Bist du jetzt wirklich vegan, fragt Fede, während ich ihn an den Menschen auf dem Teppich vorbei in Richtung der Sofas leite. Er setzt sich auf das glatte Leder, das Glas mit den Würstchen fest zwischen beiden Händen wie eine Andachtskerze, sind das etwa alle Veganer, fragt er irritiert.
Ja, sage ich, aber nur manchmal, bei Würstchen kann ich doch nicht widerstehen.
Ehrlich, fragt Fede, und weil er immer noch unsicher aussieht, sage ich, klar, gib mir mal eins.
Wirklich, er schaut mich verwirrt an, jetzt?
Ich hab Hunger, sage ich, du nicht.
Doch, sagt er, eigentlich hab ich mich den ganzen Tag schon drauf gefreut. Fede lacht und angelt sich zwei Würstchen aus der klaren Flüssigkeit. Ich bin froh, dass du da bist, sage ich, und ich hoffe, es ist in Ordnung, dass wir gleich hierhergekommen sind.
Klar, sagt er, ich hatte sowieso einen Schlafsack eingepackt. Bevor er den ersten Bissen nimmt, prostet er mir noch mal mit dem Würstchen zu, er schaut mir dabei tief in die Augen, ich bin in drei Läden gerannt, um die richtigen zu erwischen.
Danke, sage ich, die hab ich echt vermisst.
Na, dann, sagt er, lass es dir schmecken.
Wenn wir zu zweit miteinander reden, verfallen Fede und ich wieder in den Dialekt, in dem man früher viele Sachen gar nicht und andere gut aussprechen konnte.
Boys will be boys wurde früher im Dorf von den Lehrerinnen oft gesagt, aber die Jungs, die wir kannten, waren noch nie die Jungs gewesen, die sie hätten bleiben sollen. Das Wort heiraten konnte man als Synonym für noch mal die Kurve kriegen verwenden. Das Wort halbstark hing ein Jahrzehnt über unseren Köpfen, obwohl die Gläser immer halb leer waren und man es gewohnt war, in allen Dingen das Defizit zu sehen, nur in uns wollte man das Halbstarke erkennen. Wir fühlten uns falsch verstanden, und das nannte man den Generationenkonflikt.
Erinnerst du dich daran, dass wir fast gleichzeitig mit Joni und Alex zusammengekommen sind, fragt er mich. Ich antworte, dass ich mich kaum noch an Joni erinnere, dass ich mich besser an alles andere erinnere als an ihn, zum Beispiel daran, dass die Blumenmesser am Anfang der Saison noch wirklich scharf waren.
Bei Fede und mir hat alles mit Fleisch von glücklichen Tieren angefangen und mit seiner Mutter, die Hack knetete und die Eier an der Schüssel immer so aufschlug, dass die Schale splitterte. Sie musste den Ehering abstreifen, um mit ihren nackten Händen in das feuchte Fleisch zu greifen, um das Ei zu verquirlen und die Masse mit den Fingern zu kneten und zu formen.
Fedes Vater hat früher nie viel gesprochen, nur einmal hat er sich während des Autofahrens zu uns auf der Rückbank umgedreht und laut gesagt, es tut mir leid, dass das nichts geworden ist mit der Idylle. An den Satz denke ich öfter.
Die Würstchen erinnern mich an die Zeit am Baggersee, in der wir die Wale retten wollten und dann doch nur fast gleichzeitig zum ersten Mal geküsst wurden, zwischen der Minipille und den Plastikverschlüssen der aufblasbaren Badebälle und der Sonnencreme, die uns an den Fingern klebte.
Das dort war schön, aber ich vermisse die Sommer nicht und meide die Erinnerung an das Leck in uns, das wir circa ab dem gleichen Monat nicht mehr schließen konnten. Wir kaperten uns am Baggersee, wir fingerten nach den Perlen der anderen und pressten dabei ihre Holzbretter nach oben, nur um mal reinzugucken.
Das Fleisch schmeckt nach nichts und nach Kindheit. Ich denke, dass entweder mit ihm alles angefangen hat oder damit, dass Fede zum Abendessen nach Hause musste und seine Mutter dann von dem Metzger ihres Vertrauens schwärmte und Fedes Vater die Küche verließ und sie die Frikadellen schweigend gegessen haben.
Ich streiche über den Lederbezug des Sofas, nicht nett von uns, denke ich, aber gut, der Typ, der vorher in den Kühlschrank gerülpst hatte, dreht sich vom Teppich aus in unsere Richtung und fragt, ob er auch eine haben kann.
Das ist aber kein Tofu, sage ich.
Ach so, sagt er, na, komm, weil heute Silvester ist.
Ich angle ihm eine Wurst aus dem Glas. Ich nehme auch noch eine, sage ich zu Fede, weil ich die Verpackung gleich im Altglas vergraben möchte, bevor der Abend hier anfängt.
Ich war auch noch nicht so oft bei Marie daheim, sage ich und beuge mich vor, damit Fede aufhört, die Signaturen auf den Bildern an der Wand gegenüber anzustarren, während er stumm an seiner Wurst rumkaut.
Fede atmet tief ein, gehen wir morgen zu dir, fragt er dann und atmet langsam wieder aus, ich möchte unbedingt eure Wohnung sehen.
Auf jeden, sage ich, allerdings habe ich mich heute Morgen ausgesperrt.
Shit, sagt Fede, wie das. Er grinst mich an, du bist immer noch die alte, Anna, sagt er. Ich schlinge die Wurst hinunter, fünf Bisse, ich schäme mich dafür, Wurst zu essen, ich schäme mich auch dafür, dass ich joggenden Menschen immer auf die Beine schaue, um zu sehen, ob sie es nötig haben.
Irgendwie, sage ich, aber heute ist die Nacht. Heute sind wir hier. Und Marie ist das alles nicht so wichtig, wie sie tut.
Was denn, fragt Fede.
Keine Ahnung, sage ich, das Klavier zum Beispiel.
Das ist ein Steinway, erwidert Fede trocken.
Die Bilder auf dem Steinway zeigen Marie und Samir in der Grundschule, im Zoo und beim Abitur, seitdem sind ein paar ungerahmte Jahre vergangen, die in den Highlights auf Instagram zu finden sind. Auf den Fotos sieht sich Marie selbst immer noch ähnlich, nur dass ihre ausladenden Hände und ihre Handflächen heute den anderen im Gespräch immer einklammern möchten.
Samir hatte in der achten Klasse einen matschigen Körper und ein Gesicht wie Tauwetter, erst beim Abi saß sein Blick, dunkle Locken, definierte Schultern, kantiges Lächeln, jetzt wieder gefroren.
Wenn Fede und ich letztes Jahr telefonierten, dann ging es meistens um Frankfurt oder Wien und um die Unikurse und darum, dass wir uns unbedingt mal besuchen kommen sollten. Immer war es ungelegen, und ab Oktober brauchte ich länger zum Antworten oder schickte nur Bilder. Im Dezember meinte Fede, jetzt müssen wir das doch endlich mal festmachen, mit dem Besuchenkommen, jetzt sag mal, wann es dir passt, was ist mit Silvester?
Gut ist Silvester, sagte ich und glaubte es mir nach ein paar Minuten selbst, weil Silvester vielleicht auch ein Zeitraum ist, an dem man den ganzen Abend in der Stadt unterwegs sein kann und am nächsten Tag verkatert. Dann würde ihm vielleicht nur auffallen, dass Alex nicht mehr da war, aber nichts von den anderen Dingen.
Samir habe ich ihm gegenüber nie erwähnt, obwohl er gleich nach unserem Umzug auf der Uniparty war, auf die ich alleine gehen musste. Er stellte sich neben mich in den Windfang und bot mir Tabak an. Als ich ablehnte, fragte er erstaunt, echt nicht, du siehst so dünngeraucht aus. Samir sagte das, als wüsste er, dass ich zwar noch nie jemanden umgebracht hatte, aber einmal schon über einen Obdachlosen drübergestiegen war, als ich in Eile war.
Und du, fragte ich. Er drehte sich eine Zigarette, die aussah, als hätte sie Schwindsucht, das durchsichtige Papier zitterte im Restwind, und die Tabakhalme flatterten wie Haare.
Ich bin nicht süchtig, sagte er, ich rauche nur, um nachher etwas ausdrücken zu dürfen.
Während er neben mir ausatmete, fing ich an, ihn zu mögen, weil er mir gleich wichtige Dinge sagte. So etwas wie, ich finde, du solltest lieber Germanistik studieren, wie meine Schwester, die ist dir ähnlich, oder soziale Arbeit, so wie ich, das würde zu dir passen. Während Alex immer nur sagte, das ist deine Sache, das musst du für dich entscheiden.
Ich mochte ihn, weil er mir das Johari-Fenster erklären konnte und mir seine blinden Flecken auflistete und weil er sofort sagte, dass ich originell sei, obwohl ich mir damals schon dachte, dass das gelogen war, weil ich immer lieber zitiert habe und nie genau weiß, ob jemand wirklich mit mir Zeit verbringen möchte oder ob ich nur die Erinnerungen aus meinen Erlebnissen filtere, von denen ich ahne, dass sie dem anderen gefallen.
Als es uns drinnen zu laut wurde, redeten wir draußen weiter.
Auf dich, sagte Samir und prostete mir zu, willkommen in Wien, dann schnippte er die Asche von seiner selbst gedrehten Zigarette ab, sie rieselte auf meine Hose, schnippte den Filter zu Boden, verscharrte ihn im Kies, ich schmiss meinen drauf, schmiss mich an ihn ran, meine Sätze stolperten, meine Worte taumelten in seine Richtung, ich hakte mich bei ihm ein. Wir prosteten uns zu, stießen unsere Gläser aneinander, Bier tropfte mir über die Finger, über die Tischkante und auf den Beton.
Er zog meine Gürtelschlaufe an seine Hüfte, in der Musik konnten wir uns wiegen, bei dem Bass konnten wir so tun, als hätten wir denselben Rhythmus, wir prallten aufeinander, ein Glas zerbrach am Boden, am Ende ist es immer die Schwerkraft, dachte ich, heute Nacht würde ich versuchen, mich in ihm zu vergraben.
Was ich Fede nicht erzählt habe, ist, dass wir dann zu zweit von der Feier verschwunden sind und dass er mich im McDonalds fragte, ob ich einen Freund hätte, und ich meinte, ja, und dass wir dann an der Haltestelle Pilgramgasse standen, Samir mit seinem McDouble und ich mit meiner Doppelmoral.
Ich mochte Samir, als Namen, und seine Schneidezähne. Ich dachte an Alex, aber an nichts Konkretes, nur, wie anstrengend die Wohnungssuche mit ihm gewesen war und dass er mich bis zu unserem letzten Streit seinen BASTLERHIT genannt hatte und danach nicht mehr, dass ich den Maklern immer zu viel glaube und dass ich das letzte Mal, als wir miteinander geschlafen hatten, über die Bezeichnung Betreutes Wohnen nachdenken musste.
Samir berührte mich an der Schulter, du bist so in Gedanken, fragte er, was ist los, doch ich schüttelte den Kopf. Er schmiss die Serviette in den Mülleimer, komm, sagte er, wir schauen mal, wann der Nachtbus fährt. Mit uns an der Bushaltestelle stand eine alte Frau im Licht des Werbeplakats, mit lila Mütze, lila Jacke und lila Hose, und ein Mädchen ohne Mutter mit einem grünen Ballon, den sie immer wieder in die Höhe stupste.
Samir fuhr mit dem Finger an meinem Unterarm entlang, kommst du noch mit zu mir, fragte er, meine Steinsammlung von der Nordsee anschauen, ich lachte und dachte an Alex, an die Muscheln, mit denen etwas schon nach zwei Stunden nicht mehr stimmte, und ich betrachtete das Mädchen mit ihrem grünen Ballon und hatte auch Lust auf das Anstoßen und Fliegenlassen, und ich sagte, ja, und wir stiegen in den 13A.
