4. Kapitel

Vor einem Jahr träumten Alex und ich von Urlaub, obwohl es uns nicht darum ging, neue Erfahrungen zu sammeln, sondern keine von den gleichen mehr machen zu müssen. Er dachte dabei an den Windfang des Pflegeheimes, an die Ausfahrt an der A23, an die Vorratspackung Parisienne in seiner Schublade am Arbeitsplatz, an die Taschentücher auf seinem Nachtisch, an die Filmabende, an die netten Gespräche, und wenn er einen Wunsch frei gehabt hätte, dann hätte er gerne niemandem mehr eine Antwort geschuldet. Tagelang haben wir gesucht und sind dann doch nur nach Rügen gefahren.

Vor einem Jahr habe ich mir das schön vorgestellt, mit Alex in den Urlaub zu fahren, ich habe da immer an seinen alten Volvo gedacht und an seine Hand, die mein Knie ab und zu streifen würde. Ich dachte an Thermoskannen mit Hagebuttentee, an geschnitzte Äpfel und an so viel Gepäck, dass ich aus dem Seitenfenster schauen müsste, um ihm zu sagen, wie er rückwärts einparken sollte.

Der Volvo ging wenig später kaputt, und so sind wir dann doch nur lange Zug gefahren. Wir bummelten uns durch bis zur Ostsee und träumten dabei von einem Ort, der unbenutzt von uns aussah, aber sobald wir ankamen, hängten wir unsere Jacken wieder über die Stuhllehnen. Wir hatten zu viel für das Apartment ausgegeben und nahmen dafür den Wein aus den unteren Regalen im Supermarkt. Kurz nach acht wussten wir nicht mehr, worüber wir reden sollten, also versuchte ich zuerst, mit ihm zu schlafen, und dann schauten wir Wer wird Millionär.

In den Abendstunden verwechselten Alex und ich uns mit den Wasserflecken an der Decke, die Fenster waren so schmutzig, wie wir es gerne von uns behauptet hätten, der Wasserdruck war nicht mehr derselbe. Nach dem Sex fühlten wir uns kurz wie eine Kleinfamilie an.

In der ersten Nacht träumte ich schlecht. Ich weiß nie, wovon genau ich mich im Urlaub erholen soll.

Vor einem Jahr sind wir am Abend vor Silvester am Strand spazieren gegangen, und ich hatte gewusst, dass Alex etwas über die Muscheln sagen würde, weil er auch derjenige ist, der am Abend als Erstes auf den Himmel deutet und irgendjemandem den Großen Wagen zeigt. Er meinte also, dass jede Muschel schön sei und doch so unverwechselbar, und ich dachte, was stimmt nicht mit Muscheln, dass wir sie schön finden und dann nach zwei Stunden nicht mehr wissen, wo wir sie hintun sollen, die Muscheln aus unseren Hosentaschen, aus den Seitenfächern unserer Koffer und den Umhängebeuteln. Wir meinten, wenn wir wieder in Wien wären, dann würden wir ausmisten.

Schon oft hatte Alex davon geträumt, auf die Umzugskartons, die seit Wochen im Flur standen, zu verschenken draufzuschreiben und sie vor die Türe zu stellen, ohne noch einmal nachzuschauen, was darin ist. Als wir am dritten Tag noch einmal Wein besorgten, legte Alex den Edding dafür mit auf das Kassenband.

Wenn ich Alkohol kaufte, erinnerte ich mich jedes Mal an die Favoriten von Bekannten und hielt mich daran. Ich empfahl den Musikgeschmack meiner Freunde weiter und tat so, als wäre es mein eigener. Auf dem Heimweg hörte ich Reinhard Mey.

Der Sand blieb in meinen Hosenumschlägen.

Ich wollte das Meer eigentlich mit niemanden mehr teilen, eigentlich wollte ich mich bei ihm entschuldigen, weil ich immer so tat, als könnte es meine Probleme lösen.

Ich wollte mich bei den Airbnb-Zimmern entschuldigen, bei den Sommer-Sales, bei der Pille und bei der Pille danach.

Im Apartment bohrte Alex den Korkenzieher in den Schaumstoff, bis ich meine Hand über seine legte.

Ich wollte dir nur helfen, sagte ich, als der Korken in der Flasche abbrach. Na ja, sagte er, so geht’s noch weniger. Weil ich betrunken war, nannte ich ihn mein blaues Wunder, er ging früh schlafen und setzte den Ausdruck auf die Liste der Worte, mit denen wir uns nicht weiter ruinieren sollten.

Auf TripAdvisor suchten wir nach den besten Bewertungen. Alle Orte, an denen wir uns aufhielten, hatten vier von fünf Sternen. Alles, was wir bestellten, ließen wir uns mit Sahne servieren. Wir tranken ab Mittag, wo wir waren, war Halbschatten.

Wir folgten der App zu den Küstenstreifen und den Kreidefelsen, wir folgten ihr auf eine familienfreundliche Aussichtsplattform und beinahe auf den Baumwipfelpfad, aber der kostete zwölf Euro pro Person.

Rügen lässt das Herz eines jeden Naturliebhabers höher schlagen, sagte TripAdvisor.

Wenn du die Natur nicht magst, sagte ich zu Alex, dann können wir auch wieder nach Hause.

Ne, sagte Alex, das passt schon gut hier, und das sagte er so lange, bis ich im Kopf ausrechnete, wie viel wir ausgeben würden, wenn wir stattdessen in einer Jugendherberge übernachteten, ob es unserer Beziehung nicht guttun würde, wenn wir sie jeden Abend auf Stockbetten aufteilen müssten. Und dabei sehnte ich mich nur nach den Fremden, die man abends kennenlernen könnte, weil das Fremde das noch nicht Vertraute ist, und unser Fremdes, das wollten wir nicht mehr antasten. Alles, was wir uns bis dahin noch nicht gezeigt hatten, blieb zu Recht verschlossen.

Schau, sagte ich manchmal zu Alex, eine Möwe, eine Alge, ein Krebs, schau dir den Himmel an, wie viel Platz er hier einnimmt.

Wir schoben den Moment auf, an dem wir nicht mehr wissen würden, was wir als Nächstes anschauen sollten, also setzten wir uns erst mal auf eine Bank am Hafenbecken.

Die Menschen bewegten sich hier langsamer.

Angenommen, sagte Alex dort am Hafenbecken, wir würden einen Fischkutter klauen und immer geradeaus fahren, wie lang würden wir brauchen, um das Packeis zu sehen?

Wusstest du, sagte ich, dass die Schotten 102 Wörter für die verschiedenen Arten haben, wie Schnee fallen kann. Das sind doch sicher nicht die Schotten gewesen, sagte Alex, aber als er nachschauen wollte, ging sein Akku leer. Bist du dir sicher, fragte er.

Ich nickte und sagte ihm mehrmals, wie sicher ich mir war. Ich wollte ihm sagen, dass das Gefühl, den Bus nach Hause zu nehmen, und das Gefühl, schwarzzufahren, dasselbe war, dass ich ihn, seit ich fremdging, nicht mehr am Gang erkannte, dass ich ihn manchmal mit meinem Vater verwechselte.

Zu meinem letzten Geburtstag hatte ich Alex ein Fotoalbum geschenkt. Beim Kaffee hatten wir die Bilder betrachtet, die schon gerahmt im Regal standen, und ich hatte mich gefragt, wann die Gegenwart so nichtssagend geworden war, dass die Vergangenheit anfing, aufzuholen, ob ich recht hatte, wenn ich sagte, dass er kalt geworden war seit dem Umzug, oder ob er sich nur nicht mehr bewegte, weil er Angst hatte, mit mir zu verschmelzen. Was meinst du, fragte er noch mal, wie weit müssten wir fahren?

Am 31. fuhren wir mit der Fähre auf die Insel und wollten das alte Jahr dort zurücklassen. Auf dem Deck beobachtete ich einen Mann dabei, wie er eine Frau fotografierte und erst abdrückte, als sie anfing, zu lächeln. Ich vermisste das Gefühl, so angeschaut zu werden, aber niemand Konkretes.

Auf der Insel fanden wir nur dünne Äste und Rinde. Bevor wir wieder am Festland anlegten, warf ich drei Namen über die Reling, Alex vier, wir hatten nicht gefragt, ob wir mal lesen dürften. Bevor das Holz unterging, wurde es im Strudel des Bugs nach oben gespült.

Den Silvesterabend wollten wir langsam verbringen, doch in unserem Apartment war Countdownstimmung. Es war dreiundzwanzig Uhr, und draußen schneite es. Wir berichteten uns gegenseitig vom Schnee, bis Alex sagte, wenn, dann waren es die Inuit.

Er nahm sein Handy in die Hand, um nachzuschauen, aber schrieb dann unserem Host eine Bewertung auf Airbnb. Was meinst du, fragte er mich, vielleicht vier Sterne?

Ich fing an, mich auszuziehen. Es war vierundzwanzig Uhr, es war Neujahr, und ich wollte seinen Körper von meinem überzeugen. Alex schraubte uns eine Flasche Wein auf, und diesmal klappte es. Meine Hände hatte ich erst nirgendwo, und dann glitt ich über seinen Neuschnee, dann hinterließ ich meine Vertiefungen in ihm. Ich sah seinen Atem, ich malte mit dem Finger auf seiner Haut, ich tropfte Schneeregen in seinen Mund, ich nahm ihn mit in den Wald. Sein Kopf war nur dünn zugefroren, und ich mochte es, wenn es knackte.

Anna, sagt jemand, du bist dran. Ich schrecke auf, der Raum ist immer noch da, der Perserteppich mit den floralen Mustern, Maries überkreuzte Beine und Samirs abwartender Blick, den er auf Lukas gerichtet hält, jetzt sag schon, ruft Marie, dein Silvester.

