Kapitel Fünf

Avery

D er Tag war intensiv gewesen. Intensiver, als Avery sich das überhaupt hatte vorstellen können. Er war mehr als ausgelaugt.

Jenseits von erschöpft.

Am Ende.

Er hatte kaum die Tür zu seiner Wohnung geöffnet, als er bereits anfing, sich auszuziehen. Zuerst den Blazer, dann die enge Krawatte. Erst als er sich aus seinem maßgeschneiderten Hemd und seiner Hose befreit hatte, hatte er das Gefühl, endlich wieder atmen zu können.

An einem normalen Tag würde er es auf die Wüstenhitze schieben. Aber er wusste, dass sein Anfall von Melancholie nichts mit der Außentemperatur zu tun hatte. Nur mit T-Shirt und Boxershorts bekleidet, sank er auf das Plüschsofa und starrte durch das große Wohnzimmer. Seine weggeworfene Kleidung sorgte für den einzigen Farbspritzer in dem ansonsten spärlich eingerichteten Raum, den er zu Hause nannte, wenn er in Las Vegas war. Er war normalerweise immer nur für ein paar Nächte am Stück in der Stadt, daher hatte er nie wirklich darauf geachtet, wie leblos die Wohnung war.

Oder wie still.

Er dachte darüber nach, den Fernseher einzuschalten, zumindest wegen einiger Hintergrundgeräusche, konnte sich aber nicht dazu aufraffen. Was war der Sinn? Er sollte sich wahrscheinlich etwas zu essen machen – zumindest etwas in der Mikrowelle –, aber er hatte keinen Hunger. Sein Appetit war verschwunden, bevor sie es überhaupt ins Restaurant geschafft hatten.

Er hatte nur eine Sache – eine Person – im Kopf, und er konnte nicht verstehen, warum das ihn so aufwühlte.

Er war sich seiner Sache sicher gewesen, als er in die Bar ging, um nach Danny zu suchen. Na klar, er hatte geplant, sich zu entschuldigen, aber er hatte sich schon wegen seiner Idee innerlich auf die Schulter geklopft. Nur war er nicht auf Dannys Reaktion vorbereitet gewesen. Bei Weitem nicht.

Avery dachte, er könnte seinen Plan wie ein Geschäft vorschlagen und abschließen. Er hatte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass Danny zögern würde, ihm zuzustimmen. Schließlich war es auch in Dannys bestem Interesse, genauso wie das von Avery. Sie waren bereits seit zwei Jahren verheiratet und keiner von ihnen hatte davon profitiert. Averys Plan schien wie eine Win/Win-Situation. Zumindest hatte er das vorher gedacht.

Die Realität war ganz anders. Danny wiederzusehen, hatte einige alte Gefühle hervorgerufen, von denen er dachte, sie wären an dem Tag begraben worden, als er das Hotelzimmer verlassen hatte. Am Tag nach ihrer Hochzeit. Aber darüber hinaus war sich Avery nicht ganz sicher, ob er bereit war, sich damit auseinanderzusetzen, was es über seinen Charakter aussagte, dass er Danny die Ehe die ganze Zeit verschwiegen hatte. Er hatte es aber nicht getan, um Danny zu schaden. Und wenn seine Absichten nicht schlecht gewesen waren, machte ihn das dann immer noch zu einem schlechten Menschen?

Von der anderen Seite des Raumes hörte er sein Telefon klingeln.

Der plötzliche Lärm erschreckte ihn, aber sein Herz begann auch aus einem anderen Grund schnell zu schlagen. Was, wenn es Danny war, der anrief? Avery war wirklich nicht in der Lage, Runde zwei ihres Restaurantgesprächs zu führen. Noch nicht. Und er war definitiv nicht bereit, eine Abfuhr von Danny zu erhalten.

"Scheiße", murmelte er laut und hatte plötzlich Zweifel an seinem Plan. Wenn er nicht einmal seine Emotionen in den Griff bekam, wie sollte er dann seine Ehe als etwas anderes als eine Scheinehe verkaufen? Sein Großvater würde es sofort durchschauen. Die Zeitungen hätten einen großen Tag. Er wäre ruiniert.