Drinnen wurde mir klar, dass die Dame und das Mädchen auf eine andere Linie warteten, und während ich die alte Frau darum beneidete, dass sie ihre Farbe gefunden hatte, fuhr der Bus an.
Ich brauch noch eins, sage ich, und weil Fede nicht schnell genug ist, schnappe ich mir das letzte Frankfurter Würstchen und schlinge es hinunter, damit die Bauchschmerzen vor den Gefühlen kommen.
Du hast mir nie von ihnen erzählt, sagt Fede und nickt erst zu Maries Bild und dann zu Samirs, und er sieht eigentlich heiß aus.
Marie, sage ich, ist ganz unkompliziert, und Samir, aber in dem Moment dreht Marie sich am Ende des Raumes zu uns und setzt sich neu zusammen. Fede hebt die Hand und nickt ihr zu, Marie winkt aufgeregt und stolz lächelnd zurück, als wäre sie auf einem Kreuzfahrtschiff, das gerade abgelegt hat und von dem jetzt niemand mehr entkommen kann.
Wenn Fede seinen Arm senken würde, würde er auf meinem Oberschenkel liegen bleiben, doch er hält ihn nach dem Winken noch eine Weile oben.
Marie merkt sich nicht, ob man seinen Kaffee mit Milch trinkt oder mit wie vielen Männern man schon geschlafen hat oder nach was man in den letzten fünf Jahren bei YouPorn und bei Chefkoch gesucht hat. Marie ist das alles ganz egal, auch das Vegansein, ich glaube, wir sind nur befreundet, weil sie mich nie gefragt hat, warum ich so bleich aussehe.
Das spricht für sie, sagt Fede.
Eben, meine ich. Fede fragt, was wir noch zusammen gemacht hätten im letzten Semester, aber ich erinnere mich nicht an viel, nur an Wandfarben und aufblitzende Gefühle, an die Werbung an den Bushaltestellen, an meine Knie, die immer wehtun, wenn ich sie zu lange überkreuze, an meinen Rücken an der Lehne in der Uni und wie Marie einmal meinte, die Tage sind so lang, wenn man nicht gerade fickt.
Aber du fühlst dich hier wohl, oder, fragt Fede und schwenkt dabei sein Glas durch den Raum, an dem Steinway vorbei zu Lukas und Jara, als würde er beides gleichzeitig meinen, die hohen Decken und die Pärchenabende. Irgendwas hat sich zwischen uns verändert, Fede weicht meinem Blick aus.
Ja, sage ich, schon.
Egal, sagt Fede und drückt meine Hand. Ich erwidere den Druck fester und denke an die Ecke seines Schneidezahns, den Fede mir mit elf Jahren in die Handfläche gespuckt hat. Ob das mit seinen Verlustängsten an dem Tag angefangen hat oder zwei Wochen später, als Fede das erste Mal von den anderen Jungs auf dem Schulklo eingesperrt wurde und seine Mutter am Telefon für einen kurzen Moment nicht wusste, was sie sagen sollte.
Weißt du, frage ich Fede, was Marie gut kann?
Was, endlich lässt er seinen Arm sinken, aber nur, um seinen Kopf darauf abzustützen und ihn in meine Richtung zu drehen.
Chipstüten aufreißen, sage ich, aber auf so eine Art, dass alle gleich zugreifen. Fede dreht sich zu mir um und zieht seine Knie nach oben auf das Sofa.
Dein Opa, sage ich zu Fede und tippe ihm auf die Jeans, dein Opa hätte Marie einen herzhaften Kerl genannt.
Fede lacht, das stimmt, sagt er, das hätte er gesagt. Dann nimmt er meine Hand in seine, verschränkt die Beine zum Schneidersitz, heute ist die Nacht, nickt er noch mal.
Ich dachte, dir geht es gut in Frankfurt, sage ich nach einer Weile.
Was meinst du, murmelt er in sein Glas. Es gibt da nur nicht so viel Neues.
Aber du hast doch was mit wem angefangen, hake ich nach, du hast doch da Leute.
Ne, sagt Fede, nicht so richtig, und dann korrigiert er sich halb, ich habe vor einem Jahr eine Playlist erstellt, bei der ändere ich nur noch jedes Mal den Titel, und dann verschicke ich sie an den Typen, in den ich gerade verliebt bin.
Ist das nicht irgendwie weird, frage ich.
Ne, sagt er, weird ist, dass die Lieder immer passen.
Ich finde das gut, sage ich und schaue auf die Uhr.
Was, fragt Fede.
Mit dem Verlieben, sage ich, wenn das ernst gemeint war.
Wirklich, fragt Fede und schaut mich unsicher an.
Na klar, sage ich, du könntest hier jeden haben.
Fede grinst, er hat eine Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen, für die er oft Komplimente bekommt.
Bitte, sage ich, genieß den Abend hier richtig, ich bin Wingwoman, und scheiß auf die Veganer.
Darauf stoßen wir an, während Fede das leere Würstchenglas zuschraubt, Neujahr keine Neuanfänge, sagt Fede, und auch kein Comeback, ergänze ich in Gedanken.
Im Frühjahr habe ich das freiwillig gemacht mit den Riemen und den Schnüren und den Seilen, du bist ein Geschenk, hatte Samir zu mir gemeint, als er mich zum ersten Mal darin von oben bis unten betrachtete.
Als er dann meine Handgelenke festband, hatte ich mich gefühlt, als würde ich ihn belügen unter der Verpackung, als wäre ich nur ein Gutschein für einen Laden, der alles hat.
Ich öffne das Fenster hinter unserem Sofa und lehne mich über das Rückenpolster, um hinausblicken zu können.
Schau mal, sage ich, der Nachthimmel. Draußen hängt ein Restleuchten über den Straßenlaternen, das meiste ist verziert und irgendwie schokoladig. Man denkt es drinnen vorher nie, und dann tut man’s halt doch, draußen irgendetwas Schönes sehen. Ich verstehe, warum du nicht wegfahren wolltest, sagt Fede nach einigen Minuten, in denen wir schweigend nach draußen geschaut haben, wo könnte die Stimmung feierlicher sein.
Ich sehe mich um und gebe ihm recht, weil Wien wirklich schön ist, selten habe ich das konkrete Gefühl, irgendwo richtig zu sein, eigentlich nur in den Wartezimmern, in denen es noch genau einen freien Stuhl gibt.
Fede meint, dass das nächstes Jahr unser bestes Jahr werden wird. Er beobachtet einen Mann, der unter unserem Fenster vorbeiläuft und seine Bierdose neben einem übervollen Mülleimer abstellt, und sagt, er verspreche mir das aus tiefstem Herzen. Ich glaube ihm, obwohl ich sein Herz seit vierzehn Jahren kenne und weiß, dass es nicht besonders tief ist.
Während Fede aus dem Fenster starrt, erzähle ich ihm vom Donaukanaltreiben im Mai und denke, dass, wenn wir Gewässer wären, Fede sicher kein Fluss wäre, sondern ein Teich, der irgendwann gekippt ist. Ich denke daran, dass man die Wasserqualität von Menschen messen können sollte, als wäre jeder ein eigenes Biotop, um ungefähr vom selben zu sprechen, wenn man von Liebe spricht.
Dass man mit einem langen Meterstab überprüfen müsste, wann man am Boden ankommt, dass man gewissenhaft vorgehen müsste, um den festgesetzten Schlamm vom endgültigen Grund zu unterscheiden. Ich erinnere mich daran, wie Fede und ich mal im Schulunterricht in der neunten Klasse zusammen einen Weiher ausmessen mussten und wie er in der Mitte untergetaucht ist und meinte, er würde eh niemandem fehlen, ich musste erst einen Lehrer holen, der ihm drohte, seiner Mutter Bescheid zu sagen, erst da ist er zum Ufer geschwommen und hat betont, er habe mit den Füßen den Boden berühren können.
Wie geht es deinen Eltern denn, frage ich zögerlich, weil ich weiß, dass die Frage ihm manchmal wehtun kann, dann presst er sich eine Hand in die Seite.
Meiner Mutter geht es immer gut, wenn sie nicht anruft, und meinem Vater geht es schlecht, wenn er nicht anruft, sagt er, und ich habe ihn seit November nicht mehr gesprochen.
Aber er hat seine Freundin noch, frage ich nach, doch Fede schüttelt den Kopf, keine Ahnung, murmelt er, er redet mit mir da nicht so gerne drüber. Fede meldet sich nicht oft bei seinen Eltern, weil er ihnen unbedingt beweisen möchte, dass ihm nichts fehlt, wenn sie nicht da sind.
Ich erinnere ihn an die Dinge, die sein Vater eine Zeit lang als Idylle bezeichnet hat, die Hoffeste im Ortskern und die Gottesdienste im Grünen und das Flaschenbier der umliegenden Brauereien.
Ich lehne mich weiter nach vorne, tauche meine Finger in den Plastikbecher mit Wein, um die Vintagewarmen und die Clickbaitficker unter uns auf der Straße damit zu besprenkeln. Fede hilft mir, er streckt den Arm weit aus, um so viel Stadt wie möglich mit Alkohol zu bekleckern.
Deine Freunde sind nett, sagt Fede und fährt mit einem Zeigefinger das Fensterbrett entlang, als würde er etwas suchen. Das macht er schon, seit ich ihn kenne. Fede fasst die Städte an, als wären es Stauräume für Dinge, die er irgendwann mal darin vergessen hat. Bis wir vorhin bei Marie angekommen waren, hat er eine schwarze Jacke gefunden, einen Ohrring in der U3, zwei Teile einer Kreditkarte und ein Stück Schleifpapier.
Hattest du mir nicht von Jara erzählt, fragt Fede leise, während er seine Jacke durchwühlt und seine Schätze begutachtet, von der Abtreibung. Ich nicke.
Wie geht es denn deiner Mutter, fragt er mich, du sahst seltsam aus am Telefon.
Gut, sage ich und dann nach einem kurzen Zögern, ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll, außer dass ich an ihrer Stelle einsamer wäre.
Ja, sagt Fede, das Gefühl kenne ich.
Während Fede Vorfreude in die Nachtluft atmet, überlege ich, ob wir nicht doch fliehen könnten, bevor Marie recht behält.
Hast du denn sonst noch mit jemandem Kontakt, frage ich Fede, und er nickt, was ich befürchtet habe, und fängt mit beiden Händen an, aufzuzählen, von wem er sich nicht lösen möchte.
Du bist mir aber am wichtigsten, sagt er mitten im Zählen, du bist nur sehr weit weg.
Er greift nach meiner Hand. Und Joni hat sich nie mehr gemeldet, sagt er, aber so toll war er ja nie.
Nein, sage ich, schau, meine Mutter denkt an uns. Ich zeige Fede das Display meines Handys, auf dem ihre Nachricht aufblinkt.
Zeig mal, sagt Fede. LG, schreibt meine Mutter und schickt mir einen Jahresrückblick, den ihr Handy automatisch erstellt hat, mit GEMA-freier Hintergrundmusik. Fede und ich in der zehnten Klasse, die Nachmittage am Baggersee, eine Zeltfolie aus dem Jahr 2003, das Blumenfeld, die Mückenstiche und das Aufgekratztsein. Ein Bild von Fede und mir, Arm in Arm auf dem Feld, nach Fedes erster OP.
Fede erinnert mich daran, dass wir jedes Jahr für zwei Euro zum Muttertag und kurz danach für drei Euro zu den Geburtstagen ein paar Tulpen auf dem Blumen-zum-Selberpflücken-Feld abgeschnitten haben. In einem dieser Julis fingen wir an, dort rumzuhängen, Fede und ich und Alex und Joni und ein paar andere aus der Stufe, die irgendetwas Ähnliches fühlten.
Was meine Mutter nicht schickt, sind meine Schnitte und mein Schneiden und meine Ärmel im Sommer darauf. Was sie nicht schicken kann, ist der Geruch von Fedes Schulranzen, der ein halbes Jahr lang nach Bratensoße gerochen hat, weil er Rehrücken und Krustenbraten in der Tupperdose dabei hatte.