War gut, sage ich, letztes Jahr, Alex und ich waren im Urlaub, ganz entspannt.

Dann willst du nichts loswerden, fragt mich Lukas und schiebt mir trotzdem einen Stein rüber.

Da gab es nichts auf Rügen, sage ich, wir waren im Urlaub, superschön, ich überlege mir mal, was dieses Jahr nicht so gut war, und dann lasse ich meinen Stein über den Teppich zu Fede rollen.

Auf Fede kann ich mich immer verlassen, der stoppt den Stein mit der Hand ab und beginnt von seinem Januar zu erzählen, bevor irgendjemand protestieren kann.

Was brauchst du denn jetzt, Maus?, schreibt meine Mutter, haben sie in Ö auch Maxi King?

Ja, schreibe ich, alles da, danke!

Ich schick dir trotzdem ein Paket.

Okay, antworte ich.

Gleich morgen, schreibt sie. Dann schickt sie mir ein Video aus dem Garten, der Frost liegt über dem Lavendel, und darunter flackern zwei Grabkerzen.

Endlich kann ich das Herz schicken. Ich schicke sechs, eins für meinen Vater und fünf für die Brüder, die ich früher hätte bekommen sollen.

Wer hatte Schuld. Mit dieser Frage wurde das hellblaue Frottee zur Seite gelegt, mit ihr wuchs ich in die Piratenphase hinein und später wieder heraus, du jedenfalls nicht, sagten meine Eltern. Aber was sollte Schuld schon sein, Schuld war etwas wie Grüße, die man ausrichten oder die man nicht ausrichten konnte, aber das Wort an sich veränderte nichts.

Meine Eltern lächelten in die gleiche Richtung, während sie sagten, dass es schon irgendwie weitergehen würde, selbst dann noch, als sie in verschiedenen Räumen schliefen.

Ich schnitt mir die Haare und trug meinen Eltern beim Abendessen meine Bestzeiten vor.

Du wirst es weit bringen, sagte mein Vater dann.

Ich hatte die Noten dafür, um es weit zu bringen, ich hatte auch die Disziplin dafür, mich weit zu bringen, ich wollte mich an einen anderen Ort bringen, aber das passierte nicht, nicht nach dem Abi und den Praktika und der Zusage von der Uni in Wien.

Fede erzählt von Frankfurt, von den Flussufern, die bis Mitte April noch kalt und danach matschig sind, und von dem Bier an den Promenaden.

Kannst du noch Maultaschen reinlegen, schreibe ich meiner Mutter, und Frankfurter Würstchen.

Da geht es mir super, sagt Fede, letztes Jahr an Silvester war ich dort und habe gleich neue Freunde kennengelernt. Ich stelle mir vor, dass, wenn Frankfurt ein Facebook-Profil hätte, dann eins ohne Bild und ohne gemeinsame Freunde.

Fede hockt da im Schneidersitz, das Shirt spannt ihm über den Oberarmen. Für einen kurzen Moment sieht er gut aus, weil ich verstehe, wie man ihn anschauen kann, wenn man denkt, er hätte noch Geheimnisse, und ich merke, wie Samir ihn fixiert.

Was möchtest du denn loswerden aus dem Januar, fragt Lukas und nickt seinem Stein zu. Der kommt schon aus der Donau, sagt er, ich habe alle Steine da rausgeholt, und jetzt beschriften wir sie und werfen sie wieder rein. Irgendwann holen wir wieder welche raus, und das ist dann der Kreislauf des Lebens.

Jara strahlt ihn an, sie mag solche Sätze, aber sie ist auch ein großer Fan von kleinen Döschen, in denen man Centstücke sammelt.

Fede zögert mit der Schrift, ich weiß nicht genau, sagt er und blickt in die Runde.

Ich erinnere mich an unsere Telefonate letztes Jahr zur selben Zeit, als Fede nicht wusste, ob er sein Studium abbrechen sollte, und ich nicht mehr wusste, wann er angefangen hatte, Männer als Einstellungssache zu bezeichnen, und damit, nur noch ab und zu in die Mundhöhlen der Jungs hineinfühlen zu wollen.

Fede hat letztes Jahr seine Therapeutin gewechselt, nachdem sie immer meinte, er müsse seine Comfort Zone verlassen, während er nur davon träumt, seine Comfort Zone einmal zu betreten, so, wie man früher eine Wohnung betreten konnte.

Seine Therapeutin wisse nicht, wie hart es sei, als junger Mann in einer Großstadt zu überleben, als junger Mann und lost dazu. Als Fede mir damals über FaceTime davon erzählte, hob er die Finger, um mir erst an einer und schließlich an beiden Händen aufzuzählen, als was er in einer Großstadt lieber überleben würde.

Vielleicht kannst du die Stadt loswerden, sage ich laut, weil sonst niemand etwas sagt.

Warum denn die Stadt, fragt Fede, mir geht’s da doch gut.

Na klar, sage ich, aber.

Was aber, fragt Fede, mir gefällt es da.

In Frankfurt, frage ich noch mal, wo genau.

Ich kann mir da keinen Ort vorstellen, an dem Fede ganz er selbst ist, vielleicht will er nur in der Ecke des Zimmers seiner neuen Therapeutin liegen bleiben und nachts, wenn es kalt wird, ein Tempo nach dem anderen aus dem Spender ziehen und sich damit zudecken.

In Frankfurt, sagt Fede noch mal, etwas aufgebrachter, einfach in der ganzen Stadt, die muss ich nicht loswerden.

Okay, sage ich und hebe beschwichtigend die Hände.

Geht auch ein Name, fragt Fede.

Klar, sagt Lukas, aber Fede schüttelt den Kopf, ne, sagt er, ich hab doch keinen.

Jetzt lüg nicht, sagt Samir und pikst ihm mit einem Edding in die Seite, sag schon, eine Affäre.

Da gibt es keine, grinst Fede zurück, und jetzt legt auch Marie ihre Hände um den Mund als Verstärker und ruft: Ich wette, er hieß Marc, oder André.

Da gab es keinen Marc, springe ich für Fede ein, oder.

Ne, er schüttelt den Kopf, nur einen, der hieß Heiko.

Noch schlimmer, ruft Samir, und Fede grinst und deckt die Hand über seinen Stein, damit niemand lesen kann, was er wirklich aufschreibt.

Samir sieht mich an, und ich schüttle den Kopf. Er lächelt, weil er erkannt hat, dass mir Fede wichtig ist, er ist froh, heute Abend hier zu sein, um sich ein bisschen in konfrontativer Pädagogik zu üben oder in didaktischem Handeln in der Erwachsenenbildung, oder wie auch immer er es nennen würde, dass er jetzt mit Fede flirten kann, um mir klarzumachen, dass ich vor zwei Wochen nicht hätte sagen sollen, dass ich Abstand brauche.

Ich muss wieder an Fedes Therapeutin denken, an seinen Safe Space in Frankfurt. Gerne würde ich einmal mit ihm tauschen, am Ende der Sitzung von meinem Stuhl rutschen, mich im Schneidersitz in die Ecke schieben und ihr stumm und unsichtbar den Rest des Tages zuschauen. Nur so lange, bis ich weiß, wieso in so einem Raum nie etwas einfacher, aber doch klarer scheint als draußen, ob man sich auch diesen Tischbrunnen zulegen muss oder ob man einfach ein paar Teelichter in eine Wasserschale setzen sollte. Ich würde seine Therapeutin dann fragen, wie lange Therapeutinnen brauchen, um sich für die Bilder an der Wand zu entscheiden. Ob sie im Kollegium darüber diskutieren, ob sie im Wartezimmer Glückskekse hinstellen, und wer derjenige ist, der immer die anderen überstimmt.

Möchtest du jetzt etwas aufschreiben, Anna, fragt Lukas und hält mir auffordernd seinen Stift hin.

Über den Januar, frage ich, und er nickt, wie das letzte Jahr angefangen hat und was du loswerden möchtest. Die anderen im Kreis sehen mich an.

Anna verschweigt etwas, sagt Samir, die hatte eigentlich mega das krasse Jahr. Titten machen lassen. Promoviert. In der Reihenfolge.

Er grinst in die Runde. Lass mich das machen, ruft er, ich weiß eh, was Anna loswerden will.

Ich fange sofort an, zu reden, weil er so grinst, als würde er gleich verraten wollen, dass ich im letzten Jahr mit Safe Space doch meistens den Abstand zwischen seinem Daumen und meinem Zeigefinger gemeint habe.

Wir sind ja erst im Herbst davor nach Wien gezogen, sage ich hastig, und da habe ich mich direkt in Anglistik eingeschrieben und bin am dritten Tag weinend aus der Uni gelaufen, aber sonst weiß ich echt nicht, was ich aufschreiben könnte.

Marie lacht, als ich das sage, und wirft ihre Locken zurück, ich bin so froh, dass du gewechselt hast, danke, Samir, und Samir klopft sich selbst auf die Schulter.

Fede legt den Kopf schräg, was ist denn mit dem Tavor, wolltest du das nicht mal absetzen?

Was, lacht Jara, Anna?

Fede sieht erstaunt in die Runde, krass, ich dachte, die wüssten, weil das doch immer in der Schule, egal.

Brauch ich nicht mehr, winke ich ab, das war nur damals.

Fede legt sich eine Hand vor den Mund, sorry.

Wofür hast du das denn gebraucht, fragt Lukas.

Jetzt lass doch, sagt Marie, kann ja nicht jeder koksen, und ich hatte Ritalin, na und.

Für gar nichts, sage ich, nur früher mal kurz, nachdem mein Vater gestorben ist.

Ach so, sagt Lukas betreten, weil er zwar kein guter Mensch ist, aber ein höflicher, tut mir leid.

Kurz, lacht Fede, wenn es das nicht gegeben hätte, hätte Anna die ganze Schule zusammengeschlagen.

