte und weinte gleichzeitig und platzierte gehauchte Küsse auf das von ihr so hochverehrte Gesicht des älteren Mannes. Sie ließ ihn nicht eine Sekunde aus den Augen, während sie Beau neben sich kaum wahrzunehmen vermochte. Sie spürte nicht einmal die von einer Klimaanlage gekühlte Luft auf ihrer Haut, die sich mit einer Gänsehaut überzog und auch nicht das Rinnsal, das sich ihren Arm entlangschlängelte wie ein Reptil auf Beutefang. Ein dicker Tropfen erreichte die Malerei auf ihrer Hand und schuf eine gespenstische Verbindung, als hätte ihr Herz geblutet.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, als sie von draußen sich näherndes Sirenengeheul vernahm, das sie keinesfalls beruhigte. Allerdings wirbelte sie herum, als sie schwere Schritte vernahm und jemand das Büro betrat. Sie war, wie es in ihrem aufgewühlten Zustand nicht möglich schien, so schnell auf den Beinen, dass dem Fremden vorkommen musste, als hätte sie ein Trampolin benutzt. Sie stellte sich dem Mann in den Weg, der weder wie ein Polizist noch wie ein Nothelfer angezogen war, packte ihn am Schlafittchen und knurrte ihn böse an.
„Was wollen Sie?!“
Coco würde nicht zulassen, dass jemand Onkel Phil weiteren Schaden zufügte. Nur über ihre Leiche. Und Beau konnte ihr nicht helfen, weil er die Wunde zuhalten musste. Ein falsches Wort und sie würde versuchen, den größtmöglichen Schaden anzurichten.
„Ganz ruhig, Miss. Mein Name ist Dr. Blake Hamilton. Ich arbeite im Central Hospital und bin von der Bereitschaft alarmiert worden, dass hier ein Notfall vorliegt.“
Trotz der prekären Situation blieb Blake vollkommen Herr der Lage, während sich im Hintergrund die Sanitäter und die Sheriffs näherten.
Coco schnaubte erneut, weil das jeder behaupten könnte, aber der Mann sah nicht so aus, als würde er scherzen. Zudem hinter ihm die Kavallerie anrückte.
„Bitte treten Sie beiseite, damit ich helfen kann, Madam.“
Er erwiderte ihren Blick offen und freundlich, doch in der Sekunde, in der sie sich dafür entschied, sein Hemd loszulassen, war Blake völlig im Element des Ersthelfers. Die Nachhut war weniger geduldig und drängte sich mit dem gesamten Equipment in das kleine Büro, in dem Beau und Coco plötzlich nur noch eine Nebenrolle spielten.
Beau wurde von zwei bulligen Männern beiseitegedrängt, nachdem Dr. Hamilton ihn in aller Kürze begrüßt hatte. Der Scherz darüber, dass sich die ganzen Kurse in Erster Hilfe nun endlich mal gelohnt hatten, blieb ihm im Hals stecken, während er sich an Cocos Seite begab und mit ihr gemeinsam die surreale Szene vor ihnen beobachtete.
„Keine Sorge, Frenchy. Dr. Hamilton ist der Beste. Er kriegt das schon wieder hin.“
„Dein Wort in Gottes Ohr.“, murmelte Coco, die ihren Blick nicht vom Arzt nahm und jede seiner Bewegungen mit Argusaugen beobachtete.
Er schien sein Metier zu beherrschen, weshalb sie ihn gewähren ließ. Hier in der Fremde musste sie auf der Hut sein, hier ging es schließlich um Onkel Phils Wohlergehen.
Als Beau merkte, dass sie neben ihm fröstelte, zog er kurzerhand seine Sportjacke aus, um sie ihr über die Schultern zu legen. Coco versank beinahe darin, griff aber dankbar mit den Händen nach den Rändern, um den Stoff, in dem noch seine Körperwärme steckte, fester um sich zu ziehen.
„Merci bien.“
Coco hatte beinahe vergessen, dass sie nichts mehr am Leib trug als einen mehr enthüllenden denn bedeckenden Büstenhalter. Das Brennen in ihrem Oberarm ignorierte sie. Schmerzen mussten schon viel schlimmer sein, um von ihr wahrgenommen zu werden.
„Gern geschehen.“
Beau bemerkte nun auch die Bemalung an ihren Händen, wagte jedoch nicht, danach zu fragen, weil es ihm unpassend vorkam. Außerdem wurde der schwer verletzte Mann nun fertig für den Abtransport gemacht. Mit der Sauerstoffmaske auf den Lippen und den vielen Kabeln und Schläuchen, die nun überall aus ihm herausragten, war sich Beau plötzlich nicht mehr so sicher, ob er an seiner zuversichtlichen Prognose festhalten durfte.
Dr. Hamilton trat mit ernstem Blick auf sie zu und erwähnte nur das, was sie sowieso schon wussten. Der Zustand des Verletzten war kritisch, aber man würde alles tun, um den Mann zu retten. Das nächstgelegene Krankenhaus war das Central, dort würde man Mr. Gardner hinbringen und aufgrund der Schwere der Bauchverletzung sofort operieren.
„Bitte tun Sie Ihr Bestes!“, bat Coco vehement und musste sich davon abhalten, den Arzt zu packen und zu schütteln, damit er auch mitbekam, dass es ihr ernst war.
„Natürlich.“
Blake nickte und wandte sich dann wieder dem Verletzten zu, um keine weitere Sekunde wertvoller Zeit zu verlieren.
Mit blasser Miene sah Coco dabei zu, wie Onkel Phil abtransportiert wurde, aber in ihren Augen glomm die reine Mordlust. In Gedanken machte sie sich die größten Vorwürfe, nicht gleich ein Taxi gerufen zu haben, dann wäre sie hier gewesen, als …
„Wir haben die Tatwaffe gefunden, Sheriff. Sie lag im Ladenbereich auf dem Boden.“, verkündete ein Deputy, der das Corpus Delicti in einer durchsichtigen Tüte hochhielt.
Coco war auf ihn zugesprungen und hatte ihn am Handgelenk gepackt, bevor er auch nur blinzeln konnte. Er zuckte zusammen und starrte sie überrumpelt an.
Doch gleich darauf trat eine weitere sehr attraktive Frau in Uniform hinter ihnen auf den Plan, deren langes blondes Haar in einem geflochtenen Zopf gebändigt war, der über ihre linke Schulter baumelte. Sie strahlte eine gut wahrnehmbare natürliche Autorität aus, die niemand so leicht infrage stellte, wenn man es mit ihr zu tun bekam. Jedenfalls die, die gut daran taten, sie nicht zu unterschätzen.