Auf dem nächsten Bild ist mein Vater, einen Arm hat er dabei um meine Schulter gelegt, er schaut ernst, während ich neben ihm in die Kamera grinse. Man sieht, dass er da die Diagnose noch nicht hatte, sage ich und zoome in sein Gesicht.
Wegen der Haare, fragt Fede. Nein, sage ich, weil er da nicht mal versucht, zu lächeln.
Für einen Augenblick tut mein Vater mir leid, weil er seinen Freunden in der Grundschule nie die Haare kämmen durfte, weil er nie auf dem Schoß seiner Freunde sitzen durfte in der großen Pause. Fede und ich haben alle Sommermonate bei einander verbracht, mit chlorwassernassen Haaren, die auf der Gänsehaut des anderen trockneten.
Ich weiß gar nicht, wo er als Jugendlicher mit den ganzen Gefühlen hingegangen ist, vermutlich auf die Autobahn oder einen Sportplatz, und dann hat ihm ein Freund dreimal flüchtig auf den Rücken geklopft. Mein Vater bekam die ganze schöne Liebe nur über Umwege, erst musste er Pflegestufe 4 erreichen, um auf dem Bett in Embryohaltung liegen zu dürfen und den Rücken gestreichelt zu bekommen.
Antworte ihr doch, sagt Fede, und da schicke ich meiner Mutter eine Blume.
Ich fing an, nach der ersten Liebe zu suchen, als meine Mutter überlegte, ob sie sich scheiden lassen sollte, aber dann wurde im Sommer mein Vater krank, und Fedes Vater wurde Vegetarier, und Fedes Mutter trennte sich wirklich.
Zwei Jahre lang gab es für uns nichts zu tun, außer abzuwarten. Aber ab Oktober hatte sich etwas verändert, ab da presste ich das bunte Laub zwischen die Bücher, und die Jungs pfiffen um unsere Ecken und Kanten, ich zerwühlte mein Unterholz, ich prasselte auf andere Haut.
Ich wusste vieles nicht nach vier Tagen Aufklärungsunterricht in der zehnten Klasse. Aber ich wusste, dass mein Vater die Schlagermusik hörte, in der eine Frau von Zärtlichkeit sang, wenn sie Sex meinte, also habe ich mit Sex Alex und mich gemeint und mit Zärtlichkeit alles verglichen, was davor oder danach kam. Mein Kinderzimmer, die Mixgetränke, der Blick in den Badezimmerspiegel und den Vergleich, wie viel von Alex’ Fingerkuppen überstand, wenn wir unsere Handflächen aneinanderpressten.
Als wir das erste Mal zusammen geduscht hatten, fragte ich ihn, was er an mir liebte. Ich wollte keine Komplimente, nur eine Antwort darauf, wie viel von mir schon Frau war.
Keine Ahnung, sagte er, was liebst du denn an dir.
Ich, sagte ich, nichts, ich hockte mich auf den Abfluss, saß neben seinen Knöchel, die dick waren vom Laufen, und sah zu, wie der Wasserpegel langsam stieg.
Die Frage blieb da, als Fedes Vater sich ayurvedisch ernährte und mein Vater aufhörte, zu essen.
Sie blieb da, während ich Rücksicht auf meinen Vater nahm, und als ich wütend auf ihn wurde und meine Mutter sagte, du musst aber verstehen, er hat’s nicht leicht mit allem.
Bei meinen Eltern hasste ich es immer, dass ich jemand war, der Lärm machen musste, dass ich jemand war, dem Teller runterfielen.
Alex wurde zu Hause auch nie gesagt, was man an ihm liebte, also sagte ich ihm das, ich sagte ihm, dass ich seine Augen liebe und seinen Tatendrang, seine Haare und seinen Musikgeschmack.
Ich dachte darüber nach, wenn wir Sex hatten, ich dachte, was liebe ich an mir, jedenfalls nicht mein Gesicht. Das Einzige, was ich wirklich von mir liebte, waren die Schnappschüsse, auf denen ich dünn aussah.
Hör auf, mich so anzustarren, sagte Alex dann und knipste die Nachttischlampe aus, an der Wand hing ein Poster vom BVB. Das passiert nur in den Filmen, sagte er, dass man beim Ficken irgendwas flüstern muss, das gibt’s in echt gar nicht.
Woher willst du das wissen, fragte ich, du hattest doch auch noch nie vorher.
Ich weiß es, sagte er, und da blieb es unentschieden, bei Beerdigungen und beim Sex konnten wir beide nur zitieren.
Ich fing an, mich bei meinem Vater zu entschuldigen und bei Alex einzufordern, jetzt sag doch endlich, was du an mir liebst, jetzt lieb mich doch endlich, jetzt lieb doch endlich zumindest meine Hände, die dich halten wollen.
Du nervst, sagte er dann, und ich atmete tief durch und dachte, er hat es ja auch nicht leicht mit allem.
In Wien haben wir nie zusammen geduscht. Wenn er nach dem Laufen ins Bad ging und sein Handy im Schlafzimmer liegen ließ, las ich seine Nachrichten und war enttäuscht, wenn ich nichts fand, das er vor mir hätte rechtfertigen müssen.
Als ich im Sommer mit Samir unterwegs war, fielen mir die Dinge ein, die ich an Alex liebte, seine Schreibschrift und die Auswahl der Bücher neben seiner Seite des Bettes, seine Haarfarbe und seine Heavy-Rotation-Playlist auf Spotify.
Wenn er wüsste, wie gut ich über ihn denke, dachte ich im Sommer, wenn es einen Weg gäbe, ihm das ohne Übersetzungsfehler zu vermitteln. Aber dann hatte Samir unterm Tisch der Eisdiele nach meinem Bein gegriffen, und ich hatte seine Hand dort festgehalten, weil es ja trotzdem nicht mehr aufhörte, das Wohlfühlen im Sein um ihn herum.
Mir wird schlecht von den Gedanken an die Würstchen und die Sonne und die Eiscreme, Fede, frage ich, wie wär’s, wenn wir uns heute einfach nur zu zweit einen gemütlichen Abend machen?
Quatsch, sagt Fede, das würde ich auch sagen, wenn ich die alle in fünf Minuten gegessen hätte, jetzt leg dich doch einfach kurz aufs Sofa.
Ne, sage ich zu ihm, ich will einfach mit dir feiern, ich will nicht an den ersten denken und den zweiten und sechsten Januar, ich will, dass so viel passiert, dass ich alle vorigen Silvester vergesse, vielleicht können wir ja irgendwo reinspringen, in ein Hallenbad einbrechen und uns um Mitternacht im Schwimmerbecken gegenseitig taufen, oder wir beschriften ein Schloss mit F & A und hängen es an eine Brücke, als Zeichen.
Was soll das denn für ein Zeichen sein, fragt Fede.
Einfach ein Zeichen, antworte ich.
So wie bei Hangover, Fede schlägt vor, dass wir uns heute Nacht noch tätowieren lassen, dabei will ich das Gegenteil davon, dass irgendeine unsichtbare Handschrift von mir weggelasert wird.
Dann stupst er mich in die Seite, ich kenn dich, Anna, wenn wir jetzt hierbleiben, wirst du morgen froh sein, dass wir dageblieben sind, und ehrlich, mir macht das nichts aus mit den ganzen Veganern.
Ich klopfe dreimal auf das Mahagoni des Couchtisches vor mir und versuche, mich zu entspannen.
Komm schon, sagt Fede, strahlt und deutet auf die Freundesgruppen, die jetzt durch den Flur strömen, wir haben einen guten Zeitpunkt erwischt.
Ich möchte, dass Fede seine Euphorie wieder vergisst und sich an seine Angst erinnert, dass wir auf der Stelle wieder zurück ins Dorf ziehen. Nicht in dasselbe, aber in ein ähnliches, mit einer kontrollierbaren Großzügigkeit und windstillen Wohnzimmern. In ein Dorf, in dem sie der Volksbank mehr vertrauen als ihren Kindern, in dem die Hunde ihre Zähne fletschen und sich ins Geschirr lehnen. Ein Dorf, in dem die Männer nach der Arbeit ihre Gesichter im Fell vergraben und ihre Söhne Umzugskartons packen und in dem die Mütter verkrampfen, sobald die Hunde anfangen, zu jagen.
Jetzt, sagt Fede und nippt an seinem roten Pappbecher erzähl mir alles.
Was denn. Na, sagt er, was so passiert ist letztes Jahr.
Es war gar nicht so aufregend.
Dein erster Umzug, ruft Fede, der erste Umzug in deinem Leben, und du sagst, es war nicht aufregend.
Als ich nicht sofort antworte, mustert Fede mich, sag mal, willst du immer noch sofort gehen, oder können wir noch kurz austrinken.
Ein Bier, sage ich, und wenn es mir in zwanzig Minuten nicht besser geht, dann gehen wir.
In Ordnung, sagt Fede. In dem Moment kommt Samir aus dem Flur geschlendert, groß und ruhig und ohne Eile, als wüsste er, dass man im Leben nie etwas verpasst, sondern immer nur zeitgleich anderswo anwesend ist.
Das ist Samir, sage ich zu Fede, von dem habe ich dir auch nichts erzählt.
Ist er auch unkompliziert, fragt Fede. Ich nicke, was nicht stimmt, nur ich werde unkompliziert in seiner Nähe, dann atme ich immer gleich aus und werde plötzlich zum Herdentier, mit keinem besonderen Wunsch, außer mich eine Weile an seinem friedlich zentrierten Bauch orientieren zu dürfen, der überall anders fehlt.
Bevor Samir mich entdeckt, entschuldige ich mich schnell bei Fede, bahne mir einen Weg zur Toiletteund lasse mich dort auf den Boden fallen. Ich schreibe meiner Mutter eine Nachricht, wünsche ihr noch mal einen guten Rutsch, sage, dass ich nach den Feiertagen vielleicht zu ihr fahre, weil ich meinen Schlüssel verloren habe, weil ich mich immer gleich aus der ganzen Stadt aussperre.
Wenn ich an meine Mutter denke, dann immer mit Fußnoten, dann immer mit der Hoffnung, dass sie weiß, wie sehr ich sie, wenn wir da auf meinen Zug warten, ihre Plastiktüten mit Butterbroten in meiner Hand, ihr Zurechtrücken meiner Kleidung, ihr Zusammenfalten der Wäsche, ihr Nachfragen, mein Ausweichen, mein Weggehen, mein Fernbleiben, immer die Hoffnung, dass wir doch dieselbe Sprache sprechen und uns dasselbe sagen wollen, wenn sie fragt, wie es mir geht, und ich erwidere, dass es mir gut geht, immer unsere Angst vor den letzten fünfzehn Jahren, vor den Vorwürfen, die mit mir aufgewachsen sind, vor den Eingeständnissen, die genauso alt sind wie ich, vor unserem Nichtvergessen, das wir gemeinsam großgezogen haben.
Ich möchte ihr am Telefon von den Männern erzählen, die mir nachschauen und dann nicht nach mir schauen, Mama, will ich sagen, sieh, wie wir uns ähnlich werden, wie wir uns vermischen, wie ich langsam Gefallen finde am Gefälligsein, wie ich anderen aus der Hand fressen kann, wie ich mich an meine Zähne gewöhne.
Ich möchte ihr noch etwas schreiben, etwas über meinen Vater, aber mir fällt nicht ein, was das sein sollte.Ich stecke das Handy wieder ein und lasse mir eine Weile kaltes Wasser über die Hände laufen, bevor ich mich zurück ins Wohnzimmer drängle.
Als ich wiederkomme, kann ich Samir nirgendwo mehr entdecken, aber ein neuer Gast sitzt auf der Couch neben Fede, ein junger Mann mit breitem Kreuz und langen Beinen, der sich angeregt mit ihm unterhält.
Sorry, sagt Fede in meine Richtung, während er eine leere Bierflasche hochhält, ich habe gesagt, der Platz ist frei, weil er super cute aussieht, ich glaube, er ist Professor.
Du hast was, frage ich Fede, aber dann sieht der Mann mich an und lächelt super cute.