Und, fragt Samir, hat sie es gemacht?

Einmal, sagt Fede.

Einmal fast, ich brauche es nicht mehr so häufig, sage ich in die Runde. Das letzte Mal, dass ich aggressiv wurde, war, als ich Alex zum Geburtstag eine mehrstöckige Torte backen wollte mit einem Schriftzug aus Schokolade und weißem Fondant, ich versuchte, ihn auszurollen, bis er mir in den Haaren klebte und Jara dann vorbeikommen musste.

Ich stupse sie an, und Jara lacht, stimmt, sagt sie.

Jara hat ihre Zigarette in der Zuckermasse ausgedrückt, sage ich in die Runde und deute währenddessen auf sie, und gesagt, wir holen Alex jetzt was vom Bäcker, das bemerkt er doch eh nicht.

Okay, sagt Marie und winkt ab, es ist doch jedem mal irgendwas zu viel, alles easy.

Stimmt, sage ich, das geht euch doch auch so. Manchmal will ich niemanden mehr kennen, der nicht in einem Altbau wohnt, ich will nur mehr Leinen tragen und nach Lavendel duften.

Als ob, sagt Samir, aber der Satz ist gut, darf ich den für ein Absperrband haben.

Dein Jahr lief doch sonst echt gut, Anna, ruft Marie mir zu, Studium, Wohnung, Beziehung, und dann schaffst du das auch noch mit diesem Vegansein.

Ja, sage ich, da weiß ich gar nicht, was ich aufschreiben soll. Ich betrachte den Stein, der vor mir liegt, und denke an den Oktober vorletzten Jahres, als Alex und ich neu in Wien waren, niemanden kannten und nicht wussten, welche Buslinien unsere werden würden.

Überleg mal, was wir hier alles erleben werden, sagte ich zu ihm, als ich das erste Mal wirklich aus dem Fenster unserer neuen Wohnung sah.

Wo, fragte Alex, und ich nickte nach draußen zu den ausgewaschenen Dächern und den Regenrinnen in die Richtung der Mariahilfer Straße, generell da. Als er nichts antwortete, drehte ich mich vom Fenster weg und suchte seinen Körper, aufrecht, aber mit hängenden Schultern stand er im Wohnzimmer, seine farbbesprenkelten Arme verschränkte er vor dem grauen Shirt, und seine hellen Stirnfransen fielen ihm ins Gesicht. Ich wollte sie ihm hinters Ohr streichen, sein Blick war ernst, und der Mund stand ein wenig offen, wir können anstoßen, sagte ich, auf unsere erste eigene Wohnung. Alex nickte langsam. Ich kam auf ihn zu, umarmte ihn und drückte ihm eilige Küsse auf den Brustkorb, den ich weich durch das T-Shirt spüren konnte.

Ich war selbst überrascht, wie eifrig sich meine Hände um seine Seiten legten, auf der Suche nach einem Safe Space, du fühlst dich nicht wohl, murmelte ich in den Stoff, dir gefällt es hier nicht.

Lass nur, sagte er, das kommt schon noch.

Jara lacht neben Marie auf, ich weiß, was du draufschreiben musst, Marie, sagt sie, dass du gesagt hast, du hättest einen Jagdschein, dabei hattest du nur mal diese Katze überfahren.

Alter, ruft Fede, aber sich dann über meine Würstchen aufregen.

Marie schlägt sich die Hände lachend vors Gesicht, das war im Jahr davor, sagt sie, und jetzt lass mich in Ruhe meinen Scheiß aufschreiben.

Bist du in Ordnung, wispert Linda an meiner Seite, du lachst gar nicht mit.

Klar, sage ich.

Man muss auch nicht immer etwas aufschreiben, sagt Lukas in Maries Richtung, manchmal passiert ja gar nichts Schlimmes. Stimmt, sagt Marie, und Samir lächelt mich an.

Ich schreibe seinen Namen auf den Stein und drehe ihn um.

Ich hab was, sagt Marie und reibt sich die Nase. Meine Eltern haben zwei Betten in zwei Stockwerken, vier Duschen, drei Balkone, aber nur eine Kaffeemaschine, um die Schnittpunkte nicht zu verlieren. Meine Eltern finden Schnittpunkte und große Häuser wichtig, damit man sich trotz der Schnittpunkte aus dem Weg gehen kann. Das ging früher nämlich nicht, da musste mein Vater einmal nach einem Streit ins Spülbecken pinkeln, weil meine Mutter sich im Bad eingesperrt hatte.

Im Raum ist es jetzt ganz still, nicht wegen dem, was sie gesagt hat, sondern aus Ehrfurcht davor, dass sie einmal ehrlich war. Marie erzählt selten etwas Persönliches. Von ihren Ex-Freunden weiß ich nur, weil sie mir einmal von deren Schlafzimmern erzählt hat. Im ersten hingen noch Poster, sagte sie, das war einer aus meiner Klasse, im zweiten hingen Gemälde, das war mein Geschichtslehrer, der Dritte hatte eine Wand mit Brettspielen, mit ihm habe ich immer noch eine On-off-Beziehung, und der Vierte hatte gar keine Bilder an den Wänden, und er hat mich später geghostet, verrückt, oder?

Immerhin ist euer Haus wirklich schön, sagt Erik, meine Eltern wohnen in Alt-Erlaa.

Unser Lachen klingt nicht falsch, nur unangemessen, und Marie grinst erleichtert, weil ihr eine unangemessene Reaktion lieber ist als gar keine und weil sie, während wir lachen, nicht nachhaken muss, wie es anderen geht.

Wir lachen aneinander vorbei, ohne dass jemand fragt, wann ihr die Stille zum ersten Mal etwas ausgemacht hat, ob ihre Eltern nach dem Skiurlaub wirklich wiederkommen und wann sie das letzte Mal ganz da gewesen sind.

Ich hab noch was, rettet uns Erik aus der linken Ecke mit einem Gesicht, an das ich nicht ranzoomen würde, ich war letztes Jahr im Puff.

Wirklich, fragt Linda, wie war das?

Frauenverachtend, sagt Fede, und Erik schüttelt den Kopf, besser, als ich dachte.

Ich betrachte ihn nun doch genauer, alles an ihm scheint mir mittelgroß und absehbar. Lukas verknotet schon wieder die Hände, na ja, sagt er und atmet dann laut aus, immerhin was für den Stein.

Ne, sagt Fede, man kann für vieles Verständnis haben. Er deutet mit einem Zeigefinger ungenau auf die Welt, für Wandtattoos, okay, oder für die Sachen, die Leute sich so als Deko auf die Fensterbänke stellen, oder für sonst irgendwas, aber sicher nicht dafür.

Fede sieht mich an, weil wir in der Schule oft über Prostitution gesprochen haben.

Er denkt, dass ich da immer noch seiner Meinung bin, aber ich weiß, dass ich mal einem Mann in der U-Bahn lange mein Handgelenk hingehalten habe, obwohl er nur kurz die Uhrzeit ablesen wollte, und dass ich einmal zur Thai-Massage gegangen bin, nachdem Alex wochenlang auf dem Sofa geschlafen hat, und dass ich neunzig Minuten lang zu der Masseurin sagte, sanfter, sanfter und später trotzdem verspannt war.

Im Grunde wünsche ich mir auch so etwas wie einen Puff, aber einen, in dem ausgebildete Sozialarbeiter mit großen Händen in sehr stillen Räumen sitzen und mir tröstend für eine Stunde über den Rücken streicheln, wo mich eine liebe Frau fesselt und sich dann an meine Seite faltet wie Yoko Ono, wo mein Hausarzt mich ab und zu akupunktiert und meine Professorin alle zwei bis drei Wochen vorbeikommt und sagt, das wird schon alles.

Die Frau, die jetzt den Edding in der Hand hält, arbeitet seit einem Jahr beim Rundfunk. Von Marie weiß ich, dass sie Verschwörungstheorien hasst, aber wenn sie Marie von der Treue ihres Freundes erzählt, dann gehen ihr die Beweise an der ersten Hand schon aus, dann kann sie nie jemanden davon überzeugen.

Bei mir gibt’s eigentlich keine Updates, sagt sie leise, nur ein neues not together mit irgendwem, und drei Wochen später denkt man, man ist endlich über den anderen hinweg, und dann läuft im Supermarkt plötzlich wieder Philipp Poisel.

Ich studiere ihr Gesicht genauer und erwarte eine Traurigkeit oder zumindest eine Nachsicht in ihren Augen, aber ich finde nichts. Ihre Gesichtszüge wirken glatt und still, als hätte sie mit ihnen nie etwas abfangen müssen oder als hätte sich zumindest nichts dort angestaut, was ihr im Leben schon an den Kopf gestoßen wurde.

Du musst ihn endlich vergessen, ruft Marie. Die Frau vom Rundfunk schüttelt den Kopf, auf ihren Stein schreibt sie erst Philipp Poisel und dann Beine.

Aber du hast doch kein Problem mit deinen Oberschenkeln, sagt Linda, jedenfalls hast du das mal in deinem Podcast behauptet.

Stimmt, sagt das Medienmädchen, jetzt nicht mehr, aber die hab ich mir auch mal einfrieren lassen.

Alles klar, sagt Marie, ab jetzt weniger Geld für Make-up ausgeben, und mehr für Schönheitsoperationen.

Jo, nickt das Medienmädchen, ist auf jeden Fall nachhaltiger. Nachhaltig ist ein Stichwort, das immer gut passt, das Medienmädchen möchte gar nichts Großes mehr in der Welt verändern, weil man dabei vielleicht über drei Ecken aus Versehen den Regenwald abholzt, alles, was sie möchte, ist eine große Reichweite und einen möglichst geringen ökologischen Fußabdruck. Dann gibt sie den Edding wieder zurück zu Erik, der ihn zwischen den Handflächen reibt, als wollte er damit Feuer machen. Ich halte nicht viel von Vorsätzen, aber in dem Moment nehme ich mir vor, im nächsten Jahr mutig genug zu sein, um eine Strichliste für die schwachen Momente anzulegen und sie dann an der Kühlschranktür zu befestigen.