„Mir wäre es recht, wenn Sie die Hände von meinem Deputy nehmen … Ich bin übrigens, Sheriff Masterson und der gute Doktor, der sich um Mr. Gardner kümmern wird, ist mein Mann. Und Sie sind …?“
Coco hob das Kinn in erhabener Geste an und tat nicht wie geheißen. Sie inspizierte das Messer mit schmal zusammengekniffenen Augen.
„Das ist ein gewöhnliches Jagdmesser, wie man es in jedem Supermarkt besorgen kann.“
Sie rümpfte die Nase und musste einen Fluch unterdrücken, weil sie damit nicht hoffen konnte, auf einen brauchbaren Hinweis zu stoßen. Sie hatte mehr einen Dolch erwartet.
„Miss …?!“, peitschte die Stimme des weiblichen Sheriffs durch den Raum, die den Deputy sofort strammstehen ließ.
Und auch Beau zuckte zusammen, obwohl er überhaupt nicht an der Szene beteiligt war.
Coco gab den angespannten Ordnungshüter frei und wandte sich mit einem schmalen Lächeln der jungen Frau zu, die in etwa ihre Größe haben musste, nur dass Coco hohe Absätze trug und sie deshalb überragte.
„Excusez-moi
, Sheriff Masterson. Mein Name ist Cosette LaFlamme und Mr. Gardner ist mein Patenonkel.“
Das ironisch liebenswürdige Lächeln bekam einen sarkastischen Zug, als es in den Augen der anderen flackerte.
„Das ist mein richtiger Name. Sie können gern in meinem Pass oder in meinem Führerschein nachsehen. Ich besitze auch einen, der vom amerikanischen DMV ausgestellt wurde.“
„Was Sie nicht sagen, Miss … LaFlamme.“
Der Sheriff zückte seinen Notizblock und nickte ihr auffordernd zu.
„Es wäre hilfreich, wenn Sie mir berichten könnten, was vorgefallen ist.“
Coco seufzte und sammelte ihre Gedanken kurz.
„Ich war mit Onkel Phil … meinem Patenonkel verabredet. Ich bin gestern aus Paris eingeflogen und habe die Nacht in Atlanta verbracht, weil ich mit einem Jetlag nicht mehr Auto fahren wollte. Ich habe heute einen Wagen gemietet … und der hat leider Schwierigkeiten gemacht. Ich habe es gerade noch zu Colton Mechanics geschafft und dort …“
Sie wies mit der Hand in die ungefähre Richtung, in der sie ihren Begleiter vermutete.
„… hat Beau angeboten, mich hierherzufahren, statt ein Taxi zu bemühen. Mr. Colton selbst wollte sich den Wagen ansehen.“
In knappen Worten fasste Coco die restlichen Vorkommnisse zusammen, die der Sheriff zackig in ihr Büchlein schrieb.
„Sie haben den Angreifer abgewehrt …?“
Der Sheriff hob den eindrucksvoll blauen Blick zu ihr an.
Coco schnaubte ungehalten. „So kann man das nicht nennen. Er stand plötzlich vor mir, ich habe gerade noch Metall aufblitzen sehen … Er stieß nach vorne … Alles andere war purer Instinkt. Wäre das alles? Ich möchte ins Krankenhaus fahren, um bei Onkel Phil sein zu können, wenn … Ich möchte dort sein!“
Ihre Augen blitzten warnend auf. Im Moment hatte sie das Gefühl, nur ihre Zeit zu verschwenden. Obwohl sie im Krankenhaus auch nur untätig herumsitzen würde.
„Solange Sie versprechen, die Stadt nicht heimlich, still und leise zu verlassen, Miss LaFlamme.“
Der Sheriff ließ sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen. Mit einem männlichen Kollegen hätte Coco leichtes Spiel gehabt. Der hätte ihr sofort aus der Hand gefressen.
„Ich werde meinen Patenonkel ganz sicher nicht schmählich im Stich lassen. Sie können also damit rechnen, dass ich die nächste Zeit in Rosevale verbringen werde. Meinetwegen können Sie meinen Pass konfiszieren, wenn Sie das beruhigt.“
Cocos Geduld war an einem prekären Punkt angelangt. Sonst hatte sie sich besser im Griff, aber hier ging es um einen der liebsten Menschen in ihrer Welt.
„Das wird nicht nötig sein. Ich wollte es nur erwähnt haben. Und wenn ich schon dabei bin, Mr. Dawson, kann ich Ihre Aussage auch gleich aufnehmen.“, wandte sich der Sheriff an Beau, den sie garantiert kannte, wenn man das provokant süße Lächeln um ihre Mundwinkel in Betracht zog.
Kurz wunderte sich Coco darüber, dass eine so hübsche Frau der Sheriff in dieser Stadt war. Mit ihrem Aussehen könnten ihr Legionen Männer zu Füßen liegen, aber sie hatte einen Arzt aus der Kleinstadt zum Mann gewählt. Coco vermutete eine interessante Geschichte dahinter. Aber das kümmerte sie im Moment nicht weiter. Sie verließ das Büro, durchquerte den Laden und trat auf die Straße, wo Beaus Auto noch stand.
Der Kofferraum war zum Glück nicht verschlossen. Coco machte sich an dem kleineren Trolley zu schaffen, den sie mit der richtigen Zahlenkombination zum Aufklappen brachte. Ungeduldig wühlte sie darin herum und zog schließlich einen leichten Pulli aus Cashmere aus dem Kleidungsstapel, den sie auf den verschlossenen Koffer warf, um die Jacke abzulegen, die nicht gerade praktisch war. Coco erschauerte, weil es ihr schien, als wäre ihr jegliche Körperwärme abhandengekommen.
„Ah, non! Sacrément!
“, fluchte sie ungehalten, als sie die Sauerei auf ihrem linken Unterarm bemerkte.
Ihr Blick wanderte ihren Arm entlang und blieb an einem blutenden Schnitt hängen. Die Klinge hatte sie also doch getroffen. Sie sah sich im Kofferraum um, konnte aber nichts finden, um das Blut damit fortzuwischen. Hier musste doch irgendwo ein Erste-Hilfe-Kasten herumliegen.
Coco schob ihren größeren Koffer beiseite und blinzelte angestrengt. Auch an ihr ging Stress leider nicht spurlos vorüber und hier in Rosevale hatte sie nicht mit dieser Art Ärger gerechnet. Der letzte war noch nicht komplett verarbeitet und sie leider kein Roboter, der nie eine Fehlfunktion hatte.
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„Ich habe ehrlich gesagt nicht viel gesehen, Rio.“
Beau erinnerte sich gerade noch rechtzeitig seine blutverschmierten Hände, bevor er sich damit durch die Haare fuhr.