Professor für welches Fach, frage ich.
Eigentlich nur wissenschaftlicher Mitarbeiter, meint er und hebt dann entschuldigend und lächelnd die Hand, dein Freund schmeichelt mir. Er schüttelt noch einmal den Kopf, während er sich gut riechend von der Couch schiebt und Fede ansieht. Hätte ich damals nicht diese Pleite erlebt, sagt er mit einem Seitenwink, als hätten sie eben über das Thema gesprochen, ich sag’s dir, dann würde ich heute immer noch mit so reichen Schmarotzern abhängen und wäre sicher schon geschieden.
Er atmet lange aus.
Und das sind Sie nicht, hakt Fede nach.
Nein, sagt der schöne Mann.
Schade, sagt Fede.
Nachdem der Mann wieder verschwunden ist, betrachten Fede und ich die fliegenden Lichter im Raum, die inzwischen warme Punkte geworden sind und dann zu gelben Sternen werden, die langsam tanzen. Du meinst das wirklich ernst mit dem Verlieben, was, frage ich.
Da, sagt Fede und winkt, Maries Bruder.
Mein Herz klopft laut, als Samir auf uns zu kommt, was ich befremdlich finde, weil klopfen tut man nur, wenn beim anderen die Klingel nicht funktioniert oder die Nachricht nur ein Häkchen hat. Weil ich nicht weiß, wie ich dem Herz antworten soll, bleibe ich einfach ganz still sitzen und halte mich an der Armlehne des Sofas fest, als wäre niemand in mir zu Hause, bis das Herz irgendwann aufgibt und ich es nicht mehr hören kann.
Anna, sagt Samir gleich darauf in meine Halsbeuge, ich habe gehofft, dass du heute Abend auch kommst.
Samir, sage ich, wir wollten gerade gehen.
Wollen wir gar nicht, sagt Fede, ihr ist nur schlecht von den Würstchen.
Ich spüre seine Hand an meinem Rücken und halte mich irgendwo an seinem linken Unterarm fest. Die erste halbe Stunde passiert mir Samirs Nähe immer nur, wie anderen ein Auffahrunfall passiert, ich dachte, du wärst heute bei Freunden.
Hab mich umentschieden, sagt er, ich wollte dich treffen. Er sagt das langsam und leise, mit langen Mhm-Lauten und versprachlichten Denkpausen, Samir lässt sich in Sätze gleiten wie ein Schwimmer, der sich unterm Wasser vom Beckenrand abstößt und erst für die letzte Hälfte der Strecke wieder auftaucht.
Das ist jetzt ungünstig, sage ich mit einem Stockfotolächeln und wische mir die Hände an den Hosenbeinen ab, ich werde heute gar keine Zeit haben, ich habe jemanden mitgebracht. Ich greife nach Fedes Hand, mein bester Freund, sage ich, wir kennen uns schon seit der Grundschule. Fede, das ist Samir, Maries Bruder, sein Bild steht da auch auf dem Klavier.
Das hättest du jetzt nicht sagen müssen, sagt Samir und drückt Fedes Hand, für einen kurzen Augenblick berühre ich sie beide. Samirs Beobachtungen bleiben halb unausgesprochen.
Fede also, sagt Samir, lässt endgültig von mir ab und nickt ehrfürchtig, er ist gut darin, sich Namen zu merken, meistens hat er mehrere für eine Person, einen für hier und einen für hinter dem Rücken.
Ihr werdet euch mögen, sage ich zu Fede, Samir macht auch Kunst, er schreibt traurige Gedichte auf Absperrbänder.
Samir deutet auf das Würstchenglas in meiner Hand, das ganze, ehrlich.
Nicht alle, sage ich.
Ja, sagt Fede, sag nicht, du isst auch vegan.
Nur vegetarisch, sagt Samir, ehrlich, da weiß man doch gar nicht, was da alles drin ist.
Aber koksen geht, sage ich.
Touché, nickt er, kann ich kurz mit dir sprechen, Anna?
Er fragt das, ohne dabei Fedes Hand loszulassen. Samir nimmt zur Begrüßung immer bewusst alle zehn Finger, als würde er sanft etwas Zerbrechliches zwischen beide Handflächen gelegt bekommen.
Lieber nicht, sage ich, echt nicht.
Samir sieht mich bittend an, in den letzten Tagen hatte ich ihm nicht mehr geantwortet, seine Zuneigung ist neu, normalerweise ist Samir derjenige, der entscheidet, wann er wen treffen möchte, und betteln muss er nie.
Freut mich auch, sagt Fede, grinst wie ein Spatz und schwankt daraufhin, tut mir leid, ich bin nicht sehr authentisch, mir ist ein bisschen schwindlig.
Ich finde es besser, wenn Leute nicht authentisch sind, sagt Samir und setzt sich zwischen uns, die Straßenverkehrsordnung ist auch nicht authentisch, aber dafür dürfen alle mal fahren.
Ist das von Thees Uhlmann, frage ich.
Nein, sagt er, das hast du doch mal gesagt. Er deutet mit einem Zeigefinger auf mich, sie vergisst immer alle unsere Gespräche, klagt er mich bei Fede an, da siehst du, wie wichtig ich ihr bin. Fede lacht auf und streicht aufgeregt seinen Pony zur Seite.
Bei Samir war ich von Anfang an stummer gewesen, weil man auf seine halb verschluckten Sätze kaum antworten kann und weil er sich als Pädagoge mit jeder Form von nonverbaler Kommunikation auskennt. Wie viele Formen eine Hand annehmen kann, das hatten wir gemeinsam erforscht, welche Abdrücke sie hinterlassen kann, wie viele Finger er braucht, bis ich anfange, wie viele Finger er braucht, damit ich aufhöre.
Wochen später hatte Alex mal einen daumengroßen blauen Fleck an meiner Rippe gefunden, woher kommt der, hatte er mich gefragt, und ich musste plötzlich weinen. Er tätschelte mir die Schulter, ist doch nicht so schlimm, sagte er, du hast dich halt gestoßen.
Das war keine gute Nacht, aber zumindest eine, in der wir uns nah waren, und dann gab es noch die anderen.
Sag mal, sagt Samir, was machst du denn für Kunst.
Fede schüttelt den Kopf und winkt mich dann zuerst an seinen Mund, bevor er ihm antwortet, kannst du mir noch mal Wein bringen, flüstert er und fügt dann noch leiser hinzu, ich habe ein gutes Gefühl, vielleicht kann ich mich verlieben, geh mal, ich muss mich konzentrieren.
In Ordnung, flüstere ich zurück und nehme seinen Becher und das Würstchenglas.
Ich geh mal zu Marie, sage ich, und dann zum Altglas.
Samir sieht erstaunt auf, bisher war er es, der eine Seite von mir am Telefon wegdrücken durfte, aber ich wollte doch mit dir reden.
Bad timing, sage ich. Seine Augenbrauen sind dicht und gerade, in der gezupften Mitte ist jetzt eine kleine Falte.
Plötzlich ist sein Gesicht so nackt, dass ich seinen Ausdruck zuknöpfen möchte und wegschauen muss.
Samir beugt sich wieder zu Fede, weg von der Verwirrung, super, dein Freund ist eh interessanter. Fede lacht.
Wir haben uns noch nie wortlos verstanden und danach auf irgendeine Art zusammen ausgeatmet.
Ihr habt euch sicher viel zu sagen, zwinkere ich Fede zu, viel Spaß.
Fede grinst mich an und sagt wortlos, jetzt geh endlich.
Auf dem Weg zur Küche drehe ich mich noch mal um und beobachte, wie Samir plötzlich so dasitzt, als würde er gleich anfangen, Fede Pink Rabbits auf der Gitarre vorzuspielen, wie seine Hände auf der Sofaritze vor Fedes Oberschenkel abwarten, wie er auflacht und verstummt und meinem Freund immer wieder wohlwollend zunickt, egal, was er sagt.
Ich habe nicht oft an Samir gedacht in den letzten Wochen. Öfter als an ihn an die Bäume vor seinem Schlafzimmerfenster und an die Jahreszeiten, die gingen und kamen, als wollten sie mir etwas sagen, und trotzdem wieder die Knospen und trotzdem wieder seine Klingel und mein Herz, das anklopfte, die Treppenstufen zu seiner Wohnung, die Fußmatte und meine dort abgestellten Schuhe, die ohne meine Füße verloren aussahen.
Seit wir angefangen haben, aufeinanderzutreffen, habe ich mit dem Zählen nicht mehr aufgehört. Anfangs zählte ich die Schuhe, die auf seinem Vorleger standen, die Tage, die es dauerte, bis wir uns wiedersahen, die Dessous, die ich für ihn kaufte, und die Unterwäsche, die mich seit Jahren begleitete, die überraschend immer wieder im Wäschekorb aufgetaucht war, obwohl ich sie weder ausdrücklich behalten noch unbedingt verlieren wollte.
Mit dem Kleid über der Wäsche hatte ich in den ersten Sommermonaten vor ihm gestanden, meine Brüste stumm unter dem Stoff, während er in der Eisdiele von seinem Tag erzählte, und ich hatte ihn dabei beobachtet, wie er seine Sätze falsch begann.
Alles da, sagte Samir, als wir Käsekrainer an der Bushaltestelle aßen, und nickte auf die andere Straßenseite, auf die Werbetafeln von Kinderwagen Cindy, Nahtlose Tapeten, Prince Mobile und die Chiang Mai Thaimassage. Nirgendwo anders würde ich noch Wurst essen, antwortete ich ihm. Wien eignete sich für Ausnahmen. Wenn man in die Stadt einfährt, sieht man in grünen Lettern den Waffenladen, der gar nicht mehr drin ist, aber niemand hängt die Lettern ab, das bleibt so klar stehen. Willkommen in Wien, und hinter dem 13A der Waffenladen, der nicht mal so tut, als wäre er was anderes.
Ich glaube nicht, das Wien sehr religiös ist, hatte ich Samir auf dem Heimweg gesagt, nachdem wir die Pappteller mit Senfresten in den Mülleimer geschmissen hatten, die Pappteller, die Senfreste und das Brot, das ich nicht mehr ganz geschafft hatte, obwohl es noch weich war und essbar, nur eben zu viel.
Ich mochte Samir, weil er mein Brot wegschmiss, während ich mit meinem Gewissen kämpfte. Dass ich ihm einfach den Pappteller mit Brot geben konnte, und er kümmerte sich um den Rest.
Was soll das, fragte ich ihn am Stephansplatz und deutete auf den Wagen, Zum goldenen Würstel, so kann doch niemand etwas nennen und es ernst meinen, ihr könnt das doch nicht einfach überall Würstel und weiße Spritzer nennen und wuzzeln statt Tischkicker spielen, wir wuzzeln zusammen, ich meine, come on.
Samir sagte, die Deutschen wären nicht besser, und zwischen Schwedenbomben oder Schaumküssen wäre es ja ganz klar ausgeglichen.
Ist das nicht übergriffig, dass ich zum Mann, der verwöhnt gehen muss, wenn ich eine Handsemmel möchte, fragte ich, warum gibt es da keinen Aufstand, warum gibt es zumindest keine Frau, die verwöhnt, auch dazu. Wien ist immer so laut in allem, mit seinen ganzen schönen Seiten, die Häuser hängen über, sie glänzen dir ins Gesicht.
Sehe ich gar nicht so, erwiderte Samir, du bist halt noch neu hier, und er verstand nicht ganz, vielleicht, weil er es einfach gewöhnt war, die Zunge beim Sprechen an den Gaumen zu drücken, um die Wörter so weich klingen zu lassen.Wir sollten ein Schloss an der Brücke anbringen, hatte ich Samir beim nächsten Treffen unvermittelt gesagt, als ich ihm eine Weile beim Denken zugesehen hatte, als Zeichen. Er hatte nach meiner Hand gegriffen, als Zeichen für was?