Okay, sagt Erik langsam, das letzte Jahr war eher mäßig, ich bin immer irgendwo zwischen Tierfilminteressiert und Fernseherrunterschmeißen, aber was soll ich jetzt noch auf diesen Stein schreiben, außer das mit dem Puff.

Was willst du denn loswerden, fragt Lukas.

Ich will einfach okayer sein, psychisch, sagt Erik, was ich sehr ehrlich finde. Lukas reicht das nicht. Er fragt nach seinem Tag-Nacht-Rhythmus und dass Erik ja gar nicht besonnen sein könne, wenn er nur nachts vor die Tür gehe, und Jara ergänzt, dass er seine Aggressionen sicher auf irgendwas aus seiner Vergangenheit zurückführen könne. Erik schüttelt den Kopf.

Bei mir ist es zum Beispiel das Gegenteil, sagt Jara und schreibt Eltern-Kind-Beziehung auf ihren Stein. Meine Eltern haben mich bei langen Autofahrten immer auf den Mittelsitz gesetzt, damit sich meine Geschwister links und rechts nicht streiten, daher kommt meine Harmoniesucht, vielleicht musst du dich einfach mal mit deinem inneren Kind auseinandersetzen.

Ja klar, sagt Erik, aber es kann ja nicht immer alles nur an mir selber liegen. Er sieht jetzt betrunken aus und auch ein bisschen ängstlich. Die Abwesenheit von Zuversicht ist mir vertraut, weil ich noch nie wusste, was ich antworten soll, wenn jemand sagt, ja, ja, deine Generation will doch immer nur größer, höher, weiter. Ich wollte noch nie größer, höher, weiter, ich hatte immer nur Angst, dass alles schlimmer wird. Das streiten sie immer ab, die Erwachsenen, bis sie fragen, ah, du studierst Germanistik, und dann machen sie Witze übers Taxifahren. Oder bis mich jemand fragt, wie ich lebe, und ich als Erstes sage, dass die Wohnung gar nicht so teuer ist, und immerhin darf ich erst mal vier Jahre darin bleiben.

Bei mir schon, seufzt Fede neben ihm und schreibt Faulsein auf seinen Stein. Ich muss mehr Sport machen, seit einem halben Jahr habe ich Muskelkater nach dem Sex, das hatte ich früher nie, wie unsportlich muss man sein, dass man da Krämpfe bekommt, das ist doch wie die Teilnahmeurkunde bei den Bundesjugendspielen.

Samir lacht, du bist so witzig, ruft er durch den Raum zu Fede, sag mir einen Grund, wieso ich dich nicht heiraten darf.

Er hat Bindungsängste, antworte ich, bevor Fede antworten kann.

Konfrontationstherapie, sagt Samir, das lerne ich noch im Studium.

Sehr lustig, meint Marie, und Fede lacht.

Macht euch das Spiel allen Spaß, übertönt Marie ihn wieder.

Es geht nicht so lange, sagt Lukas, und es ist eigentlich auch kein Spiel, man kann die Dinge eben nur loswerden, wenn man sie zuerst selbst reflektiert, also, was ist denn im Frühjahr passiert?

Er blickt uns auffordernd an, während er heilig in der Mitte steht. Lukas hätte auch Pfarrer werden können, denke ich, weil seine Hände so kraftlos sind und er sich immer in alle Richtungen dreht, damit niemand im Kreis ausgeschlossen wird.

Linda vom Balkon zum Beispiel fühlt sich von ihm angesprochen und fängt an, zu weinen, da hat er mich mit Julia betrogen, wimmert sie, und das ganze Zimmer atmet ein und sieht zu ihr rüber.

War das nicht der Theaterregisseur, der Hurensohn, fragt Jara, und Linda presst sich die Hand vor den Mund und schluchzt laut auf, reichst du mir einen Stein, dann schreib ich das auf, also: Ich gehe zum Theater und möchte ihm Kuchen vorbeibringen, gehe zu seinem Büro mit meiner Tupperware, aber da ist er nicht, gehe in das Hinterzimmer, die Tür ist angelehnt, und da steht er mit Julia, küsst sie, und ich da mit meiner Tupperware, was willst du hier, hat er mich dann gefragt. Und ich zurück, gehst du fremd, und er sagt, Baby, ich networke.

Hurensohn, meinte ich doch, sagt Jara, und Marie schmeißt noch zwei Tüten Chips in die Mitte.

Vielleicht hast du was falsch verstanden, ruft Samir. Für einen Augenblick muss ich meinen Kopf auf dem Sessel hinter mir ablegen, der die letzte Stunde geduldig und stumm war.

Komm, sagt Marie, ich warne dich, wenn du jetzt mit dem Vier-Seiten-Modell anfängst. Samir greift sich die Chips, schulterzuckend.

Du bist ein Original, sagt Marie, und ich denke, wenn das stimmt, dann müsste er fairerweise eine Zigarettenmarke sein, mit Warnhinweis und Bild, wie entstellt man nach ihm aussehen könnte.

Ich bin dran, sagt Samir, im Juli hab ich die Zusage für das Stipendium bekommen, Highlight des Jahres.

Das war am ersten, sagt Lukas, was war mit dem Rest vom Juli.

Den hab ich versoffen, meint Samir und malt ein Weinglas und ein Herz auf einen Stein, und Heinrich Böll war mein Sugardaddy.

Jetzt mach ernst, sagt Marie, was möchtest du loswerden.

Okay, einen Namen. Er schaut in die Runde, ratet mal, welchen. Er geht jeden Einzelnen mit seiner Eddingspitze durch und gleitet über Marie, Lukas, Jara, Erik, Fede und Linda. Ich denke an die Flecken auf seinem Leintuch, an die Nächte, in denen ich mich schon mit einem Würfelspiel verwechselte, an die Momente, in denen wir uns beide hinters Licht geführt haben, weil wir in der Dunkelheit besser aussahen.

Spaß, sagt Samir, ich hab wirklich nix, nicht mal eine Affäre. Er grinst neckisch zu Fede, und ich atme erleichtert auf, Fede lacht Samir zahnlückig an, mit rundem Rücken und schräg gelegtem Kopf.

Fede hat nie etwas davon gehalten, sich größer zu machen, als er ist, stattdessen hat er mit zwölf angefangen, sich kleinzureden, als ihm klar wurde, dass er sich weniger leisten kann als andere Jungs in seinem Alter, und als seine Mutter ihm sagte, denk mal nicht, dass dich so irgendein Junge schön finden wird, mit den gefärbten Haaren.

Fede dachte nicht, dass irgendein Mann ihn schön finden würde, bis Joni ihm im Schwimmunterricht seine Taucherbrille lieh und ihn dann drei Wochen später an der Wand der Sporthalle küsste.

Ich nippe an meinem Rosé, der inzwischen warm geworden ist. Fedes Blick flackert durch den Raum, sein aschblondes Haar klebt ihm etwas an der Stirn, gleich wird eine einzelne Strähne abstehen.

An einem Sommertag vor vielen Jahren hat er mir mit Edding A & F 4ever auf die Hotpants geschrieben. Seitdem sind wir uns nie wieder so nah gewesen, zumindest erinnere ich mich nicht daran, dass seine Hand danach noch einmal auf meiner Haut gebrannt hätte.

Ich hatte ihm nichts mehr von den Jungs erzählt, die ich süß fand, und von meinem Vater, der fehlte, und von den anderen Mädchen, die mir von Fedes Nähe berichteten, bis er Joni kennenlernte.

Joni war kein Mann, aber der männlichste Elftklässler, den wir kannten, und für ein paar Monate war Fede größer als wir alle.

Wir werden heiraten, hatte er mir in der Mittagspause zugeflüstert, gleich nach dem freiwilligen Jahr.

Damals wusste Fede noch nichts von Lennard und Mark und Fabi, damals gab es nur unsere Schule, die Gottesdienste im Grünen und das Blumen-zum-Selberpflücken-Feld.

Alex hatte es schon immer gegeben, wir hatten vor ein paar Wochen damit angefangen, miteinander zu gehen.

Ich hatte einen Monat lang schlecht geschlafen, bis ich den Mut fand, ihn nach der letzten Stunde im Schulbus zu fragen, sag mal, würde es dir was ausmachen, mit mir zusammen zu sein? Ne, sagte er und lächelte mich an.

Wie ne, fragte ich, also möchtest du auch?

Alex hatte die Schultern gezuckt und genickt, ja, ich meine, why not?

Okay, sagte ich, unsicher, weil sich nichts veränderte, Alex packte seine Brotzeit aus, die seine Mutter ihm gerichtet hatte, aber als wir ausstiegen und keiner uns mehr sehen konnte, nahm er meine Hand.

Als ich den anderen davon erzählte, reagierte niemand überrascht, als wäre es für das ganze Dorf absehbar gewesen, dass Alex und ich nebeneinander groß wurden und aneinandergepresst blieben.

Joni war anders, weil er das technische Gymnasium abgebrochen hatte und das Abitur bei uns nachholen sollte. Müssen wir mit denen abhängen, hatte Alex mich einmal gefragt, als Fede uns schon von Weitem vom Blumenfeld aus zuwinkte.

Warum, sagte ich, er spielt doch auch Fußball.

Alex nickte, ja, aber anders als ich.

Fede sah Joni beim Andersspielen zu, voller Bewunderung für seine breiten Schultern und für die Art, wie er mit einem Handtuch im Nacken auf dem Platz auslief.