Avery ging durch den Raum und versuchte, seine Angst unter Kontrolle zu bekommen, als er das Telefon aus seiner Hosentasche holte. Er warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm, halb voller Vorfreude und halb vor Angst vor der Nachricht, die er dort sehen würde.

Aber es war nicht Danny gewesen, obwohl Avery nicht sicher war, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Es war Christian, ein Ex, mit dem er gut genug zurechtkam. Sie beide trafen sich gelegentlich für Sex, wenn er in Vegas war.

Ich dachte, du würdest anrufen, wenn du in der Stadt bist. Ich hatte wirklich gehofft, dass wir uns heute Abend treffen ...

Fuck.

Er hatte den ganzen Nachmittag über Danny nachgedacht, sodass er völlig vergessen hatte, Christian anzurufen. Ein Versehen, das sein Ex ihm nicht so schnell verzeihen würde.

Christians kontrollierende Persönlichkeit und sein anspruchsvolles Temperament waren einer der vielen Gründe, warum die Dinge zwischen den beiden nicht funktioniert hatten. Aber der Sex war gut gewesen und er zog es vor, sich für Sex mit seinem Ex zu treffen – und außerdem war es bequemer –, als einen Fremden mit einer App zu finden.

Avery dachte darüber nach, die Textnachricht einfach zu ignorieren, aber er kannte Christian gut genug, um zu wissen, dass das nicht funktionierte. Er wusste aus früheren Erfahrungen, dass der andere Mann einfach vor Averys Tür stehen würde, wenn er keine zufriedenstellende Antwort erhielt.

Und er hatte Christian gesagt, dass er ihn anrufen würde. Er hatte nur nicht geplant, stattdessen mit Danny zu reden.

Mit einem Seufzer tippte er eine schnelle Antwort.

Entschuldigung. Die Zeit ist viel zu schnell vergangen. Vielleicht ein anderes Mal. Ich gehe heute Abend nur noch ins Bett.

Christian würde zweifellos sauer sein, aber was auch immer. Er war schließlich Averys Ex-Freund, und obwohl Christian wahrscheinlich anderer Meinung war, schuldete Avery ihm keine Erklärung. Und außerdem hatte er Christian hauptsächlich die Wahrheit gesagt.

Er wollte gerade ins Bett gehen. Er wollte keine Gesellschaft. Er wollte keine Verabredung. Sex wäre vielleicht gut für den Stressabbau, aber es schien einfach so hohl.

Das Einzige, woran er dachte, war Danny.

Avery brauchte einen Anruf von Danny, in dem er zustimmte, verheiratet zu bleiben -–zumindest für ein paar Monate. Aber er fragte sich, ob er alles falsch eingeschätzt hatte. Danny schien von der Idee nicht begeistert zu sein – im Gegenteil. Und er schien sich nicht einmal besonders für das Geld zu interessieren. Und das hatte Avery wirklich überrascht.

Avery hatte eine einfache Geschäftsbeziehung erwartet. Aber statt Dollarzeichen in Dannys Augen hatte er Schmerzen, Verletzungen und alte Gefühle entdeckt, die Avery überrascht hatten. Alte Gefühle, die die gleichen waren, die Avery versucht hatte zu begraben.

Avery schloss die Augen.

Diese Sache musste funktionieren. Vielleicht konnte er die Dinge mit Danny in Ordnung bringen oder sich zumindest noch einmal für die Schmerzen entschuldigen, die er verursacht hatte. Vielleicht konnten sie sogar die Vergangenheit hinter sich lassen und als Freunde weitermachen. Oder so etwas wie Freunde. Er hoffte, dass das trotzdem möglich war. Aber wenn Danny nicht noch einmal mit ihm sprechen wollte, wüsste Avery nicht, was er tun sollte.

Wenn Danny nicht durch Geld zu motivieren war, wusste Avery nicht, was er sonst noch anbieten konnte.

* * *