Wenn ich wieder heimkam, zählte ich Alex’ Blicke, ob sie zumindest die Stellen wahrnehmen würden, von denen ich jetzt wusste, dass andere sie lieben konnten. Ich dachte, man könnte einen Körper nur dann wollen, wenn er einem nicht schon gehörte, aber je distanzierter ich wurde, desto mehr Raum hatte er zum Ausatmen. Ich freu mich, wenn du weg bist, sagte er einmal, dann habe ich die Wohnung ganz für mich allein.“
Ich fragte ihn nicht mehr, was er an mir liebte, und erinnerte ihn nur noch an das Versprechen, das er mir am Jahrestag gegeben hatte und an die Dinge, denen wir in den letzten sieben Jahren gemeinsam entwachsen waren, als hätte ich die Jahre wie Beweise gesammelt, die ich ihm jetzt vorlegen konnte.
Jetzt entspann dich mal, sagte er dann, ich muss den ganzen Tag arbeiten, ich glaube, du hast einfach zu viel Zeit, um nachzudenken.
Ich fing an, mein Handy mit dem Bildschirm nach oben irgendwo liegen zu lassen und Alex Sachen hinterherzutragen. Am besten ging es uns immer dann, wenn ich sagte, schau, ich habe dir eine Brotzeit gerichtet, und er sagte, danke, das hätte ich sonst nicht mehr geschafft.
Die einzigen Momente, in denen ich mich in der Beziehung noch sicher fühlte, waren die, in denen seine Mutter lieber mit mir als mit ihm telefonierte.
Er war schon immer so, Anna, sagte sie mir, da musst du dir keine Sorgen machen. Alex’ Mutter hatte auch einen Vorgarten, aber einen, den sie irgendwann aufgegeben hatte. Jetzt lief sie manchmal nackt hindurch und lachte über Alex, der sich dann für sie schämte.
Wie denn, fragte ich, und sie deutete auf Findus, der sich sonnte und sich dabei langsam die Pfoten leckte, und sagte, so wie unser Kater. Alex erinnerte mich nicht an seinen Kater, er erinnerte mich an jemanden, der nie damit aufhören konnte, sich nach einer Katzenklappe umzusehen.
Als Kind war Alex ein schlechter Esser gewesen, seine Mutter hatte ihm den Brokkoli mit der Gabel in den Brei drücken müssen, sie hat extra Sahne in die Soße gemischt, damit er etwas zunahm, sie hat ihm Obst in Schokolade getunkt und ihm morgens die Banane mit Milch und Kakaopulver vermixt, wegen der Vitamine.
Ich bin kein schlechter Esser, noch nie gewesen, ich löffle Mascarpone und Kichererbsen aus der Dose, ich habe ein Süßigkeitenversteck, selbst in unserer Wohnung in Wien. Jetzt mach mal auf, hatte seine Mutter früher zu Alex gesagt und mit dem harten Silberlöffel an seinen Mund gestoßen, der ganz blutlos war vom Zusammenpressen. Hier kommt ein Zug, sagte sie, jetzt probier doch wenigstens mal.
Alex ist heute noch ein schlechter Esser, ich habe mich angeschlichen, angekuschelt, aufgedrängt, ich legte meine Hand auf seinen Bauch, in Wien habe ich zugenommen und mich gefragt, wann er es merkt, aber nie hatte er Hunger, immer aß er sporadisch, steckte sich einen Müsliriegel in den Mund, fingerte Nahrungsergänzungsmittel aus den Schubladen, manchmal, ohne noch mal auf die Verpackung zu schauen.
Im November fand Alex ständig irgendwo Haare, die nicht seine waren, die seinen nicht mal ähnlich waren. Irgendwann haben wir beide geschrien, dann war er im Bad verschwunden und kam nicht raus, bis ich gegangen war.
Ich fragte ihn, ob er nicht auch eine andere hätte, ich fing sogar an, Sachen nach ihm zu werfen, um eine Antwort aus ihm rauszutreffen.
Alex sagte erst wenig dazu und dann gar nichts mehr, bis er eines Abends, als ich heimkam, nicht mehr in der Wohnung war und auch nicht mehr dahin zurückkehrte.
Samir wollte in der Zeit für mich da sein, weil er dachte, ich bräuchte nach der Trennung einen aktiven Zuhörer, doch als ich es nicht aushielt, mich in seiner Nähe besser zu fühlen, wurde er wütend.
Er nannte es neurolinguistisches Programmieren, die Anrufe und Nachrichten, den Arm, den er mir auf den Rücken drehte, und die Fragen, die er mir dabei stellte, aber ich schaffte es trotzdem, alleine zu sein, als die Traurigkeit Tage später aus der Mitte kam.
Ich wusste, was ich an Samir hatte, und ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er Fede jetzt von den krebskranken Kindern erzählen muss, für die er sich die Haare wachsen lässt, von seiner Plattensammlung, seiner Mitgliedschaft bei Amnesty International und von den Geschichten hinter den Tattoos.
Samir will nicht mehr so sein, wie ich ihn kannte. Er hat zusammen mit seiner Bisexualität seine weiche Seite entdeckt und angefangen, Soziale Arbeit zu studieren. Menschen wie mir passieren ihm nur noch ab und zu, dann wird er wieder Patriarchat, dann zitiert er wieder Härte.
In die Härte ist Samir in diesem Wohnzimmer hineingewachsen, hier fühlt sich sein Vater zu Hause. Es ist nicht bauchig, sondern gerade geschnitten, mit einer großen Flügeltür im Eingangsbereich und einem Holzboden im Fischgrätenmuster, typisch für Wien, sagte er Gästen früher und versuchte, typisch für Wien zu sein.
Um zu den Schlafzimmern im zweiten Stock zu kommen, kann man rechts von der Küche eine Wendeltreppe mit handgeschnitztem Treppengeländer benutzen. Darauf hat man als Kind sicher nicht runterrutschen dürfen, da hat man sich nur nachts im Frottee-Schlafanzug müde auf die oberen zwei Stufen setzen können, um den Eltern unten beim Streiten zuzusehen.
Heute Abend ist alles hier drin untypisch für Wien, vor den Gemälden an den Wänden stehen küssende Pärchen, The National wummert aus den Boxen, der Teppich ist handgeknüpft, Marie stellt Pappbecher darauf ab und lächelt.
Warte, ich schenke dir nach, ruft sie, als sie mich bemerkt, und greift nach meinen beiden Bechern.
Gerne, sage ich, und eins ein bisschen voller.
Mit einer Suppenkelle gießt sie mir Bowle über die Finger, bis beide Gläser gefüllt sind.
Sorry, sagt sie, ich bin schon ein bisschen betrunken.
Ist doch alles super.
Meinst du, Marie hält nach leeren Gläsern, freien Plätzen und anhaltendem Schweigen Ausschau.
Ich hab in der Küche noch Chips, sie deutet in die Küche, und die Pizzaschnecken im Ofen.
Die geben wir denen nachher, sage ich, dann werden sie jetzt schneller betrunken.
Marie grinst, du bist ja berechnend, ruft sie, weißt du, was das Berechnendste ist, das mir jemals passiert ist? Dass ein Typ mal das Ladekabel von meinem Vibrator mitgenommen hat.
Im Ernst, frage ich.
Ja, lacht sie, ist aber schon etwas her.
Marie nennt sich auf Tinder selbst humorvoll. Passt das so, hatte sie mich gefragt, als ich gegenlesen sollte. Ja, hatte ich gesagt, Marie ist immer randvoll mit Humor, so voll, dass nicht mehr viel anderes hineinpasst, zumindest nichts, was dick oder traurig machen könnte. An den Tagen, an denen sie viel moderiert, nimmt sie Noopept und Phenylpiracetam, und Aniracetam in den Tagen danach.
Man muss nicht viel beachten, sagt Marie. Nur jeden Tag eine Konter-Banane und das Kokstaxi nicht vor Donnerstag rufen.
Für einen kurzen Moment schauen wir beide zum Sofa.
Ich weiß, dass es Begegnungen geben kann und Partys, die zu Ende gehen, und dass Fede dann immer in die Richtung von jemandem sickert, der sich gerade überlegt, wessen Bodensatz er jetzt noch trinken möchte. Jetzt ist er verliebt, das sehe ich seinen Knien an, die auf Samir zeigen, und seinem Lächeln, das in seine zugewandte Mimik strahlt, weil er jemand ist, der ein bisschen rebelliert, aber nicht zu sehr, und mein Magen verkrampft sich.
Ich kann kaum hinsehen, nur kurz beobachte ich Fede, wie er vor Samir seine Zahnlücke entblößt, wie er ihn beeindrucken möchte und selbstbewusst ist, offen.
Ich hätte mir das denken können mit seinem Interesse für Samir, weil der einem genau wie Joni immer Wörter entgegenstreckt, in die man reinwachsen darf, um sich größer zu fühlen.
Joni hatte Fede mit der Verkäuferin in der Sportartikelabteilung betrogen, als er gerade sein freiwilliges Jahr gemacht hatte, und weil Fede danach dachte, es liege vielleicht an dem Dorf, dass alle fremdgingen, kam ihm der Umzug nach Frankfurt ganz recht. Von Lennard, Mark und Fabi hat Fede mir im letzten Jahr am Telefon erzählt. Ab und zu hat er noch von seiner Vorstellung von dem einen geredet, aber so wie man das macht, wenn man sich dabei selbst nicht zuhört.
Samir deutet auf ihn, und Fede fühlt sich von demselben Finger gemeint, der auch in mich eindrang, als Samir sagte, du bist immer dann feucht, wenn ich das will.
Fede bewundert Samir, er möchte unbedingt seine Gedichte lesen und ihm seine Gedanken dazu mitteilen. Ich hatte sie auch lesen wollen, all die Zeilen. Alle Zeilen. Ich schaue weg.
Dein Freund, fragt Marie, wie lange habt ihr in Wien?
Da wird nichts laufen, beruhige ich Marie. Und als sie mir nicht antwortet, sage ich, keine Sorge, Fede ist nicht sein Typ, bis ihr Kiefer sich lockert.
Ich weiß, dass Marie Angst davor hat, ihren Bruder an jemand anderes zu verlieren, weil man bei Menschen, wenn man sie verliert, in der Regel genau weiß, wo man sie suchen müsste, aber sie dann nicht mehr eingesteckt und mit nach Hause genommen werden wollen. Samir ist schon weiter weg von Marie, als sie ahnt, weiter weg als von ihr bis zum Sofa. So weit, dass er in ihrer Abwesenheit nachsichtig über sie spricht und sagt, dass sie es schon noch irgendwann schaffen wird, auf eigenen Beinen zu stehen.
Weißt du, willst du uns nicht noch einen Wein aufmachen, was magst du lieber, Rot oder Weiß.
Rot, ruft Marie, oder Weiß, ist mir egal, Hauptsache, keinen Rosé.
Bring ich dir, sage ich und wähle aus dem Kühlschrank eine Flasche mit einem guten Hals aus, einem, der es aushält, an den Mund angesetzt oder an die Wand geschlagen zu werden.
Marie zündet sich eine Zigarette an und winkt den Rauch zum Küchenfenster. Ich betrachte ihren breiten Mund und das nervöse Gold an ihren Handgelenken.
Ganz deutlich spüre ich wieder, Großstädter sind die, die wie Marie sind, mit ihrer auf links gedrehten Achtsamkeit und dem heißen Sommer in Beton. Fede und ich sind Menschen vom Dorf, die in der Großstadt leben, mit simplen Gedanken und warmer Unterwäsche.
Übrigens, mit Alex, ruft Marie, die ihm Türrahmen stehen geblieben ist, aber dann unterbreche ich sie, da steht Rusalka auf dem Etikett, das ist eine Oper von Antonín Dvořák. Was, fragt Marie, wie kommst du jetzt darauf.
Rusalka, sage ich, das ist die Geschichte mit der kleinen Meerjungfrau, Rusalka bekommt Beine und darf an Land, und dann verliebt sich ein Prinz in sie.