Wenn Fede nicht hinschaute, sah Joni mich an, als wäre ich ein Preis, den er gewinnen wollte. Das hatte bis dahin nie jemand getan, noch nicht einmal Alex, weil man in einem Dorf nicht gewollt werden kann, wenn man immer schon da war.

Einige Wochen träumte ich von Joni, denn er war einer, über den man so ein Bad-boy-Buch hätte schreiben können, das in der Bücherei in dem Regal für die Dreizehn- bis Fünfzehnjährigen stand.

Wenn ich bei unseren Treffen seine Blicke auf mir spürte, schob ich die Spitzen meiner Turnschuhe in die trockene Erde, bis ich grinsen musste und zu ihm aufsah.

Ich weiß schon, sagte er dann, und an einem Nachmittag strich er sich das Shirt von den Unterarmen und raunte mir zu, morgen um drei Uhr hier.

Zu Hause redete ich mir ein, dass Joni es den anderen genauso gesagt habe, dass wir uns dort alle gemeinsam morgen treffen würden, so wie wir es an fast jedem anderen Sommertag taten. Und trotzdem zog ich den Rock an statt der Jeans und die Ballerinas statt der Turnschuhe, weil ich mir bei allem, was ich mir einredete, selbst nicht zuhörte.

Im Juli habe ich Anna und Alex kennengelernt, sagt Jara in dem Moment, dafür bin ich dankbar, überhaupt für euch alle, weil ihr heute hier seid und den Abend so besonders macht.

Samir hat sich nach hinten geneigt. Während die Aufmerksamkeit auf Jara liegt, schreibt er hastig auf seinen Stein. Kurz bin ich wieder verliebt in ihn, weil er die Dinge doch ernst nimmt, wenn niemand hinsieht.

Jara schaut zu mir rüber, und ich nicke. Ich habe es keine einzige Minute bereut, zu Germanistik gewechselt zu haben, weil die Bibliothek so schön war und unser Professor für Sprachwissenschaft auch und weil Samir mich sofort an seine Schwester vermittelt hatte, die mich mit ihrer Umarmung bejahte.

In den Pausen rauchten wir das ganze Semester über zu dritt auf den Treppen zum Vorplatz. Marie schwärmte für den Professor, Jara neben ihr blieb dabei still und lächelte sanft, lächelte weiter den Professor an, während sie mit ihm diskutierte, bis er auf Jaras Tisch klopfte und sagte, ich glaube, aus Ihnen wird mal was Großes.

Ich stehe auch kurz vor dem Durchbruch, sagte Marie nach der Stunde frotzelnd zu ihr, und ich glaube, das war tatsächlich so, aber eher wie ein Haus, das abgerissen gehörte.

Jara gibt den Stift weiter, ohne etwas über das letzte Semester aufzuschreiben. Sie rollt ihren Stein in die Mitte und holt ihn dann doch wieder mit zwei Händen zu sich zurück, um sich von ihm die Jackentasche ausbeulen zu lassen. Wisst ihr was, sagt sie, den möchte ich alleine wegschmeißen, aber nicht heute Abend.

Jara und ich tauschen einen Blick aus, weil sie oft von den Dingen redet, die sie loswerden will, und weil ich ihr immer zuhöre und weiß, das klappt eh nie, das ist so, als würde man sagen, man macht jetzt eine schöne Torte mit weißem Fondant.

Lukas lässt sich kurz auf seine spitzen Knie in der Teppichmitte fallen und reicht Jara eine Hand, die sie drückt, mehr passiert nicht zwischen den beiden, aber irgendwas daran bringt sie zum Lächeln. Weiter, sagt Lukas.

Jara erzählt von ihren Panikattacken, die in diesem Sommer wiedergekommen sind.

Du musst einfach aufhören, bei anderen, sagt Marie, keine Ahnung, da eben ständig mitzufühlen.

Jara schweigt einen Moment, weil sie so achtsam ist, dass sie die Antwort nie vor der Frage weiß.

Wie soll ich denn damit aufhören, fragt sie dann langsam, alles immer verstehen zu können. Statt einer Antwort nicke ich ihr nur zu, weil ich Jara nur so kenne, als wäre die Nettigkeit nicht Teil ihres Charakters, sondern ihre ganze Persönlichkeit. Als hätte sie statt der Bibel als Kind einen Duden auswendig lernen müssen, als hätte sie statt Psalmen immer wieder einzelne Wörter aufgesagt, Friedfertigkeit, Wohlgemut, Großzügigkeit, und wäre so ein besserer Mensch als wir alle, eine getriebene Gläubige geworden.

Jara war im letzten Semester Jahrgangssprecherin gewesen und blieb für die unbezahlten Aushilfsjobs noch nach den Kursen an der Uni. Sie verstand sich mit allen Kommilitoninnen und mit unserem Professor der sie nach der Stunde manchmal zu sich rief.

Du bist halt auch so da, sage ich, immer so da. Marie lacht, stimmt, das ist sie, das bin ich nie. Ich auch nicht, sage ich. Ach, winkt Marie ab, im Moment leben, das ist doch sowieso überbewertet. Findest du, sage ich, ich fühl mich oft schlecht, weil ich es nicht so oft tue.

Warum denn, antwortet Marie, unsere ganzen Vorfahren haben so was von im Moment gelebt, weil sie immer bluten und schwitzen mussten, um am Abend irgendwas zu essen auf dem Tisch zu haben, und am nächsten Tag ging es von vorne los, und sie haben das nur gemacht, damit irgendeiner dann irgendwann mal nicht mehr im Moment leben muss, und das sind jetzt wir, ist doch super.

Na ja, sage ich, jetzt nutze ich meine Freiheit für Zwangsgedanken. Jara nickt mir zu und sagt, ich muss Apps, bevor ich sie schließe, zweimal neu aktualisieren, und setzt sich aufrecht hin, um an einer Hand weiter aufzuzählen.

Ich muss bei einer grünen Ampel bis drei zählen, bevor ich loslaufe, ich muss die Türklinke zweimal nach unten drücken, bevor ich einen Raum verlasse, und als mich das Pop-up-Fenster vor einem Porno vor Kurzem gefragt hat, ob ich einmal für eine Nacht zwanglos sein möchte, da habe ich beinahe auf ja geklickt.

Das passt zu ihr, finde ich, weil Jara mir in unserem ersten gemeinsamen Kurs an der Uni auch einen weißen Acrylstift mitbrachte, nachdem ich ihr von den Schimmelflecken im neuen Bad erzählt hatte.

Alex meinte, ich könne sie ja mal zum Essen einladen. Beim Abendessen drei Wochen später hatte ich mein Weinglas gegen ihres klirren lassen und gesagt, am Anfang hatte ich Angst vor dir.

Vor mir, Jara schob sich die Haare hinters Ohr, warum? Weil du so fließt, weil du so heilig bist, sagte ich, vielleicht so, wie man Hexen als heilig bezeichnen könnte. Spirituell, fragte sie, und ich nickte, vielleicht spirituell, aber ohne die Amulette und mit schöneren Ringen.

Jara kam dann öfter vorbei, sie war die Einzige, die einem ohne Vorankündigung in die Küche gespült wurde und der man dann einfach ein Brett in die Hand drückte und sagte, hier, kannst du bitte mal die Tomaten schneiden?

Ich legte dann die Zwiebeln auf das Holzbrett, das Alex’ Mutter mir zum Umzug geschenkt hatte, und schnitt mir in den Finger. Ich presste ein Taschentuch darauf, während Alex und ich Plätze tauschten und ich den Tisch für uns drei deckte. Alex erzählte uns von seinem Tag, einmal von dem Stromkasten im 14. Bezirk, auf dem immer Ich liebe dich nicht mehr gestanden hatte, was plötzlich durchgestrichen war. Was bedeutet das jetzt mit der doppelten Verneinung, fragte er, ihr seid doch hier die Germanistinnen.

Und Jara erzählte beim Kochen von den leeren Zimmern im Haus ihrer Eltern und von Lukas und von ihrem Herzen oder dem, was davon noch übrig geblieben war. Das ist es, sagte sie manchmal mitten im Gespräch und deutete auf die zwei schmelzenden Eiswürfel in meinem Gin Tonic oder auf ein kleines Loch in ihrem Pulli, genau so fühlt es sich an.

Lukas und Jara hatten sich vor drei Jahren kennengelernt, und Jara, sagt heute noch, es war Liebe auf den ersten Blick, obwohl ich immer noch nicht verstehe, was denn daran Liebe sein soll, wenn man sich vorstellt und der eine gleich sagt, Jara, das ist aber ein komischer Name, und die andere antwortet, das höre ich öfter.

Ich mochte Lukas nicht, weil er Jara mit seinen Problemen belastete, bis sie zu schwer war, um wegzugehen, bis er sich so lange über sie beschwert hatte, dass er ganz sicher sein konnte, dass Jara nicht mehr fortgehen würde.

Er ist einfach er, sagte sie mir und schüttelte den Kopf, er ist der eine, was soll ich machen?

Ich konnte mir das nicht erklären, nicht mal, als ich sie zusammen sah und Lukas netterweise Jaras Hand unter seinen Oberschenkel schob, als sie fror.

Er hat Angst, sagte sie, als sie Alex und mir wieder einmal in die Küche gespült wurde. Sie fing an, ihre Spangen aus den Haaren zu ziehen und sie vor sich auf dem Tisch abzulegen.

Er hat Angst, wiederholte sie und machte dann mit dem Silber an ihren Fingern weiter.

Ich kenne ihn, sagte sie immer wieder, ich weiß doch, wie er ist, und jetzt hat er einfach Angst.

Was ist denn passiert, fragte ich, doch sie schüttelte den Kopf, erzähle ich euch nachher, wo sind die Tomaten?