Der intensive Geruch des Blutes bereitete ihm allmählich Übelkeit und der Drang, sich zu waschen zerrte merklich an seiner Geduld. Dann dachte er jedoch wieder an Coco und daran, was sie durchgemacht hatte. Das genügte, um ihn dazu zu bringen, sich zusammenzureißen.
„Sag einfach, was du gesehen hast, Beau. Man weiß bei solchen Sachen nie, was wichtig sein könnte.“, forderte ihn Rio auf, die nun nicht mehr ganz so offiziell tat, weil die Fremde sich entfernt hatte und sie mit Beau schon heiße Sohlen aufs Parkett des 10 Gallon Hat
gelegt hatte.
„Der Typ war schwarz gekleidet. Ziemlich groß, etwas größer als ich. Es war ein Mann, da bin ich sehr sicher. Nicht nur, weil er sich beim Wegrennen den Schritt gehalten hat. Ich wäre ihm hinterhergerannt, aber dann habe ich Frenchy … ich meine, Miss LaFlamme schreien gehört. – Ich bin in das Geschäft gerannt, hab sie Hilfe leistend bei ihrem Onkel gefunden und bin dann wieder raus, um meinen Erste-Hilfe-Kasten zu holen. Dabei habe ich den Notruf gewählt und die Lage geschildert. – Tut mir leid, Rio. Mehr kann ich dir ehrlich nicht sagen und jetzt sollte ich wirklich mal nach der Lady sehen. Wenn sie ins Krankenhaus will, sollte ich sie hinfahren.“
Nicht nur, weil er es Chaz versprochen hatte, sie sicher an jedes gewünschte Ziel zu bringen. Ihn plagte wegen seiner oberflächlichen Gedanken Coco gegenüber nun durchaus ein schlechtes Gewissen und die Sache mit ihrem Onkel hatte schlagartig dafür gesorgt, dass er sich dazu verpflichtet fühlte, sich um sie zu kümmern.
„Ja, das solltest du.“
Rio schenkte ihm ein beinahe amüsiertes Lächeln, weil Beau Dawson ganz bestimmt nicht nur aus reiner Selbstlosigkeit handelte.
Miss LaFlamme war ein heißer Feger, wie man ihm nicht alle Tage in Rosevale begegnete. Immerhin hatte sie einen Einbrecher vertrieben und ihrem Onkel Erste Hilfe geleistet. Nicht schlecht für den ersten Aufenthalt in der Kleinstadt.
„Du weißt ja, wo du mich finden kannst, falls du noch irgendetwas wissen möchtest.“
Beau nickte ihr verbindlich zu und Sheriff Masterson ließ ihn zum Glück passieren. Draußen auf der Straße empfing ihn angenehme Nachtluft, die den Duft des Blutes aus seiner Nase trieb. Coco stand an seinem Wagen und wühlte im Kofferraum.
„Suchst du was Bestimmtes?“, rief Beau ihr zu und lief die paar Schritte zu ihr rüber, um ihr möglicherweise zur Hand gehen zu können.
„Oui
... Ich hab's bestimmt gleich.“, murmelte Coco geistesabwesend.
Als Beau nah genug heran war und das Licht aus dem Kofferraum auf ihre nackte Haut fiel, sah er es.
„Oh Shit! Du bist ja auch verletzt.“
Ein etwa vier Zentimeter langer Schnitt verunstaltete ihren Oberarm und blutete. Nicht so stark wie die Bauchwunde ihres Onkels, aber auch nicht so, dass man ein Pflaster draufkleben könnte, um den Schaden zu beheben. Er vermutete, dass sie danach in einem ihrer Koffer gesucht hatte, in dem sie mit einer Hand gewühlt hatte, um den verletzten Arm nicht weiter zu belasten.
„Ich glaube, das sollte versorgt werden, bevor wir ins Krankenhaus fahren, Frenchy. Ich mach das gern, aber können wir uns hier vielleicht irgendwo waschen? Bis zu mir wäre es zu weit und mein Erste-Hilfe-Kasten ist sowieso noch drin im Laden.“
Er würde die Wunde verbinden können und wenn sie im Krankenhaus waren, dann würde er jemanden bitten, sich die Sache anzusehen. Vielleicht musste doch genäht werden und möglicherweise brauchte Frenchy eine Auffrischung ihrer Tetanusimpfung. Das würde auch eine gute Ablenkung bieten, während sie auf Nachrichten über ihren Onkel warteten.
„Das Blut!“, rief Coco aus und starrte auf ihre Hände, auf denen das Hennamuster sich mit den Schlieren getrockneten Blutes verband und irgendwie gruselig aussah.
„Ja, ich denke, wir könnten beide ein bisschen Wasser und Seife vertragen.“, gab Beau trocken, wenn auch mit leicht verzogener Miene, zurück.
Er wollte wirklich nicht allzu intensiv darüber nachdenken, weshalb seine Hände klebten.
„Tut mir leid, ich habe deine Jacke bestimmt ruiniert.“
Coco schenkte Beau ein zerknirschtes Lächeln und stopfte den Pulli zurück in ihren Trolley.
„Ach, das macht doch nichts.“
Beau zuckte mit den breiten Schultern, dann bemerkte er, dass sie wieder zu zittern begonnen hatte und fahrig im Kofferraum herumsuchte. Mit entschlossenem Griff gebot er ihr Einhalt.
„Hey, ganz ruhig, Frenchy. Lass uns zurück ins Haus gehen. Okay?“
„Du hast recht, es hat keinen Sinn, wenn ich den Kopf verliere. Onkel Phil nützt das wenig. Und er wird sich bestimmt mehr darüber freuen, wenn ich ihm frische Sachen ins Krankenhaus bringe, als wenn ich vollkommen derangiert bei ihm auftauche.“
Coco straffte die Schultern und wollte die Koffer nehmen, um sie ins Haus zu tragen, doch Beau kam ihr zuvor.
„Nicht mit deinem Arm!“
„Fein … nimm du sie. Folg mir nach oben, wir können grad nur durch den Laden ins Haus.“
„Kein Problem.“
Beau rieb sich die Hände, von denen rote Krümel abblätterten und auf den Boden der Straße fielen, bevor er sich die Koffer schnappte. Das gab ihm das Gefühl, etwas sauberer zu sein und die Situation für sie nicht noch schlimmer zu machen.
Coco gab den Weg vor, obwohl sie das Haus vorhin zum ersten Mal betreten hatte. Aber sie kannte Bilder und wusste, wo alles zu finden sein würde. Die Deputys und der Sheriff waren noch damit beschäftigt, im Büro Spuren zu sichern. Sie gab Bescheid, dass sie ihre Sachen in den privaten Bereich tragen würde. Bis dorthin war der Einbrecher offensichtlich nicht gekommen. Die weiße Eingangstür war zwar zugedrückt, aber nicht verschlossen. Onkel Phil hatte sie schließlich erwartet.
