Jetzt kommt wieder die Drachenzeit, hatte mein Vater zum Herbst gesagt, als wir vor Jahren die Rundstäbe auf das Seidenpapier geklebt hatten und später, um die Drachen fliegen zu lassen, den Hang hinuntergerannt sind. Mein Vater war der Erste, der sich meine Theaterstücke angesehen hat und danach seine senfgelben Ärmel hochschob und sagte, schau, schon Gänsehaut.
Jetzt kommt wieder die Drachenzeit, hatte mein Vater gemeint, als er monatelang versuchte, in dem Spalt zwischen den beiden Matratzen zu versinken, jetzt sind die Drachen da, wusste ich dann, nur nicht die bunten.
Meine Hand tastete die Kirchenbank entlang, über den kalten Kleiderhaken und dann zum Schoß meiner Mutter, die unsere Finger zusammenpresste. Siehst du, fragte ich meinen Vater, wo du jetzt gerade fehlst. Irgendwann hielt ich es drinnen nicht mehr aus, weil meine Mutter nicht aufhören konnte zu weinen und weil ich mich die ganze Zeit für all die leer gebliebenen Bänke rechtfertigen wollte, aber nicht wusste, vor wem, und weil ich ahnte, dass Alex schon längst vor der Tür saß und mir eine Zigarette anbieten würde. Draußen beobachteten wir, was abbrannte und was übrig blieb. Ich dachte an den senfgelben Ärmel meines Vaters, was meine Sprache unter seiner Haut angerichtet hatte und wo ich sie jetzt suchen gehen sollte.
Eine blasse Hand legte sich auf meinen Arm, und Fede kauerte sich neben mich. Die Haare trug er seit ein paar Monaten kurz und aschblond, und das Piercing an seiner Nase war noch rot, aber er sah nicht härter aus als früher, auch wenn ich ihm das gesagt hatte, er sah aus wie ein schüchterner Junge mit einem Stück Metall im Gesicht. Ihr zieht nach Wien, fragte Fede.
Ja, schniefte ich, Alex und ich haben das letzte Woche zusammen geplant, und wir wussten ja nicht, das kam jetzt alles doch schneller, als erwartet.
Ich habe dich gar nicht gesehen, sagte ich zu und er drückte meinen Arm. Meine Mutter wollte sich lieber etwas weiter nach hinten setzen, um die vorderen Reihen freizulassen, sagte er leise, ich bin da, falls du mich brauchst.
Ich weiß, sagte ich, und trotzdem war mir seine Hand zu schwer, und ich schob sie sanft weg, später, sagte ich.
Klar, sagte Fede, tut mir so leid für deine Mutter und dich, und weil ich darauf nicht antworten konnte, las ich den Aufdruck der Zigarettenschachtel laut vor. Rauchen kann ihre ungeborenen Kinder töten, Alex sagte: Win-Win, Fede lachte, und ich schaute erst weg und rückte dann an Alex’ Seite, schob mein Gesicht in seinen Anorak, atmete in seinen Oberarm und beobachtete seine Nasenspitze. Ich muss mal kurz spazieren gehen, Alex, sagte ich, kommst du mit. Wir hatten September, und ich fühlte mich durchsichtig, die Blätter klebten an den Bäumen, bunt, schwerer als Seidenpapier.
Alex schüttelte nur den Kopf und sah zu Boden. Ich drückte meine Zigarette aus.
Ich weiß nicht, ob es seine Stirnfransen waren und die Lachfalten um seine Augen oder die Orgelmusik und der Aschenbecher, aber plötzlich wollte ich von ihm in die Hand genommen, ausgestreut, eingerollt und inhaliert werden.
Kommst du, fragte ich noch mal, und danach sah ich ihn so lange an, bis er langsam aufstand und sagte, ja.
Wir gingen hinter die Kirche, und er drückte seinen Zigarettenstummel zwischen meine Beine und den Rauch zurück in meine Lunge, er presste seinen Filter zwischen meine Lippen, er wickelte mich ein, er strich mich glatt.
Das war nicht in Ordnung, sagte ich ihm später, als wir den Trauerzug einholten, der gerade auf dem Weg zum ausgehobenen Grab war.
Was, fragte er.
Das, sagte ich und drückte seine Hand.
Als er sie mir entzog und ich sagte, so schlimm wäre das nicht gewesen, da war es schon zu spät.
Jetzt ist wieder Drachenzeit, sagte ich zur Schaufel und zum Sand. Meine Mutter drückte meine Schulter, möchtest du meinen Schal, fragte sie mich, und wir fragten uns am Grab und später in der Gaststätte und dann auf dem Parkplatz noch mal, wann es endlich aufhören würde zu regnen und wann es anfangen würde zu schneien und wann danach der Sommer kommen würde, damit es wieder warm werden würde, oder so etwas Ähnliches.
Du möchtest jetzt sicher alleine sein, sagte Alex später, als wir mit seinem alten Volvo schon in der Garage standen, aber keiner von uns die Tür öffnete, deine Mutter braucht dich doch.
Ja, sagte ich und dachte an meinen Vater.
Dass es das Gegenteil von unserem Schweigen gegeben haben musste, unsere zusammen verbrachten Tage, wie viele Stunden, und wer würde davon jetzt noch wissen wollen.
An was denkst du, fragte Alex.
Ich denke, sagte ich, es war heute, und dabei fiel mir kein Wort mehr ein, also dachte ich an Alex’ Daumen, an die Innenseite. Und an seine Handflächen, unter denen ich ausatmen konnte.
Was, fragte er, und ich blickte nur auf das Garnichts vor der Windschutzscheibe, wie konnte es sein, dass sich die Bilder zwischen uns nicht übersetzten, die aufgeschüttete Erde, der nasse Asphalt, die steifen Kissen, die blauen Adern auf den Handrücken meiner Mutter und die absolute Schwärze.
Kannst du mich nach unten drücken, fragte ich Alex später im Dunkeln, kannst du deine Hand bitte, und er drehte mich auf den Bauch und schob seine Faust an meiner Wirbelsäule entlang, so, fragte er, und ich sagte, fester. Meine Beckenknochen drückten sich in die Matratze.
So, fragte er, und ich sagte, noch mehr, und dann, bleib da, weil ich nicht wusste, wo er noch hingreifen konnte, damit es aufhörte.
Was soll aufhören, fragte er, und ich sagte, probiere es mal so, bis er mit seiner Hand mein Gesicht ins Kissen presste und ich meinte, besser.