Das ist es, sagte sie später und deutete auf die Wunde der Tomate, die noch auf dem Brett blühte und sich nicht mehr in die Auflaufform schaben ließ. Alex fragte, was soll das sein, und ich sagte, das ist Jaras Herz.

Genau, sagte Jara.

Vor was hat er denn Angst, fragte ich sie später, als Alex den Auflauf auf den Tisch stellte und den Wein aufschraubte. Jaras Kopf lehnte an der Raufasertapete.

Er will nichts davon wissen, sagte Jara, er kommt einfach nicht damit klar. Sie steckte sich aufgeregt eine blonde Strähne hinter die orientalisch verschlungenen Ohrringe.

Das geht doch jedem Mal so, oder, fragte Alex beschwichtigend, der kriegt sich doch wieder ein. Dann schob er ihr ein Weinglas rüber, und Jara legte eine Hand auf ihren Bauch und sagte, für mich heute Abend kein Alkohol.

In der Nacht schliefen wir zu dritt in unserem Bett, bis Jara mich irgendwann am Arm berührte, weil die Schwere sie wieder einholte. Ich muss heim, sagte sie, vielleicht ist er inzwischen wieder da. Ich konnte Jara nicht davon abhalten, weil sie einem genauso in den Raum gespült wird, wie sie ihn wieder verlässt, ausweichend bestimmt und unnachgiebig sanft, bis die Haustür hinter ihr leise ins Schloss fällt.

Mit dem Handy auf laut lag ich dann neben Alex, der ruhig und regelmäßig atmete, mit seinem warmen Rücken, der von mir gestreichelt wurde, und seinem nackten Schulterblatt, das mich an die letzten sieben Jahre erinnerte.

Ich drückte auf den Schnitt an meiner Fingerkuppe, der immer noch oder schon wieder dort war, und fuhr damit über seine Schulter, bis ein dunkler Strich dort entstand, wo ich ihn berührte.

Das Blut blieb, selbst als ich meine Hand wieder zurückzog, was mich beruhigte.

Nach rutschigen Träumen lehnte ich mich am nächsten Morgen an Alex’ Schulter an.

Jara ist gegangen, sagte ich. Er hielt die Augen geschlossen und die Arme ausgestreckt neben seinem Oberkörper, während ich mich auf ihn setzte und dort sitzen blieb.

Wir sollten uns gemeinsam tätowieren lassen, schlug ich vor.

Wie kommst du jetzt darauf, fragte er, ohne die Augen zu öffnen. Nur als Idee, sagte ich, um was zu teilen.

Jetzt sah er auf, was sonst nicht seine Art war, aufzuschauen und nichts zu sagen, und von da an hatten wir keinen Pärchensex mehr, nur noch Dreier, Alex, ich und der stille Vorwurf.

Weil ich das liebte, was ich inzwischen meinen inneren Frieden nannte, erwähnte ich den stillen Vorwurf nie, und wir standen auf, duschten und machten Dinge, bis ich mit dem Pfandflaschenbeutel im Flur stand und sagte, ich liebe dich, und er im Türzuziehen meinte, ich dich mehr, weil er noch nie schlecht war im Lügen, weil ihm das Ich-dich-mehr bis zum Ende ohne Zögern über die Lippen ging.

Noch am selben Abend brachte Jara ihre Zahnbürste in unser Bad, weil Lukas sich nicht mehr meldete. Die nächsten vier Tage sah ich unsere Wohnung aus ihren Augen und achtete auf die unscheinbaren Dinge, den Abfluss der Badewanne, die Beipackzettel im Mülleimer und die Schneidebrettchen, die leer blieben, weil Alex nur noch liefern ließ.

Das ist jetzt die richtige Zeit für Fastfood, sagte er, und mehr kann ich ja leider nicht für dich tun.

Das meiste tat Jara alleine, sie fühlte in sich hinein, mehr passierte nicht, nur das Wasser in der Badewanne wurde abwechselnd heiß eingefüllt und lauwarm abgelassen.

Ich mach es, sagte sie am vierten Tag, und dann gingen wir die Woche darauf gemeinsam ins Krankenhaus.

Im Wartezimmer schrieb sie Lukas, dass sie seine Haut vermisse, und in der Nacht legte Jara meine Hand auf ihren ausgehöhlten Bauch, und ich streichelte ihn. Jara verglich unsere Beziehung in dieser Zeit oft mit ihrer, sie meinte zum Beispiel, so wie ihr beide, so könnten wir auch werden, wenn Lukas sich wieder meldet.

Wie meinst du, fragte ich, und Jara erwiderte, so eingespielt.

Jara hatte uns in den letzten Tagen zugehört, als wir von den kränklichen Blättern der Birke vor dem Fenster sprachen.

Ja, eingespielt können wir, sagte Alex und nahm meine Hand.

Er tat das mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er mir sechs Jahre vorher am ersten Mai mit Kreide eine lange Spur von seiner zu meiner Haustür gelegt hatte, um sie mit mir am nächsten Morgen abzuschreiten, als wäre es der Weg zum Traualtar.

Jara wollte auch die Hand gehalten bekommen, und drei Tage später sagte sie mir, dass Lukas wieder da sei.

Aber du gehst jetzt nicht zurück, oder, fragte ich sie, obwohl ich es besser wusste, weil sie sich wieder alle Ringe über die Finger streifte.

Ich gehe nicht zu ihm zurück, sagte sie, aber ich muss mit ihm reden. Sie steckte ihr Haar mit den Spangen hoch und sah mich sorgenvoll an, ich glaube, ihm geht es gerade nicht so gut.

Als Jara gegangen war, blieben Alex und ich nicht alleine. Der stille Vorwurf war immer noch da und eine Wut, die ich davor nicht gekannt hatte. Ich verkroch mich im Wohnzimmer, Alex drehte am Esstisch einen Podcast lauter.

Warum, fragte ich Alex später, ich meine nur, warum?

Das wiederholte ich eine Weile, während wir die Pizzakartons ins Altpapier stopften, das Bett abzogen, die Schneidebrettchen wieder aus den Schränken holten und Jaras Zahnbürste vorsorglich im Bad stehen ließen.

Hast du gewusst, dass Wien mehr Brücken hat als Venedig, fragte ich Alex, während er eine von Jaras Spangen vom Teppich aufhob.

Er schüttelte den Kopf.

Sogar doppelt so viel, sagte ich, über achthundert.

Fake News, sagte Alex und betrachtete die silberne Spange im Licht. Und dann, nachdem wir ein paar Minuten schweigend nebeneinander hergedacht hatten, ergänzte er, ich glaube, sie liebt den einfach.

Ich war dann gegangen, um Alex länger mit dem Satz alleine zu lassen.

Sag du doch mal was, Samir kneift Lukas, der schräg vor ihm im Kreis kniet, oder bist du hier der Heilige?

Natürlich nicht, sagt Lukas, aber zögert dann mit seinem Stift.

Okay, ruft Samir, wer weiß was über Lukas?

Lukas steht vor uns mit seiner schlaksigen Hüfte und den fusseligen Socken Größe 43-46. Er trägt sich mit ihnen leichtfüßiger als ich durch den Raum. Sofort wird wieder eine Antipathie in mir geweckt, vielleicht, weil Lukas so selbstgerecht durch das Leben geht, während ich ihm immer etwas panisch hinterherrenne. Es fühlt sich an, als würde das Leben sich mir schon seit Ewigkeiten entziehen und sich immer weniger erklären wollen, das hatte angefangen, als ich in der Grundschule vom Kükenschreddern erfuhr und als mir eine Freundin in der fünften Klasse erzählt hatte, dass sich alle sechs Sekunden jemand umbringt, und ich mal fünf Minuten mitgezählt habe und immer bei sechs an meinem Eis leckte.

Ich habe Jara nie gefragt, wie viel sie ihm erzählt hat von der Zeit, in der er nicht da gewesen war.

Im September war sie zum Essen vorbeigekommen und meinte, dass sie jetzt doch wieder mit ihm, ich goss mir Wein nach, und Alex legte mir eine Hand aufs Bein.

Klar hatte Lukas ihr Gesicht beim Küssen in beide Hände genommen, klar hatte er gesagt, dass es ihm leidtut, klar hatte er ihr die Haarsträhne hinters Ohr gestrichen und sie dann von hinten auf der Dachterrasse genommen, auf der ich zwei Wochen zuvor noch die Weinflasche in die Richtung ihres Bauchnabels geschoben hatte, aber deswegen hatte er sie doch noch lange nicht verdient.

Für einen kurzen Augenblick betrachten wir gleichzeitig den wackeligen Steinturm in der Mitte des Kreises.

Na ja, sagt Lukas, winkt jetzt doch ab und beschriftet seinen Stein ganz alleine. Für einen Moment ähnelt er Jara in seiner Nachsichtigkeit, und ich frage mich, wer die Geste von wem abgeschaut hat oder ob sie sie in ihrer Beziehung gemeinsam entwickelt haben und jetzt ab und zu abwinken, na ja sagen und das Liebe nennen.

Ich verrate Lukas dann doch nicht, nicht, weil er es nicht verdient hätte, sondern weil Jara damals seufzte, dass sie es einfach nur vergessen möchte, bevor wir in meinen Geburtstag reinfeierten. Und weil ich auch kein besserer Mensch war als er, um Mitternacht bekam ich einen Traumfänger und einen Gummibaum geschenkt und von Alex einen Jute-Beutel mit dem NASA-Logo. Alex denkt bis heute, ich hätte mir die Strapse selbst gekauft, die Strapse und das Teleskop.

Still nehme ich mir einen Stein. Ich hab was, das möchte ich wirklich loswerden, einen ganzen Tag möchte ich aufschreiben, ab der Minute, in der ich vor einigen Jahren das Blumenfeld erreicht hatte. Da war Joni schon von dem Bänkchen an der Bushaltestelle aufgestanden und hatte im Gehen ein paar Tulpen für mich abgeknickt.