Sie betraten einen großzügigen Eingangsbereich, der früher Teil des Treppenhauses gewesen sein musste, weitere Stufen führten in die nächste Etage. Coco wusste, dass sich unten Küche, Wohnzimmer und Bibliothek befanden, während die Wohnräume eine Etage höher gelegen waren.
„Du kannst dir die Hände im Gäste-WC waschen. Dort sollte alles bereitliegen. Dort entlang, denke ich. Bisher kenne ich Onkel Phils Zuflucht nur von Bildern … Die Koffer kann ich dann tragen. – Danke.“
„Wenn du meinst ...“
Da Beau in dieser Situation kaum widersprechen konnte, ließ er sie wohl oder übel gewähren.
Coco nickte ihm zu und nahm die Koffer auf, um die Stufen nach oben zu nehmen. Es war nicht schwer, das Gästeschlafzimmer zu finden. Es begrüßte sie in hellen Farben und verspielten Schnörkeln, die ihr ein schwaches Lächeln auf die Lippen zauberten. Auf dem Nachttisch brannte eine kleine Lampe, die sanftes Licht verbreitete. Sie hielt sich aber nicht weiter mit Bewunderung auf, sondern rollte ihr Gepäck in Richtung einer alten Truhe, auf die sie den größeren Koffer wuchtete, um ihn aufzuklappen, nachdem sie die Kombination eingestellt hatte, die ihn sicherte.
Obwohl die Zeit drängte, lief sie ins Bad und schälte sich aus den wenigen Kleidungsstücken, die ihr noch geblieben waren, um in die Dusche zu steigen. Das Brennen der Wunde ignorierte sie geflissentlich. Es blutete zum Glück auch nicht zu stark nach. Inzwischen war es möglich, den Fluss mit ein paar Kosmetiktüchern zu stoppen. In ein Handtuch gewickelt lief sie in das Schlafzimmer ihres Patenonkels und fand im Bad Verbände und Pflaster, die sie anlegen konnte.
In seinem Schlafbereich sah sie in die Schränke und entdeckte die Tasche, die immer gepackt bereitstand, da Onkel Phil oft auf Reisen war. Darin befand sich alles, was ihr Patenonkel im Krankenhaus brauchen würde und frische Kleidung für den Moment der Entlassung.
Zurück in ihrem Gästezimmer überlegte Coco nicht lange, was sie anziehen sollte. Sie wählte elastische Sporthosen mit weitem Bein, ein enganliegendes Top und die dazugehörende Jacke. Alles Schwarz mit zwei goldenen Streifen an den Seiten und an den Ärmeln. Dazu auch die passenden Sportschuhe. Im Bad löste sie die zerzauste Frisur auf und kämmte die langen Haare aus, die ihren halben Rücken bedeckten. Sie schob die Masse mit einem schwarzen Haarband aus dem Gesicht und schminkte sich ab, da es grotesk wäre, die Nacht aufgetakelt an Onkel Phils Krankenbett zu verbringen. Sie schnappte sich ihre Brieftasche, ebenfalls ein goldschimmerndes Modell und begab sich samt Reisetasche nach unten, wo Beau bereits auf sie wartete.
Der staunte nicht schlecht, als er die völlige Veränderung ihres Äußeren registrierte. Frenchy sah zwar nicht weniger hinreißend, aber um einiges zugänglicher und verletzlicher aus. Er öffnete den Mund, um Coco danach zu fragen, wie es ihr und ihrem Arm ging, doch sie kam ihm zuvor.
„Tut mir leid, dass du warten musstest. Ich dachte, es ist vernünftiger, sich etwas Bequemes anzuziehen. Ich habe so schnell gemacht, wie ich konnte. Die Wunde ist auch versorgt.“
Coco schwieg beklommen und fühlte urplötzlich eine Welle von Erschöpfung aufsteigen, in der sie sich aufzulösen schien. Die Tasche glitt aus ihren Fingern und sie schwankte ein bisschen, obwohl sie gar keine Absätze mehr trug. Mit ängstlich aufgerissenen Augen sah sie zu Beau auf, dessen Gesicht das Einzige war, das sie noch wahrzunehmen vermochte.
„Hey ... alles klar?“
Beau schloss die Distanz zwischen ihnen und streckte die Arme nach ihr aus, weil sie plötzlich taumelte und dann gaben ihr auf einmal die Knie nach.
„Zut! Ah … Non!
“, begehrte Coco gegen die Schwäche auf, die sie sich nicht erlauben durfte.
„Ist schon okay. Ich hab dich, Frenchy.“
Coco landete an einer breiten Brust, die nicht nachzugeben schien. Erleichtert stieß sie ein Seufzen aus und barg das Gesicht an seiner starken Schulter. Sie zitterte vor Anstrengung, die Tränen aufzuhalten, die sie hinterrücks zu überfallen drohten.
„Alles wird wieder gut. Dein Onkel ist im Central in den besten Händen. Wir fahren jetzt zu ihm und dann wirst du sehen können, dass er bestimmt bald wieder in Ordnung kommt.“, flüsterte Beau ihr zu, während er in tröstender Absicht über ihren schlanken Rücken streichelte.
Nur langsam beruhigten sich Cocos Atemzüge, während ihr ein fremdes und doch beruhigendes Aroma in die Nase stieg. Das war wie eine Erlösung, weil sie auch nach der Dusche noch meinte, den Geruch des Blutes ihres Patenonkels in der Nase zu haben.
„Entschuldige bitte.“
Sie hatte sich versteift und war jäh vor ihm zurückgewichen, als ihr bewusst wurde, dass sie an einem ihr vollkommen Fremden lehnte, der kaum dafür zuständig war, sich um sie zu kümmern. Sie hatte ihm den Abend verdorben, es war schließlich Freitag und er hatte Pläne gehabt.
„Es gibt nichts zu entschuldigen.“
Beau zwang sich ebenfalls zu einer aufrechten Haltung. Es hätte ihm nicht so gefallen dürfen, sie zu halten. Er nahm einen tiefen Atemzug, der sein hart klopfendes Herz beruhigen sollte, doch Cocos heimgesuchter Ausdruck auf dem Gesicht trug nicht gerade dazu bei, sein Mütchen zu kühlen.
Es half aber, um ihn daran zu erinnern, dass er sich besser nicht zu der betörend unschuldigen Weiblichkeit hingezogen fühlte, die Coco in diesem Moment zur Schau stellte.
„Lass uns fahren, Frenchy. Je eher du ins Krankenhaus kommst, desto besser.“
„Ich … kann ein Taxi herbestellen … Du hast schon mehr getan, als man von dir erwarten darf, Beau.“
Coco war kaum als hilflos zu bezeichnen, aber sich vorzustellen, jetzt vollkommen allein mit ihrer Angst zu sein, ließ sie erneut erschauern. Dennoch durfte sie ihn nicht länger aufhalten.