Und dann, fragt Marie. Ich weiß nicht mehr genau, sage ich, er geht fremd, oder war das in Arielle, vielleicht ist es auch dieselbe Geschichte, da geht es doch eh immer um ihre Fischschwänze und die Irrlichter und das Uferlose und um die Prinzen, die sie rauslocken, und die Verwandelten, die dann nicht mehr zurückkönnen.
Krass, sagt Marie.
Ja, so schmeckt er auch.
Wie, fragt sie.
Irgendwie fischig.
Super, sagt Marie, den müssen wir im nächsten Semester mal den anderen mitbringen.
Im letzten Jahr hatten wir die gemeinsamen Momente, die mich so sehr geprägt haben, dass ich Maries Abdruck manchmal in meinem Gesicht spüre, ihre brachiale Laune, ihr Mirdochegal, das sich in den guten Momenten wie mein eigenes anfühlt.
Ich denke oft an dich, auch wenn wir uns in den letzten Monaten nicht so häufig gesehen haben, sage ich zu ihr, während ich mir den Rusalka und Marie einen Verschnitt einschenke, Marie lächelt mich an.
Nachdem ich es ihr gesagt habe, fühle ich mich nicht besser, auch nicht schlechter, nur so, als hätte es etwas Dringlicheres zu sagen gegeben, auf das ich aber nicht gekommen bin.
Geil, oder, sagt Marie nach einer Weile und deutet auf die Sterne, die über uns hinwegziehen, war sogar im Angebot.
Es gibt jetzt diese App, sage ich, wo man nur das Handy nach oben halten muss, und dann wird einem schon angezeigt, welche Sternzeichen da gerade zu sehen sind.
Alex hatte einmal damit angefangen, und ich habe ihm seine Begeisterung nie ganz abgenommen, ich bin mir jetzt noch nicht sicher, was er mir eigentlich damit sagen wollte, oder ob es ihm immer nur darum ging, nicht mehr derjenige zu sein, der als Erstes auf den Großen Wagen deutet.
Ich find’s ja gut, sage ich, dass Menschen noch den Drang haben, Synonyme für Unfälle zu finden, dass sie das jetzt kosmische Kollisionen nennen, und ich denke daran, dass es acht Planeten gibt, aber ich mich auf die schwarzen Löcher konzentriere, dass ich immer noch über Pluto rede, aber dass er davon auch nicht größer wird.
Sag das mal meinem Bruder, sagt Marie, dem würde das gefallen, wie du redest, wusstest du, dass es einen Sturm auf dem Jupiter gibt, der seit dreihundervierzig Jahren ununterbrochen wütet.
Ne, wo steht das.
Jetzt weißt du’s, sagt sie, auf Instagram.
Na dann, ich nehme einen Schluck, schaffen wir die nächsten sechzig hier ja auch noch.
Sicher, nickt Marie und stemmt die Hände in die Seiten.
Heute Abend beten wir noch, zu Allah oder Gott, sagt sie dann zu Lukas, der an ihr vorbeikommt, und sie nickt nach oben, was glaubt ihr, fragt sie, wie das von dort aus aussieht. Sie deutet zur Küchendecke, aber meint vielleicht den Himmel oder glaubt ihr an Karma.
Ich glaube, man bekommt immer, was man verdient, sage ich, aber man kann sich meistens heimlich mehr nehmen.
Ich möchte ein Foto machen und es Alex schicken, aber mir fällt kein Motiv ein, auf das er mir antworten müsste.
Wie schmeckt dein Wein, frage ich Marie.
Ich finde, er schmeckt irgendwie hinterlistig, sage ich, Marie schaut schon wieder zu Samir und Fede, wie ein trockener Weißwein, der sich als süßer Rosé verkleidet, wie ein Rachefeldzug, auf dem man sich die Lippen rot anmalt, weil man weiß, man wird heute die neue Freundin des Ex-Partners treffen, und man weiß, man wird sie auf beide Wangen küssen und ihr Outfit loben und sie wird es erwidern und irritiert sein von der ganzen Freundlichkeit, der Gelassenheit und dem warmen Empfang, bis man sich entschuldigt und wieder ins Auto steigt und dem glücklichen Paar winkt und die Sitzheizung auf drei stellt und denkt, die Herzenswärme, die ist eigentlich Fieber.
Mann, Anna, unterbricht mich Marie, kannst du nicht einfach sagen, der Rosé ist dir zu süß?
Wie geht es Alex, fragt sie dann, den Blick endlich auf mich gerichtet, bist du sicher, dass wir nicht zu ihm gehen sollten?
Ne, ne, sage ich, ich war die letzten Tage bei ihm, und er meinte, heute sollte ich den Abend genießen.
Okay, nickt Marie, nett von ihm, und gut von dir, dass du da auf dich achtest.
Ja klar, sage ich.
Ich möchte jetzt einen anderen Weg einschlagen, hatte er mir bei unserem letzten Gespräch ans Schlüsselbein geschrien, irgendwie wortwörtlich, für einen Moment hatte ich geglaubt, er würde Beton aufbrechen wollen. Wenn ich wüsste, wo Alex jetzt ist, würde ich sofort losziehen.
Alex hat einen Cut mit mir gemacht, genau wie mit dem Bankstudium, darin ist er ein Naturtalent.
Alex hatte die Schule nach der elften Klasse abgebrochen, um Cutter zu werden. Wenn Alex den Abend filmen würde, könnte er Fede und Samir einfach rausschneiden.
Er hatte es professionell machen wollen, weil er schon mit siebzehn dafür schwarz bezahlt wurde. Hunni ist Hunni, hatte er dann gesagt. Mit hundert Euro konnten wir viel machen. Erdbeeren klein schneiden, in Schokolade tunken und uns ein Tretboot holen, die Handymusik laut stellen und in den wolkenlosen Himmel brüllen. Ich konnte ihm die Schokoladenschlieren vom Bauchnabel küssen, er konnte mir das Bikinioberteil mitten auf dem See ausziehen und mich mit der Hand befriedigen, und ich konnte so lange laut stöhnen, bis ein anderes Boot anfing, auf uns zuzupaddeln, und dann hatten wir immer noch achtzig gehabt, um für die nächste Woche einzukaufen.
Samir sieht von der Couch aus zu mir herüber, während Fede auf ihn einredet. Er möchte eine Stellungnahme zu seinem Verhalten, aber ich halte nicht an, ich bleibe nicht stehen, ich drehe mich von ihm weg, und Marie fängt meinen Blick ab, und ich umarme sie. Heute ist die Nacht, wippt sie in mein Ohr, ich küsse sie auf die Wange und wanke uns zum Balkon, weil mir der Raum plötzlich zu voll ist.
Geh du mal, lacht sich Marie aus unserer Umarmung, ich muss in die Küche, die Getränke verteilen.
Kaum bin ich draußen, sehe ich eine Frau rechts von mir, die sich so weit über die Brüstung lehnt, dass ich sie von drinnen nicht sehen konnte.
Das ist jetzt schräg, meint sie, aber ich habe Julia immer beneidet.
Ich auch, sage ich.
Wirklich, fragt sie, und ich nicke.
Ich wette, Julia konnte ihm alles glauben, und zwar weil er so jung war, vierzehn oder so, je älter, desto unglaubwürdiger, mit Mitte dreißig ist doch niemand mehr Single, wer kann da noch behaupten, er wäre nicht in einer offenen Beziehung.
Hier, sagt sie, ich meine Julia Mayr, aus SoWi.
Ah, weil du auf dem Balkon stehst, versuche ich, zu erklären, und denke, weil sie so melodramatisch ausschaut, mit ihrem geflochtenen Zopf und dem verschnörkelten Ausschnitt.
Nein, sagt sie, weil Julia immer schöner war als ich, aber das ist nicht der Punkt, sondern jetzt ist er mit ihr zusammen.
Okay, sage ich, verstehe.
Und selbst das, sagt sie und haut ihren Zeigefinger in die Luft vor mir, selbst das ist nicht das Schlimmste, das Schlimmste ist, dass ich vorgestern ein Attest brauchte und der Arzt meinte, zeigen Sie mir mal genau, wo es jetzt gerade wehtut, und dass ich dann angefangen habe, zu weinen, weil mich das so lange niemand mehr gefragt hat, ich brauche ein neues Leben.
Ja, sage ich, ich weiß genau, was du meinst.
Ich nehme einen großen Schluck aus meinem Glas.
Wie findest du den Rosé, ich finde, er schmeckt wie eine Babyshower im amerikanischen Reality-TV, als würde ein großer Ballon zerplatzen und rosa Papierschnipsel würden auf einen herabflattern, und eine sehr große Blondine auf weißen Highheels schreit links hinter einem, oh my God, it’s gonna be a girl.
Magst du Rosé, frage ich Linda und reiche ihr Fedes Glas. Linda schluchzt trocken auf und nimmt einen großen Schluck.
Das ist kein Rosé, sagt sie dann, das schmeckt wie Bowle mit Erdbeeren und Vanillezucker, was soll ich denn jetzt machen.
Meine Freundin, sage ich, meinte mal, Rosé ist der Beweis dafür, dass man sich nicht für Rot oder Weiß entscheiden muss, dass auch die ganzen Zwischentöne gut schmecken können.
Okay, schnieft Linda.
Jara hatte das bei einer Feier gesagt und dabei quer durch den Raum auf Lukas gezeigt und gesagt, ich bleibe jetzt bei dem Zwischentönchen dort.
Zu dem Zeitpunkt waren die beiden schon seit zwei Jahren ein Paar gewesen, und ich hatte genickt, weil ich Jara alles zutraute, auch, den Rest ihres Lebens Rosé zu trinken, kurz hatte ich mich gefragt, wie sie das anstellen wollten, aber auf der anderen Seite konnten Jara und Lukas vieles, was ich nicht konnte, zum Beispiel gut weißen Fondant ausrollen, chemische Formeln ausgleichen, gemeinsam auf einer Anti-FPÖ-Demo Dr. Martens-Schuhe tragen, Sprengkörper zünden und trotzdem liebenswert aussehen, und wenn sie das zusammen schafften, dann traute ich ihnen auch alles andere zu.
Okay, sagt Linda noch einmal, aber glaubst du, dass ich klammere, sag mir das ehrlich.
Klammern, sage ich, das macht doch jeder, ich zum Beispiel auch. Ich hebe meinen Rosé, um mit ihr anzustoßen, und entsperre dann mein Handy, während Linda in die Nachtluft starrt und nachdenkt.
Ich kann nicht aufhören, Elins gemusterte Strumpfhosen immer wieder aufzurufen, ihre überkreuzten Beine, ihre Knie, die auf Alex zeigen, ihren Schoß, der sich in seine Richtung dreht. In den letzten Wochen habe ich öfter an Elin gedacht als an die Bäume vor Samirs Fenster, öfter als an die Schuhe, die auf der Fußmatte ohne mich darin verloren aussahen.
Ich möchte etwas über gemusterte Strumpfhosen wissen, ich möchte sie fragen, wie sie sich das mit den Quadraten auf ihrem Oberschenkel vorstellt, was sie sich dabei denkt, Muster zu tragen und ein Kleid anzuziehen, was für Möglichkeiten sie sich damit ausrechnet und ob sie heute schon auf Alex zählen konnte.
Die einzigen Menschen, über die ich mir Gedanken mache, sind die Männer, in die ich verliebt bin, und die Frauen, in die sie verliebt sind.
Wirklich, fragt Linda, weil ich habe das Gefühl, ich klammere.
Quatsch, sage ich, Verlustängste, wie soll man die denn nicht haben, wenn man immer so kontextlos bleibt, wenn einen der Alltag dazu zwingt, die Zusammenhänge nicht mehr zu begreifen, wenn man immer nur die Spülung drücken muss, damit alles verschwindet, und niemand mehr weiß, wo die Dinge hingehen, was mit den Blumen auf dem Kreisverkehr passiert, sobald sie welken, da ist es doch kein Wunder, wenn man sich wünscht, mit etwas oder jemandem einmal von Anfang bis Ende vertraut zu bleiben, verstehst du, was ich meine.
Sie schüttelt den Kopf, ich dachte jetzt eher wegen Julia, ob ich da klammere.