Ich hab was für dich, sagte er und drückte sie mir in die Hand.

Die sind sehr schön, sagte ich und freute mich, weil für Fede hatte er noch nie Blumen abgerissen, zumindest hatte ich es nie gesehen.

Ja, sagte er, für dich.

Und das dich klang ganz konkret, viel konkreter, als ich mich fühlte. Ich lehnte mich in das Wort hinein und an seine Brust und presste meinen Bauch an seinen Bauch, fuhr mit den Fingerspitzen seine Wirbelsäule auf und ab, und dann drückte ich mein Gesicht fest in sein T-Shirt, weil mich sein Grinsen störte.

Joni roch nach mir, was nur bedeutete, dass unsere Mütter dasselbe Ariel-Waschmittel benutzten, es ärgerte mich, nie konnte ich eine neue Erfahrung machen, fick mich, sagte ich und hörte mich endlich richtig fremd an.

Joni atmete okay in meinen Nacken, aber tat dann einige Zeit lang nichts mehr, als meine Hüfte festzuhalten. Ich wusste auch nicht weiter, ich hatte noch nie einen Film gesehen, in dem zwei auf einem Blumenfeld Sex haben, lieber hätte ich das abgerockte Waschbecken einer Clubtoilette hinter mir gehabt und ein kurzes schwarzes Kleid getragen, dann hätte ich gewusst, was jetzt zu tun wäre. Fick mich, sagte ich wieder, die Wut war nicht mehr da, und diesmal klang es verlorener, als würde ich einen Fremden am Bahnhof nach dem Weg fragen.

Okay, sagte er noch mal, aber stützte sich jetzt nur noch hilflos auf meiner Hüfte ab, die Blicke rücklings schwer vergraben in den eigenen Erwartungen, bis ich wusste, worauf er wartete, meinen Rock hochschob und eine Hand in den Slip schob, da kam Bewegung in Joni, als hätte er erst jetzt einen Entschluss gefasst.

So eine bist du also, sagte er dann und grinste wieder in die Worte hinein und zog mich auf die Erde und tauschte meine Hand durch seine aus, und beinahe musste ich lachen, weil seine Finger nicht genau wussten, wo sie hinsollten, bis sie es doch wussten und sich wütend bewegten. So, ja, fragte er, und ich sagte, ja, aber er glaubte mir erst, als ich damit begann, stoßartig auszuatmen.

Meine ganzen Sorgen blieben unbegründet, Alex tauchte nicht auf, und Fede kam nicht, und als Joni mir später sein Shirt gab, dass ich mir damit die Erde aus dem Gesicht wischen konnte, und mir dabei ins Ohr flüsterte, ich habe doch gleich gesehen, dass du so eine bist, da nickte ich und lächelte und sagte, tja, da siehst du mal, und wunderte mich, dass ich selbst noch da war.

Auf dem Heimweg passierte nichts Besonderes, außer dass er geräuschloser ausfiel als sonst, und das, obwohl schon lange das meiste leiser geworden und ich inzwischen gut darin war, in die Stille hineinzuhorchen.

In die Küche, in das Badezimmer, in das Schlafzimmer und in den Raum, in dem mein Vater lag. Er lag da immer noch in dem Spalt zwischen den Matratzen, obwohl die Drachenzeit schon längst vorbei war, die Schnüre aufgerollt im Keller lagerten, der Winter gekommen und der Frühling vergangen war, der letzte Frühling, dachte ich in dem Jahr immer wieder, das hier ist der letzte Frühling.

Und, fragte er, als ich die Tür leise öffnete und seinen Brustkorb beobachtete, der sich angestrengt hob und senkte, alles gut? Ich hätte antworten können, wäre die Stille nicht zuerst da gewesen, hätte neben uns ein Telefon vibriert, wäre mir sofort etwas eingefallen.

So wartete ich ab, wie ein höflicher Gast, der auf keinen Fall drängen wollte, aber die Stille verabschiedete sich nicht, und wir blieben zu zweit im Raum stehen, bis mein Vater seinen Kopf langsam drehte und fragte, was hast du denn, Maus?

Ich bin keine Maus, sagte ich.

Nicht, fragte er leise. Nein, sagte ich.

Okay, sagte mein Vater und sah mich an, als suchte er etwas in meinem Gesicht. Als er nichts finden konnte, da wurden meine Knie zittrig, ich verzieh ihm das nicht, dass er keine Ahnung hatte, wer ich war.

Nicht, fragte er, legte die Hände auf sein Gesicht und fing an, zu weinen.

Ich verließ den Raum und suchte mir einen, in dem die Stille mich wieder empfing. Ich wartete auf ein Bauchgefühl, doch es breitete sich nichts aus. Ich betrachtete den Bauch nur im Spiegel, formte mit der Hand eine Zange und presste das Fett zusammen.

Zwei Tage später kam ich wieder zum Blumenfeld und steckte zehn Euro durch den Spalt.

Am Abend war meine Mutter schon bei der Tagesschau eingenickt. In der Nacht versuchte ich, Gott mit einem Kissen zu ersticken, obwohl ich schon von zwei Dingen wusste, dass sie ganz sicher nicht existierten, Gott und sanfte Gewalt.

Eine Woche später hatte Joni mir dann diesen Affenemoji geschickt, der sich entschuldigend lachend die Augen zuhält, und dann haben wir uns zwei Wochen später in echt wieder getroffen, und er sah gar nicht aus wie der Affe, er hatte es noch nicht mal hinbekommen, sich wirklich zu entschuldigen, er saß nur neben mir und hatte die Hände irgendwo im Schoß und den Kopf gesenkt, so wie mein Vater manchmal dasaß, wenn ich nicht wusste, ob er noch lebte oder nicht mehr richtig.

Es tut mir leid, sagte ich schließlich, du hast jetzt sicher ein schlechtes Gewissen wegen Fede.

Geht, sagte er.

Musst du nicht, erwiderte ich und tätschelte seine Hand, im Grunde habe ich ja angefangen.

Am dritten Tag danach, als Fede mir zum dritten Mal die Hausaufgaben vorbeigebracht hatte, da tropften plötzlich Tränen auf das karierte Papier. Joni meinte, dass du auf ihn stehst, brach es aus ihm heraus. Das tue ich nicht, sagte ich schwach, und dann sagte ich gar nichts mehr. Und weil Fede sich schon damals lieber kleiner als größer machte, fing er nicht an mit der Wut, sondern gleich mit der Verzweiflung, nimm mir ihn bitte nicht weg, sagte er und legte seinen Kopf in meinen Schoß, nimm mir ihn bitte, bitte nicht weg. Werde ich nicht machen, sagte ich, versprochen, und streichelte ihm über seine blonden Haare.

Danach trafen wir uns nicht mehr zu viert.

Als meine Mutter Alex nach ein paar Tagen erlaubt hatte, mich wieder zu besuchen, sagte ich, es gehe mir schon wieder besser.

Super, sagte er, aber du darfst mich nicht anstecken. Mache ich nicht, sagte ich, und während ich mich an seinem Hals festhielt, konnte ich nicht aufhören, ihm zu schwören, dass ich bei ihm bleiben würde.

Ich weiß, dass du dableibst, sagte er, du musst das doch nicht so oft sagen.

Ich traue mir aber nicht, sagte ich, und er sagte, ich traue dir schon, und drückte meine Hand.

Sag mal, lacht Linda neben mir, wird das ein Roman?

Quatsch, sage ich, mir ist nur noch was eingefallen. Wenn ich die Wahrheit sagen möchte, dann muss ich von vorne anfangen, Samir, Fede, Marie, Jara, selbst Lukas schreibe ich auf den Stein, Wien auch, die Affären, Michi, Jascha, David und Alex, zweimal unterstrichen, das geht viel früher zurück, Mama, Papa, mich.

Lukas schaut prüfend in meine Richtung, ne, Anna, lacht Linda, jetzt sag mal, was war denn noch Wichtiges?

Ich will nicht darüber reden, antworte ich, ist etwas privat.

Was über Alex, fragt Fede, aber das würdest du doch nichts loswerden wollen.

Och, mann, nölt Linda, ich weiß genau, dass sie nicht böse, sondern nur neugierig ist, und trotzdem möchte ich sie schlagen.

Ist echt nicht so spannend, sage ich und deute entschuldigend in den Kreis, aber, füge ich hinzu, es war sehr wichtig, und uns geht es gut, und wir sind glücklich miteinander.

Kurz ist es still im Zimmer, dann schreit Fede plötzlich auf, ich weiß es, ihr habt euch verlobt.

Alex und ich, frage ich. Oder, brüllt er, ihr hattet doch Jahrestag im Oktober, oder, oder, oder?

Ja, sage ich, genau. Mein Gott, seufzt Linda und legt sich eine Hand über das Herz, das ist so romantisch. Fede strahlt, Alex und Anna sind nämlich schon seit sechs Jahren zusammen, und ich habe sie damals zusammengebracht, im Biounterricht in der achten.

Fede deutet mit dem Zeigefinger auf mich und schaut sich stolz im Kreis um, dann strahlt er mich an, ich wusste es.

Seit sieben, sage ich.

Herzlichen Glückwunsch, sagt Marie, warum hast du uns das nicht schon früher gesagt, dann hätte ich gleich den Sekt gebracht. Lukas hebt beide Hände und drückt dann mit ihnen nachdrücklich und sanft die Lautstärke nach unten, vielleicht hat er Angst, dass ihm das Spiel entgleitet, vielleicht spürt er, genau wie ich, die Blicke von Samir und Jara, die beide irgendetwas suchen. Mich vielleicht oder die richtige Version der Geschichte.