„Ich garantiere dir, jeder andere hier hätte das Gleiche getan, Frenchy.“
Beau nickte bestimmt.
„Und ich fahr dich gern.“
Unter diesen Umständen sollte niemand allein sein. Sie war neu in der Stadt und kannte niemanden. Er war gerne bereit, ihr beizustehen und hätte sich im umgekehrten Fall dasselbe erhofft. Immerhin waren sie soeben Zeugen eines brutalen Überfalls geworden.
Um Coco keine Chance für weiteres Zögern zu geben, nahm Beau sie kurzerhand bei der Hand. So fiel ihr der Weg zu seinem Wagen vielleicht etwas leichter. Bei Colton mochte er sich noch dagegen gesträubt haben, sie irgendwohin zu bringen, doch nun wäre er wohl auch ans Ende der Welt gefahren, würde es dazu beitragen, dass es ihr oder ihrem Onkel besser ging. Das würde ihn nämlich auch von den schrecklichen Bildern in seinem Kopf ablenken, die ihn garantiert noch eine Weile heimsuchen würden.
Coco folgte ihm widerspruchslos, obwohl das kaum ihre Art war. Sie war nicht so gut darin, Hilfe anzunehmen, zumindest nicht außerhalb des ihr vertrauten Kreises. Beaus Beistand sollte ihr unangenehm sein, aber er hatte etwas an sich, das ihre sonstige kühle Abwehr zum Schmelzen brachte. Unter anderen Umständen hätte sie das vermutlich verstört und zum Rückzug bewogen.
„Ich bleibe solange bei dir, bis es Nachrichten von deinem Onkel gibt und ich fahre dich nachher auch gern wieder zurück in die Stadt.“
Diesmal hielt Beau ihr mit einem zuversichtlich gemeinten Lächeln die Beifahrertür auf und half ihr sogar beim Einsteigen, obwohl man sich bei der Höhe des Wagens bequem in den Sitz schwingen konnte.
„Danke ... C'est si gentil de vous
.“
Coco sagte das lieber auf Französisch, damit er keinen Widerspruch einlegen konnte. Seine Hilfe war nicht selbstverständlich. Die Fahrt allein angehen zu müssen, hätte sie vermutlich vor lauter Sorgen in den Wahnsinn getrieben. Sie war gut darin, die Nerven zu behalten, aber das hieß nicht, dass sie nicht heftige Gefühle durchlebte.
Dann kam der Moment, in dem Beau ihre Hand eigentlich loslassen sollte, doch er hielt ihre Finger weiterhin fest umschlossen. Fragend sah sie zu ihm auf und er hielt ihren Blick gefangen, obwohl er es eher so empfand, als würde er binnen weniger Sekunden in all den Emotionen in ihren Augen ertrinken.
„Es ist okay, Angst zu haben, weißt du. Aber ich bin sicher, es wird alles wieder gut, Coco. ‒ Dein Onkel schafft das. Er ist doch bestimmt zäh wie Schuhleder. Das wird schon. Und das Arschloch, das ihn überfallen hat, kriegen sie auch.“
Es sei denn, ich kriege ihn zuerst!
Cocos Augen sprühten vor Zorn, weil sie wusste, dass die Wahrscheinlichkeit dafür eher gering war. Sie hatte keine Zeit gehabt, verräterische Details wahrzunehmen und ihn leider nicht auffällig gezeichnet. Eine zerkratzte Visage wäre hilfreich gewesen. Wieder verwünschte sie ihre Verspätung.
„Ich hoffe es.“, presste sie hervor, um Beau nicht weiter zu beunruhigen.
Einen Moment lang erwiderte sie den tröstlichen Druck seiner Hand, dann machte sie sich frei. Sie schnallte sich an, um dann an ihrem Telefon zu hantieren und eine Nummer zu wählen. Es klingelte nicht lange, obwohl es ein interkontinentaler Anruf war.
„Bonsoir, Papa
.“, flüsterte Coco, als sich am anderen Ende der Leitung die tiefe Stimme ihres Vaters meldete.
Das genügte, um sie erneut emotional reagieren zu lassen, und sie blinzelte hektisch. In rasend schnellem Französisch berichtete sie über den Vorfall und dass sie auf dem Weg ins Krankenhaus unterwegs war. Es folgte eine sehr hitzige Diskussion, bei der sie heftig gestikulierte und auch unflätig fluchte, weil der innere Druck ein Ventil brauchte und das besser war, als in Tränen auszubrechen.
Ihr Vater durfte sich nicht beklagen, immerhin verdankte sie ihren blumigsten Wortschatz seinem Vorbild. Maman
wäre nicht begeistert, aber auch sie konnte ganz anders, als sie nach außen hin dringen ließ.
Beau war ebenfalls eingestiegen und startete den Motor, damit sie losfahren konnten. Sorgsam darauf achtend, nicht zu neugierig zu wirken, während Coco telefonierte, obwohl es unmöglich war, ihre Stimme auszublenden, konzentrierte er sich angestrengt auf den vor ihnen liegenden Weg, obwohl er immer wieder zusammenzuckte, wenn ihre Stimme lauter wurde.
„Non … pas seule …
“
Coco verzog den Mund zur Schnute und warf Beau am Steuer einen schiefen Blick zu, bevor sie ihrem Vater erklärte, in wessen Begleitung sie war.
„Comment?!
“
Sie gab einen empörten Laut von sich, tat dann aber wie geheißen.
„Hey ... was soll das?“
Beau fuhr fast auf den Grünstreifen auf, als ihn unverhofft etwas Warmes am Gesicht berührte.
„Dein Typ wird verlangt.“
Coco hielt ihm das Telefon ans Ohr und verdrehte die Augen gen Wagendecke, weil es typisch für ihren Vater war, sich so aufzuführen.
„Hallo ...?“
Beau wusste gar nicht, wie ihm geschah. Ihm blieb nichts anderes übrig, als Coco das Telefon abzunehmen, auch wenn das während der Fahrt eigentlich verboten war. Dabei berührten sich unweigerlich ihre Finger und das leichte Kribbeln, welches diese Berührung auslöste, ließ ihn erneut zusammenzucken. Auf der einen Seite wünschte er sich, dass diese Nacht schnell vorübergehen würde, doch auf der anderen Seite, wenn sich ihre Blicke trafen und er ihr förmlich all die unausgesprochenen Herausforderungen vom Gesicht ablesen konnte, wollte Beau das genaue Gegenteil.
„Hier spricht Beauford Dawson ...“
„Bonsoir, Beau ...