Ne, meine ich, das glaube ich nicht.
Wirklich, danke, sagt sie und umarmt mich, ich bin Linda. Für einen Augenblick erwidere ich den Griff und halte meine Arme fest um sie, weil ich plötzlich Angst bekomme, dass sie sonst davonschweben könnte, als wäre sie ein Ballon, aus dem schon ein wenig, aber nicht genug Luft gelassen wurde.
In dem Moment schiebt Fede seinen Kopf durch die Balkontür und winkt mich wieder nach drinnen.
Tut mir leid, sage ich, ich habe eben zwei Gläser gebraucht.
Macht nichts, meint Fede, hat auch so funktioniert. Er strahlt mich an, und seine Augen lächeln selbst im Hintergrund noch, die sind ausgefüllt mit Vorfreude, weil wir in Wien sind und ich bei ihm bin und er verliebt ist.
Im Wohnzimmer beobachtet Fede Samir dabei, wie er sich die Hand beim Gähnen nicht vor den Mund hält und sich danach eine Strähne aus dem Gesicht wischt, ohne dass die Festivalbändchen an seinem Handgelenk verrutschen.
Ich frage mich, ob das zum Frausein gehört, dass ich mir trotz jedem reposteten Tweet zum Thema Feminismus sofort vorstelle, wie es wäre, in seinem Bett liegen zu bleiben, dass ich mir sofort vorstelle, wie ich hinter seinem Nachnamen verschwinden könnte.
Es ist eigentlich kein Rosé, sage ich, er schmeckt wie eine Bowle mit Erdbeeren und Vanillezucker, probier mal, Linda und ich finde ihn zu süß.
Dafür trinkst du nicht schlecht, sagt Fede.
Hi, sagt Linda und winkt ihm vom Balkon aus zu, das meiste davon war ich.
Wenn man viel trinkt, verändert der Rosé seinen Geschmack, erkläre ich Fede, dann wird er plötzlich bitter. Linda nickt und bleibt draußen, um kurz alleine zu sein mit der kalten Luft und dem Polarstern, der schon für sie gefunkelt hat, als sie noch ein Kind war.
Gehst du noch laufen? Schreibt meine Mutter.
Warum?
Hier, sie schickt mir das Bild einer alten Laufhose. Und hier.
Können wir das am Wochenende machen?
Meine Mutter tippt, geht offline, geht wieder online, tippt, jetzt bin ich grade schon mal dabei.
Ich stecke mein Handy kurz ein und atme tief durch. Das war noch nie gut, wenn meine Mutter grade schon mal dabei ist.
Fede hält mich am Ärmel fest und nickt bedeutsam zu der ausladenden Wendeltreppe rechts von uns, wusstest du, dass sie einen eigenen Aufzug für die Dachterrasse haben, fragt er mich, während wir in die Küche gehen. Ich denke daran, dass ich zu Alex einmal meinte, seine Liebe sei ein Fahrstuhl, der irgendwann stecken geblieben ist, aber zu einem Zeitpunkt, an dem zum Glück niemand drin war.
Ich passe nicht mehr rein, schreibe ich meiner Mutter, kannst du weitergeben.
Mein Vater war sein Leben lang Läufer gewesen. Ich war neben ihm hergejoggt, selbst mit Seitenstechen, Gras, Gras, Beton, Schotter, unsere Füße nebeneinander.
Weil meine Mutter gerade schon mal dabei ist, macht sie mit den unteren Schubladen weiter.
Da liegt der vierzigste Geburtstag meines Vaters.
Schau mal, schreibt sie. Auf dem Bild steht mein Vater über allem, in der Therapie habe ich ihn einmal als Bär gemalt, der mit seinen Armen unsere Familie einrahmt, eine Hand hat er auf meiner Schulter abgelegt, die andere auf der meiner Mutter.
Meine Mutter ist eine Frau, die gut aussieht, wenn sie lächelt. Ihre blonden Haare hat sie geflochten über die Seite geschwungen, und die grobmaschige Strickjacke trägt sie immer zugeknöpft, seitdem sie mit meinem Bruder und mir schwanger gewesen war. Wie süß!, schreibt meine Mutter und zoomt auf mein Kindergesicht. Sie hält sich gerne in der Vergangenheit auf, weil da nichts Unerwartetes mehr passieren kann. Wie machen das Eltern, dass sie ihren Kindern immer Fröhlichkeit ansehen?
Als Antwort fange ich ihr vier Sekunden lang tanzende Menschen aus dem Wohnzimmer ein.
Wir waren immer eine Familie gewesen, die gut Weihnachtsgrußkarten an Bekannte verschicken konnte, weil man auf Grußkarten nichts machen muss, außer zuversichtlich in dieselbe Richtung zu lächeln.
Das konnten meine Eltern gut, selbst, als sie ihre Erwartungen nicht mehr laut aussprachen. Es kam nie so weit, dass man meiner Mutter eine Schwangerschaft ansehen konnte. Aber bei den ersten drei Versuchen sprach sie noch von meinem Brüderchen.
Wenn sich meine Mutter in den letzten zwei Schwangerschaften nach meinem Vater umdrehte, war er schon einen Schritt voraus. Wenn sie in die Küche kam, hatte er die Eier schon aufgeschlagen, wenn sie in dem Flur kam, hatte er ihr schon die Jacke aus dem Schrank geholt.
Meine Mutter wollte mit ihrer Trauer bei ihm einziehen, aber mein Vater wollte nicht trauern, jedenfalls nicht so lange, nicht die ganze Zeit, er ging rennen, und ich rannte mit, meine Mutter ging in den Garten. Ich bekam Alex, meine Mutter einen Familienhund und mein Vater eine Affäre.
Habt ihr das alles getrunken, schreibt meine Mutter in dem Moment mit diesem Smiley, der die Augen so weit aufreißt, weil sie die Flaschen auf dem Tisch gesehen hat, schon gut, schiebt sie dann hinterher, Mama hört ja schon auf zu kontrollieren, aber ich stecke mein Handy wieder ein, ohne ihr zu antworten. Nach der letzten Schwangerschaft wurde meine Mutter eindimensionaler.
Manchmal blieb ich während des Laufens stehen. Dann drehte sich mein Vater um, was ist? Ich rang nach Atem. Was ist? Nichts, sagte ich. Na dann, sagte er, weiter. Die Leute, bei denen was ist, die gehen nicht weiter, wenn sie einmal stehen bleiben.
In Wien bin ich die Brücken abgelaufen, aber es gab keine Fußabdrücke mehr, denen ich hinterhertreten konnte, überhaupt war der Beton nicht gut für die Knie, sie taten weh, wenn ich länger rannte, und ich hielt mir die Seiten und konnte niemandem sagen, dass nichts war.
Im Nachhinein. Im Nachhinein waren die Nachmittage mit den Landkarten, die Geocache, die Google Maps-Routen und die FitBit-Uhren nur Fluchten gewesen. Wir longierten um meine Mutter herum, weil sie nicht Nichts sagen konnte, wenn was war. Sie schmiss Sachen nach meinem Vater, um ihn zu berühren, erst Küchenschwämme, dann Besteck.
Deine Mutter, sagte mein Vater zu mir, während ich neben ihm herlief, müssen wir im Blick behalten.
Okay, erwiderte ich, die Augen auf den Horizont fixiert.
Einmal kam ich abends nach Hause, und er war nicht da.
Papa ist laufen, sagte meine Mutter.
Wo, fragte ich.
Keine Ahnung, sagte sie, sagt ihr mir ja nie.
Er kommt nicht wieder, dachte ich. Weil die Schuld nicht hier war, die hatte ja weder ich noch sie noch er, ich ahnte, wenn wir sie nicht hatten, dann musste sie trotzdem irgendwo anders sein, ich hatte Angst, er würde sie suchen gehen, nicht hier, sondern vielleicht in Thailand oder in der mongolischen Steppe.
Lukas dreht im Wohnzimmer die Boxen lauter, Brainy, alle fangen an, zu wippen, everything you say has water under it.
Ich muss dir was erzählen wegen Alex, sage ich zu Fede, aber in dem Moment kommt Erik auf uns zu. Ich mag Erik, weil er online ehrlich ist, er postet auf Instagram auch die Stunden, in denen er immer wieder ein großes Stück Parmesan abbricht und es tief in grünes Pesto tunkt.
Erik, sage ich, während wir drei uns nacheinander umarmen, studiert mit uns zusammen.
Kommt mal alle her, höre ich in dem Moment Marie schreien, ich hole jetzt die Wunderkerzen.
Marie muss man nie lange suchen, die ist immer bei den Vielen. Wenn Silvester wie ein One-Night-Stand ist, dann benimmt sich Marie so wie der Mann in meiner Wohnung heute Morgen, der nicht wieder verschwinden wollte, weil gerade alles so gemütlich war. Marie klammert sich an die Sekunden und schaut jedem tief in die Augen, immer auf der Suche nach der Resonanz mit den Richtigen. Dann winkt sie mir aus der Küche aus zu und deutet an, dass ich den anderen nachschenken soll.
Ich geh mal zu ihr, sagt Fede und lässt Erik und mich an der Balkontüre stehen.
Gemeinsam beobachten wir weiter die wippenden Grüppchen und bleiben dann mit dem Blick bei Fede hängen, der auf dem Weg zur Küche von Samir abgefangen wird. Samir hält ihn sanft am Unterarm fest, während er mit ihm zusammen zu den Illusionen tanzt, und Marie manövriert sich mit flinken Bewegungen durch das Wohnzimmer, als wäre sie eine Eisprinzessin.
Ich träume davon, sage ich zu Erik, der wie üblich anfängt, sich in Slow Motion eine Zigarette zu drehen, mich auch mal so richtig gehen zu lassen.
Ich auch, sagt Erik, ohne das Gesicht zu verziehen, aber mehr so als Fluchtgedanken. Geht jeder anders damit um, oder, meint er dann.
Mit was, frage ich, aber Erik antwortet nicht und lässt den Blick nur zwischen den Geschwistern hin- und herschweifen. Zwischen Samir, der sich zu Fede hinunterbeugen muss, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern, und Marie, die mit ausgestreckten Armen alleine durch die Menge tanzt.
Was meinst du, frage ich noch mal.
Häuslichkeit, sagt er, das sind die Sofas und die Fotos am Kühlschrank, das sind die Feiertage und das Fernsehen, und ich verstehe nicht, warum sie das nicht schulische Gewalt nennen, wenn jemand einen in der Schule gegen die Wand schubst, oder pärkliche, sträßliche, nächtliche Gewalt. Nur die häusliche Gewalt, die gibt es, als gäbe es für dieses System Ausnahmen, in denen es verständlich ist, dass einer den Teller nimmt und ihn durch den Raum schmeißt, dass einer dem anderen den Kopf durch das Treppengeländer drückt.
Meinst du.
Erik bietet mir eine Zigarette an, ich sehe so was, hat sie nie mit dir darüber gesprochen.
Nein.
Erik rollt seinen Tabak wieder ein, mit mir auch nicht, aber so was sehe ich.
Für einen kurzen Moment schweigen wir wieder, und Erik legt die Stirn in Falten, bis ich es nicht mehr aushalte, jetzt sag doch, was du über die beiden weißt, und Erik schaut mich an, ich habe gar nicht länger darüber nachgedacht. Ich habe mich gerade gefragt, welche Werbung Putin geschaltet bekommt, sagt Erik, und bevor ich ihm antworten kann, verabschiedet er sich grußlos und zieht weiter, zur nächsten Person, die gerade ohne Kontext ist.
Jara kommt auf mich zu. Wir lassen jetzt alle gemeinsam das alte Jahr los, sagt sie und sieht mich bedeutungsvoll an, bevor sie mir mein Glas nachfüllt und mit einem großen Schluck bis zur Hälfte leert.
Ich greife auch danach, finde ich gut.
Nein, so nicht, sondern im Wohnzimmer, Lukas kann das, er hat da einen Workshop gemacht.
Einen Workshop, wie man ein Jahr richtig loswird.