An unserem Jahrestag standen Alex und ich am Würstelstand und stießen mit Cola an, während Chantal, die dort halbtags arbeitete, mit ihren kräftigen Armen unseren Stehtisch abwischte. Wir betrachteten ihren Busen, ihr Doppelkinn und die dünnen Haare, die sie im Pferdeschwanz hinten hielt, während es schien, als würde ihr ganzer Körper nach vorne gezogen werden, von den breiten Schultern und den Fingern, die immer irgendetwas packten oder auswrangen oder festhielten, Chan Dark, sagte Alex, wie Jeanne d’Arc, so solltest du heißen, oder? Chantal grinste, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, und hielt ihm fünf Finger hin. Alex schlug mit seiner freien Hand ein.

Du hast es vergessen, sagte ich und drehte mich ein wenig ein, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

Was meinst du, fragte er und fummelte an dem roten Deckel seiner Cola herum, dann schüttelte er den Kopf, bevor ich seine Frage beantworten konnte.

Shit, sorry, sagte er, der war ja heute, aber ist doch auch nicht so wichtig, für mich sind wir halt jeden Tag zusammen.

Klar, sagte ich.

Toll, sagte er, jetzt bist du sauer, dabei zitterten meine Finger vor Erleichterung, weil ich zum ersten Mal nichts falsch gemacht hatte. Ich bin nicht sauer, meinte ich und wollte nach seiner Hand greifen, die er mir dieses Mal entzog, ich weiß doch, wie du bist, wenn du sauer bist, sagte Alex und wich einen Schritt vom Tisch zurück.

Weil ich ihm bis zur Wohnung hinterherlaufen musste, fiel mir auf, dass ich schon lange nicht mehr von hinten auf seine ausgetretenen Turnschuhe gesehen hatte.

Erst jetzt erinnerte ich mich daran, dass seine Jeans dort ausgefranst waren, wo er in der Wohnung immer barfuß auf ihren Saum trat, weil er sich noch nie dafür interessiert hatte, ob ihm Kleidungwirklich passte.

Als Alex hinter einer Kreuzung verschwand, bekam ich Angst, ihn zu verlieren.

Ich konnte mir nicht vorstellen, im Abseits des Fixpunktes zu leben, den ich in ihm gefunden hatte. Unsere Beziehung markierte den Weg, ohne den ich das Geradeaus nicht vom Seitensprung unterscheiden könnte.

Ich bin nicht sauer, wiederholte ich, als ich ihn kurz vor der Wohnung einholte, ich habe nur Angst.

Angst vor was denn, seufzte Alex, es ist doch alles gut.

Angst vor allem, sagte ich und dachte an die Orientierungslosigkeit, an die falschen Entscheidungen und an den letzten faltenlosen Sommer.

Wir können wieder umziehen, wenn du magst, warf ich ihm im Treppenhaus zwischen die Schulterblätter. Nicht zurück, aber woandershin, im nächsten Semester.

Ja, sagte er, ohne den Kopf in meine Richtung zu drehen. Wien tut uns nicht gut.

Wien ist ein Drecksloch, sagte ich und holte ihn endlich ein. Ich war wütend auf Wien und auf Alex’ blaue Wetterjacke, die so neu gekauft und unbeschmutzt brav praktisch aussah, während ich mich wie das Gegenteil davon fühlte.

Versprichst du mir, dass du nicht weggehst, bat ich Alex und öffnete seine Wetterjacke von vorne, um mit meinen Händen seinen Brustkorb umfassen zu können.

Alex sagte, okay, und dann sprachen wir nicht mehr darüber, später kraulte ich ihm den Nacken, und er drehte mich im Bett auf den Bauch, und irgendwann morgens stellte ich mir einen neuen Home- und Sperrbildschirm ein, ein Gedicht von Marie Howe.

Müssen wir wirklich bis Silvester wach bleiben, gähnt Jara, legt ihren Kopf auf meinen Schoß und sieht mich an.

Ja, sage ich, wegen der Wunderkerzen. Dann folge ich ihrem Blick zur Decke der Wohnung, die mit Stuck verziert ist. Ich ziehe meine Hand unter Jaras Haaren hervor und betrachte die Kuppe meines Zeigefingers, die längst wieder verheilt ist, was mir irgendwie anstößig vorkommt, als würde sie mich verraten. Jara, sage ich, weißt du, woran ich denke?

Ne, sagt sie.

Könnt ihr leiser sprechen, fragt Lukas.

Ich denke, flüstere ich, dass Alex der Mensch ist, der am meisten von meinem Blut kennt oder am meisten davon gesehen hat.

Was, fragt Jara.

Der am meisten von meinem Blut kennt, wiederhole ich, und Jara schüttelt den Kopf, ich habe dich schon verstanden, du Vogel.

Könnt ihr bitte, sagt Lukas, und Jara rückt ein wenig von mir weg.

Wo sind denn deine, frage ich laut in die Runde.

Hier, erwidert er ruhig, hebt einen einzigen großen Stein hinter sich auf undrollt ihn vorsichtig zu den anderen auf den großen Haufen.

Und, frage ich, während Jara sich ein bisschen aufrichtet.

Und, antwortet Lukas und blickt in die Runde, ich hätte letztes Jahr mehr auf die Prüfungen lernen sollen, das steht da drauf.

Bevor ich mich aufregen kann, legt Jara mir schon eine Hand aufs Knie, ich habe es für uns beide aufgeschrieben.

Das kann doch nicht reichen, flüstere ich zurück, du warst doch nicht mal diejenige, die weggerannt ist.

Bei dem Spiel reicht es, wenn einer das aufschreibt, sagt Jara, das ist ja das Besondere daran.

Das glaubst du selbst nicht, sage ich.

Okay, sagt Lukas, noch zwei Steine für jeden, wir haben irgendwie zu wenige.

Oder das letzte Jahr war einfach beschissen, murmelt Erik und nimmt sich drei und schiebt uns fünf rüber.

Für eine Sekunde möchte ich alle behalten und habe Angst, dass selbst die nicht ausreichen, ich rolle noch einen Stein weiter zu Jara und schreibe irgendetwas auf meine beiden, Klausur unterpunktet und Mamas Besuch.

Ich schreibe nicht auf den Stein, wie oft das Waschbecken in den letzten Wochen noch nach Alex gefragt hat, dass ich ihm vor vier Tagen noch geschrieben habe, deinen Haaransatz hätte ich nie geheiratet und wegließ, dass ich den Rest bei keinem anderen fand. Und es immer nur so lange gut ging, bis die andere Person den Hocker in der Bar zurückschob und ich dann für drei Minuten mit meinem Kiefer alleine gelassen wurde.

Dass ein Mann namens David heute Morgen meine Finger von seinem Hosenknopf schob und meinte: Eins nach dem anderen, und ich dachte: Einer nach dem anderen, denn seit Alex nicht mehr da war, waren alle nur noch andere nach dem einen. Dass ich Alex danach geschrieben habe: Ich weiß, ich habe meine schlechten Seiten, aber seit wann willst du sie nicht mehr lesen?

Dass Alex seit vier Wochen nicht mehr in der Wohnung aufgetaucht ist, obwohl heute Morgen schon der erste Schnee auf der Fensterbank lag, und dass ich gestern Abend David mit hochnahm und er einen Haufen Schnee mit den Fingerspitzen aufsammelte und mir den Frost auf meine Brüste legte.

Dabei lächelte er mich an, weil die Nippel steif wurden, er lächelte mich an, als wäre das ein Insiderwitz, dass die Nippel steif werden, und ich lächelte zurück und drückte meine Zigarette irgendwo in der Nähe seines Handgelenkes aus.

Schön, meinte er, sei die Wohnung, so hell, so geräumig, und ich weiß noch, wie ich heute Morgen dachte, dass er, statt eines Liebhabers, lieber ein Lesezeichen sein sollte, dann könnte er hier in unserer Wohnung liegen bleiben. Ich weiß, dass ich meine Finger an seine Lippen legte und wusste, ich werde nie mal kurz seine Stimme hören wollen.

In diesem Moment war mir das Wort Sickerwitz eingefallen, worauf ich die Fenster schloss, den Tabak einrollte und sagte, es sei schon spät.

Ich gehe ja schon wieder, erwiderte David da und zog sich langsam seine Schuhe an. Dabei sah er auf unser Regal, das wir immer noch nicht aufgebaut hatten, und auf die Umzugskartons, die immer noch ins Wohnzimmer glotzten, auf denen aber jetzt seit einem Jahr zu verschenken draufstand.

Möchtest du einen davon haben, fragte ich David und kickte gegen einen Karton.

Nein, danke, sagte David, aber ein Kaffee wäre nett.

Hab ich nicht, sagte ich, was stimmte, nur noch ein Glas Kapern und eine halbe Tüte Milch, die seit drei Wochen offen im Kühlschrank stand.

Kein Thema, murmelte David, und ich nahm ein Buch aus einem der Kartons, John Berger, sagte ich, den musst du gelesen haben.

Nächstes Mal vielleicht, sagte er. Ich wollte ihm die ganze Kiste hinterherschieben, weil ich nicht verstand, wie das funktionieren sollte, heute Abend wieder die Wohnung zu betreten und mich nach Alex umzusehen und den Rest der Zeit die Stille auszuhalten.

Ich muss jetzt los, sagte ich dann, obwohl ich eigentlich nur wollte, dass er losmusste. Ich ließ mich vor ihm aus der Wohnung und schob ihm dabei meinen Schlüsselbund in die Jackentasche.

Viel Spaß dann, sagte ich und ließ die Tür einen Spaltbreit offen, stolperte das Treppenhaus runter zum Bus, rannte dann weg und fühlte mich für einen Moment befreit von der Wohnung, die ich nie wieder betreten musste, und von dem Umsehen und der Schuld, die damit auch nicht mehr auf mich zukommen würden, aber nur ungefähr fünfzehn Minuten lang, dann rannte ich wieder zurück, und die Tür war verschlossen.