Hier spricht Cocos Vater … Ich wollte Ihnen gern persönlich für die Hilfe danken, die Sie Coco und Phil haben zukommen lassen. Das werden die LaFlammes Ihnen niemals vergessen. Wir stehen tief in Ihrer Schuld. Sollten Sie jemals Hilfe brauchen, wird meine Familie gern zur Stelle sein. Egal wie, egal wann. Je vous assure de ma profonde gratitude
.“
„Ah ... merci
?“
Das war nahezu das einzige Wort, das er auf Französisch sagen konnte, ohne einen Knoten in die Zunge zu kriegen.
Coco schenkte Beau ein schmales Lächeln und nahm das Telefon wieder an sich.
„Zufrieden? Der gute Mann ist nicht erfunden. Aber einen Bildbeweis verweigere ich. Ich gebe Details durch, sobald ich etwas von den Ärzten höre. Kannst du … Ich habe keine Ahnung, ob Sie mich hier ohne Beweise als Familienmitglied akzeptieren …“
Sie nickte ein paar Mal und bedankte sich dann bei ihrem Vater, um sich dann von ihm zu verabschieden.
„Bien …
das wäre erledigt. Entschuldige wegen Papa, wenn er sich aufregt, neigt er dazu, sehr … intensiv zu werden. Er wollte nur sichergehen, dass ich nicht selbst fahre. Du kannst übrigens ebenfalls meines tiefempfundenen Danks versichert sein. Das hat er vorhin zum Schluss gesagt. Er ist wie ich voll im Französisch-Modus und vergisst manchmal, dass ihn der Rest der Welt nicht immer versteht.“
Coco stieß ein erleichtertes Seufzen aus, da sie sich nun etwas besser fühlte, nachdem sie mit ihrem Vater gesprochen hatte. Er würde die nötigen Dokumente faxen, damit das Krankenhaus eine Abschrift in Händen hielt. Die LaFlammes waren die einzige Familie, die ihr Patenonkel besaß, auch wenn sie keine Blutsbande teilten.
Also hatte er vor langer Zeit eine Verfügung verfasst, die die medizinische Entscheidungsgewalt in die Hände der LaFlammes legte. In einem katholischen Land hätte vermutlich die Tatsache genügt, dass sie Phils Patenkind war, aber hier in der Gegend dürfte es eher Protestanten aller Art geben. Onkel Phil war auch ihr Ersatzgroßvater, weil sie die Eltern ihrer Mutter erst im Teenageralter kennengelernt hatte und die ihres Vaters längst verstorben waren.
„Wie gesagt, keine Ursache.“
Beau wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Die Art, wie sich Vater und Tochter LaFlamme bei ihm bedankten, überforderte ihn ziemlich. Schließlich war Beau nicht unbedingt freiwillig in diese Situation hineingeraten.
Jetzt war er natürlich froh darum, von Colton gedrängt worden zu sein, Coco zu fahren. Als hätte Chaz gewusst, dass tatsächlich irgendetwas passieren würde. Der Kerl hatte manchmal so eine vorausschauende Art an sich, die ihm eine Gänsehaut bescherte.
„Ich versuche, einfach das zu tun, was in dieser Situation richtig ist.“, fuhr er schließlich fort, nachdem sie weitere zwei Meilen zurückgelegt hatten.
„Wäre das mein Onkel gewesen, hättest du mir doch auch geholfen, nicht wahr?“
Das machte doch erst das soziale Miteinander aus. Sich gegenseitig zu helfen, wenn es erforderlich war. Nicht, dass Beau glaubte, ihren Vater jemals an das gegebene Versprechen erinnern zu müssen.
„Naturellement.
“
Coco sprach mit Nachdruck, obwohl sie in Gedanken ganz woanders war. Hilfeleistung wäre für sie selbstverständlich, soweit es in ihrer Macht stand.
„Er klang ganz schön autoritär am Telefon. – Dein Vater, meine ich.“
Beau fuhr in gemäßigtem Tempo die nächste Ausfahrt auf den Highway raus.
„Leben deine Eltern in Frankreich oder in Kanada?“
Coco warf ihm einen überraschten Blick zu und brach dann in leises Lachen aus, wobei sie ihm nachsichtig den Unterarm tätschelte.
„Möchtest du das wissen, um eine ausreichende Distanz zu Papa
sicherzustellen?“, neckte sie ihn und schenkte ihm ein spöttisches Lächeln, in dem trotzdem eine vertraute Wärme lag.
„Vielleicht?“
Beau tat ihr den Gefallen, lächelte vage und stellte eine zerknirschte Miene zur Schau, als wäre ihr Vater im Moment tatsächlich sein größtes Problem.
„Keine Sorge. Sein Bellen ist lauter als sein Biss schmerzhaft. Zumindest haben rechtschaffene und aufrechte Menschen nichts von ihm zu befürchten. Und im Moment liegt ein Ozean zwischen dir und ihm. Meine Eltern leben in Frankreich, in der Bourgogne
.“
Coco sah keine Veranlassung, das zu spezifizieren, weil sie das Gefühl hatte, Beau damit vor den Kopf zu stoßen. Immerhin hatte sie ihm ein Bild von sich vermittelt, das nicht ganz zutreffend war. Nicht dass sie eine Rolle spielte oder sich verkleidete, aber privates und öffentliches Auftreten waren bei ihr zwei verschiedene Dinge. Sie gab nicht gern etwas von sich preis, obwohl sie kaum einen verschlossenen Eindruck machte. Nur sah kaum jemand hinter eine strahlende Fassade, die mit ihrem Funkeln und Blitzen fesselte und ablenkte. Alles Absicht.
„Aha, gut zu wissen.“
Beau nickte, als wäre er nun sehr beruhigt. Dabei ahnte er einfach, dass Smalltalk nicht unbedingt Frenchys Ding war. Also schwieg er das letzte Stück des Weges und sorgte dafür, dass sie ihr Ziel sicher erreichen würden, damit Monsieur LaFlamme keinen Grund bekam, sein freundliches Angebot zurückzuziehen.
„Finalement!
“
Ungeduldig machte sich Coco vom Gurt los, als sie endlich am Krankenhaus vorfuhren, dessen Anblick ihre Nerven nicht gerade beruhigte.
Menschen gingen nur in Krankenhäuser, um zu sterben …
Sie erschauerte und stieß dann die Tür auf, um die Klinik durch die aufgleitenden Türen hindurch zu betreten, ohne sich nach Beau umzusehen, der bestimmt gut ohne sie zurechtkommen würde. Sie visierte die Schwester am Empfang an und trat dabei königlich und überzeugend auf, als würde sie innerlich nicht vor Angst vergehen. Reine Fassade. Es würde niemandem etwas nutzen, wenn sie sich in Tränen auflöste.