Jara nickt, zum rituellen Ausräuchern, sie kippt den Rest des Rosés, ’tschuldigung, murmelt sie, ich hol dir einen neuen.
Es dauert nicht lange, ruft sie, während sie den Kühlschrank inspiziert, es ist nur ein Spiel, und es ist auch ganz leicht.
Ich schaue auf Jaras Bauch, der gar nichts macht, während sie Weinflaschen öffnet, der ist einfach nur da, und ich sehe ihr ins Gesicht und suche nach etwas.
Mein Blick rutscht wieder runter, über ihren Bauchnabel, der gegen ihr T-Shirt atmet, und zu ihrem Hosenbund, und zu dem kleinen silbernen Knopf daran.
Na dann, sage ich, als wüsste ich nicht, dass bei Jara gar nichts leicht und spielerisch ist, bei Jara ist alles jahrelang und schwer. Lukas zum Beispiel, dem zuliebe sie jetzt wieder aus der Küche verschwindet, mit zwei Gläsern Bowle und Räucherstäbchen in der Hand.
Im Wohnzimmer fragt Fede mich, ob Samir in Ordnung ist, der jetzt gerade sein Handy neben den Lautsprechern an ein Ladekabel steckt. Er beobachtet ihn dabei, wie er sich die Hand beim Gähnen nicht vor den Mund hält, seinen Kopf schüttelt und sich eine Strähne aus dem Gesicht wischt, ohne dass die Festivalbändchen an seinem Handgelenk verrutschen.
Ich meine, sagt Fede, abgesehen davon, dass er so nuschelt.
Ich habe Samir auf einer Uniparty kennengelernt, sage ich, und das Erste, was er meinte, war, dass er einer von den Guten ist.
Fede und ich bücken uns, um die Räucherstäbchen und etwas anderes aufzuheben.
Das ist dir aus der Jackentasche gefallen, Fede reicht Jara das Stofftier.
Es passt da einfach nicht rein, sie übergibt mir die Gläser und versucht es trotzdem, sie knautscht das Bienentier zusammen und stopft es zurück in ihre Hosentasche.
Obwohl ich Jara genau gleich lang kenne wie Marie, weiß ich, dass Fede mich über Jara nicht ausfragen wird, weil Jara im Gegensatz zu Marie nicht wie jemand wirkt, der sich gerade auf einem Kreuzfahrtschiff befindet, sondern eher so, als wäre sie selbst das Kreuzfahrtschiff, halb versunken und hafenlos.
Lukas ist das sehr wichtig, sagt Jara leise, und weil es deshalb Jara sehr wichtig ist, sage ich, das klingt super, rituelles Ausräuchern, Jahr loswerden, da bin ich dabei.
Plötzlich ist das keine Beziehung, sondern ein Freilichtmuseum, und ich setze doch wieder den Rosé an, den ich aus der Küche mitgenommen habe, fasse ihn am Hals und trinke, weil ich das Bedürfnis habe, schnell betrunken zu werden und etwas am Hals anzupacken.
Wir brauchen noch gute Musik, ruft Marie uns in dem Moment entgegen, wer hat denn was?
Fede, sage ich, hat eine Playlist.
Aber nicht für jetzt, ruft Fede, die ist für später.
Dann mach doch was anderes, ruft Marie begeistert, du musst ja nicht shuffeln.
Okay, sagt Fede, aber sonst fällt ihm nichts ein, das Einzige, was Fede auf Repeat hört, sind 3 hours relief anxiety and stress peaceful meditation music auf YouTube.
Ich hab was, sagt Samir.
Jara lässt sich neben mir auf den Perserteppich fallen, setzt sich das Bienentier auf ein Knie und winkt damit Lukas zu, der in der Mitte des Kreises steht. Er kommt auf sie zu, streichelt dem Bienentier über den Kopf und nimmt ihr die Räucherstäbchen aus der Hand.
Danke, sagt er leise und nickt ihr knapp zu, als wären sie Geschäftspartner kurz vor einem sehr wichtigen Deal.
Im Frühjahr habe ich Bilder von Jara und Lukas gesehen, da waren sie auf eine Hochzeit eingeladen. Als ich sie geliked hatte, schrieb sie mir später, sie würde auch gerne heiraten, schlimmer sogar, sie schrieb, ich möchte gerne unter die Haube, und ich denke, sie stellt sich die Haube vor wie eine Kuppel, unter der man selbst in Schräglage nicht mehr abrutschen kann.
Lukas klatscht in die Hände, ihr müsst mir zuhören, sagt er, wir können das letzte Jahr jetzt ausräuchern.
Ne, sagt Samir, von so was bekomme ich immer Migräne. Der Kreis, der sich gerade gefügig auf dem Teppich niedergelassen hat, wird plötzlich wieder unruhig. Wenn Samir etwas sagt, dann nimmt man sich die Zeit, um zumindest nachzudenken, ob er recht haben könnte.
Das ist nicht so schlimm, erwidert Lukas lässig, danach fühlt ihr euch gereinigt und entspannt. Er zündet zwei der Räucherstäbchen an, die er in einer Vase mit Sand vor sich aufgestellt hat.
Wir fangen erst mal an mit Listen, sagt er, aber keine Vorsätze, sondern Nachworte, schreibt einfach auf, was euch dazu über das letzte Jahr einfällt. Niemand sonst protestiert, weil es immer diese paar Stunden vor Silvester sind, die jedes Jahr überbrückt werden müssen, und jedes Mittel dazu recht ist, das Bleigießen und Filmschauen und Anrufemachen, das Nachrichtenschreiben und das letzte Mal Sexhaben im alten Jahr. Heute sind es eben die Listen, die Lukas in einer Schuhschachtel sammeln möchte, und alle beugen sich nach vorne und schreiben mit Werbekulis auf weißes Papier.
Hoffe, dir geht’s gut, schreibt meine Mutter und schickt mir ein Bild von unserer Katze, Luna chillt.
Wir auch, schreibe ich zurück und antworte mit einem Bild, auf dem man nur den Wein in meiner Hand erkennen kann.
Schau mal, kommt zurück, was ich noch gefunden habe. Noch einmal schickt sie mir einen Rückblick, heute vor drei Jahren.
Der Rückblick meiner Mutter besteht aus Bildern von meinem Vater. Eingescannte Bilder von ihrer Hochzeit vor zweiundzwanzig Jahren, die letzten Tage im Krankenhaus, die Zeit dazwischen: mein Vater mit Alex im Arm, seinem Schwiegersohn in spe.
Den Rückblick meines Vaters hatte ich nie gesehen, wir hatten ihm sein Handy mit ins Grab gelegt, weil es sich falsch anfühlte, es zu behalten. Ich weiß, dass meine Mutter nie nach Nachrichten auf seinem Handy gesucht hat, vermutlich hat sie nicht mal seinen Code gekannt.
Mein Vater hatte noch ein anderes Leben gehabt, auf der Beerdigung hatte ich seine Kollegen gesehen, mittelalte Männer mit Familie. Da hatte ich mir zum ersten Mal vorgestellt, wie er sich jeden Morgen ohne mich durch die Bewölkung getragen, wie er sich in die stoffkarierten Sitze der Deutschen Bahn gedrückt hatte und immer in der Nähe geblieben war von den gelben Haltegriffen der Straßenbahnen und den Türklinken der Arztpraxen und den Schiebetüren der Supermärkte. Ich glaube, froh war er nicht im Beton, aber die Routine hatte etwas für sich, was ihm wichtig war, den Heimweg vielleicht oder den immer gleichen Blick auf die Bäume im Hinterhof.
In meinem Rückblick ist kein einziges Bild meiner Mutter, nur ein Cappuccino mit Schaumkrone, ein Screenshot aus der Tagesschau, ein Nacktbild mit Strapsen, Highheels und Filtern, ein Schaufenster mit heruntergesetzten Schuhen, ich versende ihn an niemanden.
Gleich darauf folgt ein animiertes GIF einer glitzernden Sternschnuppe, falls du jemand verloren hast, steht da in gelber Comic Sans-Schrift drunter, wacht er nächstes Jahr über dich!!
Das tut er bestimmt, schreibt meine Mutter.
Auf jeden Fall, antworte ich mit extra vielen Sternchen-Smileys.
Jaras Handgelenk bewegt sich schnell neben mir, ihr Stift kratzt auf dem dünnen Blatt, weil ihr zu Nachwort gleich einige schwere Dinge eingefallen sind, die seitenlang dauern.
Ich mache eine Liste der Dinge, vor denen ich Angst habe. Vor den nicht abgehörten Sprachnachrichten, dem gemeinsamen Essen, den Gesprächen im Gang, den Abgabeterminen, den Wasserflecken, den ersten Stunden auf einer Geburtstagsfeier, vor dem Gehen am Bahngleis, vor dem Schlafzimmerboden, dem Zuspätkommen am Morgen, vor der Kälte, den Fahrkartenkontrolleuren, den leichten Enttäuschungen, den Litfaßsäulen, den Ersatzhandlungen, den Taschentüchern, den fleckigen Ärmeln, den auf links gedrehten Klamotten, den Durchsagen, den Schamhaaren, dem Umsehen im Warteraum, vor der Mittelmäßigkeit aus Zeitdruck, vor meiner Gegenwartslosigkeit und vor meiner Beklemmung über den Haarausfall der Menschen, die ich liebe.
Das war schon gut, sagt Lukas und legt die vollgeschriebenen Listen in einem Schuhkarton ab, aber gleich müsst ihr noch ehrlicher sein.
Noch ehrlicher, frage ich, und Jara lacht neben mir aufgekratzt.
Wirklich, sagt Lukas. Es ist wichtig, sonst funktioniert das mit der Energie nicht, die muss in die Steine, die ihr beschriftet, und die werden wir nachher gemeinsam vor Mitternacht in die Donau schmeißen.
Um mich abzulenken, gehe ich kurz wieder ins andere außen. Ich öffne Instagram und skippe durch die Storys, aber was bringt mir ein Winter wie aus dem Bilderbuch mit meinen Pornhubgedanken.
Anna hat einfach keinen Bock, sagt Samir, die hängt nur am Handy, versteh ich.
Ich habe aber auch nichts, was ich loswerden möchte aus dem letzten Jahr, flüstert Linda neben mir.
Dito, sage ich knapp und stecke mein Handy wieder ein, mir fällt wirklich nichts ein, was ich loswerden möchte, nicht einmal etwas, das ich mir aus der Vergangenheit zurückwünsche, außer noch einmal wie früher nach dem Mittagessen bei Familientreffen unter dem Tisch verschwinden können, ohne dass es mir jemand übel nimmt.
Ich beobachte Lukas, der in der Mitte kniet, bei ihm gibt es viel loszuwerden aus dem letzten Jahr, ich hebe meine Hand und sage, ich hätte auch Bock.
Lukas taxiert mich für einen Augenblick, nicht jeder darf zu jedem etwas sagen, meint er dann.
Langweilig, ruft Samir, dann spiel ich nicht mit.
Ich auch nicht, sagt Marie, außer man darf zu jedem was sagen. Und dann!, fügt sie warnend hinzu und deutet grinsend in die Runde.
So gut kennen wir uns doch gar nicht, sagt Linda, um zu jedem was zu sagen.
Eben, ruft Samir, du musst dann raten, was der andere loswerden möchte, das ist doch das Lustige.
Ich kenne euch viel zu gut, sagt Jara und schlägt die Hände vors Gesicht, ich wünschte, ich könnte noch raten.
Marie lacht, und Lukas gibt nach, okay, okay, jeder zu jedem was, sagt er, wir fangen jetzt in Stille an, lehnt euch zurück und stellt euch genau vor, was ihr Silvester vor einem Jahr gemacht habt.
Also, um die Uhrzeit letztes Jahr, wiederholt Marie fragend, und Lukas nickt. Weiß ich, antwortet Samir, da hast du schon gekotzt.
Generell, sagt Lukas, den ganzen Abend, Stimmungen, Bilder, Eindrücke, Farben, Gerüche.
Bitte keine Gerüche, sagt Samir, aber dann wird es still.