Sie füllte also Papiere aus und buchte ein Einzelzimmer für ihren Patenonkel, der sich noch im OP befand. Ihr Vater hatte die nötigen Papiere bereits geschickt, so dass die Formalitäten schnell erledigt waren. Die Schwester wies ihr den Weg zu einem ruhigen Warteraum, der den Angehörigen der Privatpatienten zugedacht war. Coco war froh um die Abgeschiedenheit des Zimmers, in dem ein paar Grünpflanzen in Kübeln für eine heimelige Atmosphäre sorgten. Sie verschmähte die Sitzgelegenheiten und tigerte vor einer Stuhlreihe entlang. Sie hatte verlangt, den zuständigen Arzt sofort sprechen zu wollen, wenn er die Operation beendet hatte.
Als Beau den Raum betrat, fokussierte sich ihr sturmumtoster Blick auf ihn, in dem die Emotionen einen trunkenen Reigen zu tanzen schienen. Da sie ihrem Vater nicht unähnlich war, suchten diese bereits einen Weg, sich zu entladen. Coco versuchte trotzdem, sich am Riemen zu reißen. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die schlichte Uhr an der Wand, deren Zeiger verrieten, dass keine Ewigkeit vergangen war, sondern nur eine Stunde.
„Willst du dich nicht setzen?“
Beau erschauerte unwillkürlich unter Cocos durchdringend intensivem Blick. Er kam sich vor wie ein Schuljunge, den man bei einer Missetat erwischt hatte. Dabei hatte er sich nur zu lange am Schwarzen Brett der Klinik aufgehalten und die dortigen Aushänge studiert, bis Frenchy die Angelegenheiten, die ihren Onkel betrafen, vorerst geklärt hatte.
Coco straffte ihre Schultern und zog einen eindrucksvollen Schmollmund.
„Ich hasse es, untätig zu sein!“
Ihre Augen blitzten aufgebracht, obwohl ihre Wut ganz sicher nicht auf ihn gerichtet war. Dennoch irritierte sein Anblick sie. Genau wie seine anhaltende Hilfsbereitschaft, auf die sie nicht angewiesen sein wollte.
„Du bist doch nicht untätig. Du kümmerst dich um deinen Onkel.“, erwiderte Beau bestürzt, obwohl er selbst dagegen ansah, nun eine längere Zeit in Ungewissheit warten zu müssen.
„Und du solltest dir gut überlegen, ob du deinen Freitagabend auf diese Weise verbringen möchtest, Beau. Du hast schon mehr getan, als man von einem Gentleman erwarten kann. Chaz wartet doch sicher auf dich und die eine oder andere Dame bestimmt auch.“
„Das spielt doch keine Rolle, Frenchy. Ich habe ihm schon eine Nachricht geschrieben, dass ich nicht komme.“, erwiderte Beau halbwegs empört, da er jetzt sicher nicht mehr losziehen und seinen Spaß haben konnte.
Seine Gedanken würden ihn immer wieder zurück an den Ort des Verbrechens und am Ende hierher zu ihr ziehen. Schließlich ging es um Leben und Tod und nicht um eine harmlose Erkältung, die sich ihr Onkel zugezogen hatte.
„Chaz wird das verstehen und die Ladys sind am nächsten Wochenende auch wieder da.“
Coco rümpfte ihre Nase und reckte ihr Kinn ein Stück höher, als wollte sie damit andeuten, dass es unter ihrer Würde war, den Anflug von Eifersucht zu verspüren, der zudem vollkommen unangebracht war. Der Mann war ihr doch absolut fremd und könnte bereits glücklich verheiratet sein.
Leider war er unbestreitbar attraktiv, was nicht allein an seinem guten Aussehen lag. Sein Gesicht war bemerkenswert in der Perfektion seiner ebenmäßigen Gesichtszüge. Aber was sich dahinter verbarg, war so viel verlockender. Sie wollte seine Seele anvisieren, als würde sie dort einen Schatz vermuten und ihren Freibeutergeist an ihm ausprobieren wollen.
Ihr Mund verzog sich zu einem urweiblichen Lächeln, während ihre Augen sich weiter erhitzten und eine Glut preisgaben, die von all den anderen Gefühlen nur weiter geschürt wurden. Ein paar katzenhafte Schritte und sie stand direkt vor ihm. Sanft legte sie ihre Hand auf seiner Brust ab, unter der sie einladende Wärme zu spüren bekam. Sie schlug die Augen zu ihm auf, die nun dunkel und verheißungsvoll wirkten, weil ihre Pupillen sich geweitet und die grünen Anteile ihrer Iris beinahe verdrängt hatten.
„Ich kann dir deine Unterstützung jetzt schon kaum noch vergelten … Beau …“, flüsterte sie in einem Ton, der den Verdacht aufkommen ließ, dass sich in ihrer Ahnenreihe ein paar Sirenen finden lassen würden.
„Was soll das denn heißen?“, fragte Beau leicht irritiert zurück und war hin und her gerissen, ob er ihre plötzliche Anschmiegsamkeit nun gut oder schlecht finden sollte.
„Ich stehe tief in deiner Schuld … Das kann ich nicht zulassen …“
Coco seufzte und schloss die Distanz zwischen ihnen mit einem letzten Schritt.
„Tausend Mal Danke!“
Und schon war sie auf die Zehenspitzen gegangen und hatte ihren Mund auf seine Lippen gepresst. Es sollte ein harmloser Abschiedskuss werden, damit er guten Gewissens seines Weges ziehen konnte. Aber sie hatte nicht mit der heftigen Entladung gerechnet, die das Berühren seines Mundes auslösen würde. Die Finger auf seiner Brust krümmten sich und krallten sich in den Stoff seines Oberteils, während ihr die Lider zufielen und sie sich anschickte, mit ihrer Zunge eine Grenze zu überschreiten, hinter der sie Explosionen und Feuerwerk erwartete.
Beaus Haltung versteifte sich. Mit vor Schreck weit geöffneten Augen starrte er auf Coco herunter, die sich wie eine wollüstige Katze an ihn schmiegte und sich dazu anschickte, seinen Mund für sich zu erobern. Natürlich hatte er sich schon selbst gefragt, wie es sein würde, diese herrlichen Lippen zu küssen, die sich warm und weich auf seine drückten. Er fühlte, wie die kleine Spitze ihrer tollkühnen Zunge um Einlass bat und sein Körper wurde binnen Sekunden zum Verräter. Beau schmolz dahin wie Wachs in der Sonne und gab ihr nach, als wäre das hier zwischen ihnen von Anfang an vorherbestimmt gewesen.
Aber das war es nicht. Sie war kein heißer Flirt, den er in einer Bar angefangen hatte und ein Kuss auf die Wange oder eine Umarmung aus Dankbarkeit hätten völlig gereicht. Es war überhaupt nicht nötig, sich auf diese Weise erkenntlich zu zeigen. So war er nicht gestrickt und wenn Frenchy bei Tageslicht noch einmal darüber nachdachte, was sie hier tat, dann würde sie es gewiss bereuen. Und Beau auch. Das war der Schock, der aus ihr sprach und das konnte er nicht zulassen. Mit beiden Händen stemmte er sich gegen Cocos Schultern und entzog ihr so abrupt seinen Mund, dass sie gar nicht wusste, wie ihr geschah.
„Comment ...?!
“
Coco starrte ihn ungläubig und vollkommen überrumpelt an. Ihr Mund wollte mehr, sie hatte nicht einmal den Hauch eines Schattens von ihm erfasst. Entschlossen streckte sie ihre Hand nach ihm aus.
„Lass das! Wir sind hier nicht in Frankreich. Du musst mir überhaupt nichts vergelten, Frenchy.“
Heftig gegen die eigenen niederen Instinkte seiner Männlichkeit kämpfend trat Beau schwer atmend mehrere Schritte zurück. Der Ausdruck in seinen grünbraunen Augen hatte dabei aus reinem Selbstschutz eine Härte angenommen, die nur selten darin zu finden war. Was auch immer sie sich von ihm erhofft hatte, würde sie nicht bekommen. Selbst wenn er ihr vielleicht sehr gerne alles von sich gegeben hätte, doch das widersprach absolut seinen Prinzipien. Zumindest in diesem Fall. Eine Situation wie diese durfte man einfach nicht ausnutzen.
„Wenn ich das aber möchte ...?“, presste Coco hervor, die noch nie erlebt hatte, rüde zurückgestoßen zu werden.
„Nein. Ich habe dir versprochen, das mit dir gemeinsam durchzustehen und so lange zu bleiben, bis wir Nachrichten von deinem Onkel haben und wissen, wie es weitergeht. – Für mich ist das selbstverständlich und ich erwarte keine Gegenleistung. Erst recht nicht auf diese Art und Weise. Es geht dir nicht gut. Du hast einen Schock erlitten und ich werde dir zuliebe gerne so tun, als wäre das eben nicht passiert. – Ich gehe jetzt und frag mal bei der Schwester nach, wie lange die OP noch dauern wird. Dann sag ich Colton noch mal direkt Bescheid, dass er heute nicht mehr mit mir rechnen kann und hole uns einen Kaffee. Möchtest du vielleicht einen Keks oder Schokolade dazu, um die Nerven zu beruhigen?“
Er würde sich wahrscheinlich gleich den halben Snackautomaten reinziehen, um sein wild klopfendes Herz und das rauschende Blut in seinen Adern wieder in Einklang mit seinem Verstand zu bringen. Sein Körper reagierte immer noch mit jeder Faser auf die erhaltene Zuwendung. Dafür schämte er sich und trotzdem nahm er Coco einmal mehr als die aufregend schöne Frau wahr, die ihm von der ersten Sekunde an unter die Haut gekrochen war.
Coco schnappte empört nach Luft und hätte ihm zu gern etwas Großes und Schweres an den Kopf geworfen, aber sie riss sich zusammen, weil sie sich schon genug Blöße gegeben hatte. Sie versteifte sich und nahm eine abweisende Körperhaltung an.
„Danke, nichts für mich. Mein Schock hält sich in Grenzen und es ist nicht nötig, ihn mit Schokolade zu behandeln.“
Sie schenkte ihm ein ironisches Lächeln und verspürte weiterhin große Lust, ihm eine Lektion in französischem Temperament zu erteilen.
„Ich meine es wirklich nur gut mit dir, Frenchy. Und jetzt geh ich mal und erkundige mich nach deinem Onkel.“, gab Beau bissig zurück.
Er hatte schon ein bisschen mehr Verständnis oder Reue erwartet, die es ihm leichter gemacht hätte, die Annäherung beiseitezuschieben.
„Tu, was du nicht lassen kannst. Eine Zeitangabe wirst du kaum erhalten. Allez-y
!“
Coco winkte ihn davon, als wäre er ein Bauer, der sich erdreistet hatte, bei der Königin vorzusprechen.
Sie zeigte ihm die kalte Schulter, indem sie sich abwandte und auf einem der gepolsterten Stühle Platz nahm, wo sie die Beine übereinanderschlug und nervös mit dem Fuß wippte. Sie verschränkte die Arme unter der Brust und zuckte leicht zusammen, als sie dabei ihren linken Oberarm mit der Hand umfasste. Sie hatte vergessen, dass sie verletzt war. Für die kurzen Momente des Kusses war sie vollkommen frei und unbeschwert gewesen.
In ihrem Magen flatterte es, obwohl sie nicht vorhatte, sich von etwas beeindruckt zu zeigen, was Beau fortgewischt hatte, als wäre es gar nichts gewesen. Ihre Lippen prickelten nach und sie schmeckte eine Süßigkeit auf ihrer Zunge, die ihre Nerven sehr viel besser besänftigen würde als schnöde Schokolade.
Was wäre besser dafür geeignet als der unschuldige Kuss eines süßen Jungen, der keinerlei Bedrohung darstellte?
„So eine ... Zicke.“, murmelte Beau wütend, während er den Raum verließ und sich dabei fragte, ob es geholfen hätte, Coco gleich an Ort und Stelle übers Knie zu legen, damit sie wieder zur Besinnung kam.
Er wusste, dass er vollkommen richtig mit seiner Zurückweisung gehandelt hatte. Und sie konnte von Glück sagen, dass er leider Gottes ein Mann war, der immer zu seinem Wort stand, auch wenn es ihn persönlich den letzten Nerv kosten sollte.
Cocos Miene verdüsterte sich, als sie die Tür ins Schloss fallen hörte. Sie wünschte ihn zum Teufel. Sie brauchte ihn nicht, sie war stark und kam immer allein zurecht. Kein Mann wäre jemals in der Lage, ihr Zuspruch oder Trost zu spenden. Mit der glorreichen Ausnahme ihres Vaters.
Eine leise spöttische Stimme in den Untiefen ihres Kopfes wisperte, dass Beau sie bereits erfolgreich auf andere Gedanken gebracht hatte. Schon zwei Mal. Sie gab ein ungnädiges Schnauben von sich und wischte auf ihrem Telefon herum, um sich mit Nachrichten aus aller Welt abzulenken. Nur über ihre Leiche würde sie einen weiteren Gedanken an einen Kerl verschwenden, der sie verschmäht hatte. Das hatte sie nicht nötig. Cosette LaFlamme würde niemals einem Mann auch nur eine einzige Träne nachweinen.
Jamais!