Alex hat wenige Arten, sich aufzurichten. Er sieht dabei immer gleich aus, als hätte er vor einiger Zeit etwas verteidigen wollen, worauf es dann nie einen Angriff gab. Die Ledercouch hinter ihm bleibt glatt, nachdem er aufgesprungen ist. Jetzt steht er wütend auf dem blau gemusterten Teppich, auf dem ich eben noch gesagt habe, uns gehe es gut.
Ich bleibe auf den letzten Treppenstufen stehen. Das Geländer ist es gewöhnt, festgehalten zu werden, je stärker ich zudrücke, desto besser passen meine Fingerkuppen in das dunkle Holz. Alex trägt nicht mehr die Jeans mit dem ausgetretenen Saum. Die neue steht ihm besser und endet knöchelfrei über den Sneakern.
Was machst du hier, fragen wir beide gleichzeitig. Ich spüre seinen Blick auf mir, während meiner auf seine Schuhe gerichtet bleibt, immerhin, denke ich, der stille Vorwurf ist noch da.
Elin sieht in Wirklichkeit noch schöner aus als auf dem Bild, ich muss den Blickkontakt mit ihr abbrechen, weil ich mich ansonsten mit den Augen vertippe.
Ich dachte, es kommt nur Elin, antworte ich. Ich starre auf ihr dunkelrotes Kleid und ihre hochgesteckten Haare. Elin ist resoluter und größer als ich, ihre Schultern sind geformt und sie hat kleine Brüste, die nicht im Weg sind und die sich jetzt schon wieder in Richtung Haustür drehen, während sie mit abgeklärtem Blick auf unsere Auseinandersetzung wartet. Chan Dark, denke ich wieder, wenn Alex nicht auf sie aufpasst, verlässt sie ihn gleich wieder, dann ist sie mit einem Bein schon aus der Tür.
In dem Moment kommt Fede aus der Gästetoilette, Alex, schreit er, wir haben schon den ganzen Abend auf dich gewartet. Mit ausgestreckten Armen rennt er auf ihn zu und umarmt ihn fest, wir haben uns so lange nicht mehr gesehen, herzlichen Glückwunsch zur Verlobung.
Ich spüre Jaras Blick, der von der Küchentür aus zwischen Alex, Fede und mir hin und her schweift. Jara versteht noch nicht ganz, was hier gerade passiert, aber Alex ist jemand, von dem man sagt, dass er schnell schaltet.
Ich dagegen drehe mich langsam auf meiner Treppenstufe um, weil ich mich im Badezimmer einsperren oder aus dem dritten Stock springen muss.
Anna, ruft Fede aus der Umarmung heraus, Alex ist da, endlich!
Fede, sagt Alex laut und löst sich aus seinem Griff, ich freu mich auch, dich zu sehen. Alex hatte schon immer ein gutes Gespür dafür, was man besser weglässt, er legt die richtige Länge an Stille ein, damit Witze witzig sein können, er hasst lange Bücher und klassische Musik, weil er die schlecht geschnitten findet.
Das hier, sagt er dann und legt einen Arm um Elins Hüfte, das hier ist Elin.
Für einen Moment verharren alle drei in ihrer Bewegung, Elin sieht zu Alex, Fede starrt auf Elins rot angemalte Lippen, und Alex möchte am liebsten den Moment schon jetzt aus seiner Erinnerung löschen und zur nächsten Szene springen. Abends habe ich ihm manchmal vorgelesen, aber immer nur die Sätze, die ich beim ersten Lesen unterstrichen hatte.
Warum hast du damit aufgehört, hatte ich ihm nach dem Umzug einmal gefragt, mitten zwischen Herta Müller und Doris Anselm, als Herta Müller noch sagt: Warum gerade jetzt, ohne meine Füße kommst du doch nicht weit.
Womit, hatte Alex gefragt und sich von mir weggedreht, um auf seiner Seite einzuschlafen. Alex brauchte oft lange, um einzuschlafen, weil es ihm schwer fiel, mit den Tagen abzuschließen.
Mit dem Filme schneiden, hatte ich gesagt.
Das lief ohnehin nie richtig, hatte er gegen die Wand gemurmelt, und außerdem ist mein Probeabo von der Adobe Cloud abgelaufen.
Fede mustert Elin von oben bis unten, er bleibt an Alex’ Hand hängen, und auch für mich erübrigen sich in dem Moment alle Fragen, die ich an ihr Foto auf Instagram noch hatte, bei ihrem selbstbewussten Blick und bei Alex’ neuer Hose und seinem mitleidigen Blick in meine Richtung.
Über mir steht Samir und spannt seine Arme zwischen Treppengeländer und Wand, um mir den Weg nach oben zu versperren. Weil ich nicht zu ihm aufsehen möchte, atme ich geradeaus auf seinen Hosenstall, bis ich doch hochschaue, sein Gesicht ist weit über mir, die Lippen sind zusammengepresst, mit den Augen lächelt er, keine Chance, hier kommst du nicht durch.
Anna, fragt Fede verwundert und leise und entdeckt mich jetzt auf der Treppe. Auch Jara schaut in meine Richtung, immer noch steht sie eingeampelt in der Türschwelle, während sich die Betrunkenen an ihr vorbeischieben, ich erkenne Marie, Linda und Erik im Halbdunkel und andere Leute, die jetzt im Sitzkreis Blei gießen.
Alex und Elin tauschen Blicke. Dann winkt Alex mich zu sich wie ein Hund, und ich laufe die letzten Treppenstufen runter, mit gesenktem Blick, als hätte ich in seiner Abwesenheit vom Tisch gegessen und er würde mich jetzt zum Tatort führen, um laut zu fragen, was ist das, und ich müsste davor die Rute einziehen und ihm meinen Bauch entgegenstrecken und reumütig winseln, um wieder gestreichelt zu werden.
Schau nicht so, sagt er dann, während er genervt auf mich zukommt.
Wie denn, frage ich, und er meint, so, als hätte ich dir jetzt wehgetan. Alex’ Gesicht war mir nie abgewandter, trotzdem, wenn ich wollte, könnte ich es berühren. Ich will, ich will seine Antikörper in die Hand nehmen und sie bis zur Nichtresistenz anschreien, seinen Kiefer lösen wie eine Aufgabe, bis er wieder weicher wird.
Ich lasse das Geländer los und hebe die Hand, ich muss mit dir reden, Alex, sage ich, aber woher soll ich wissen, dass du dir so schnell jemand Neues suchst.
Alex überspringt die Distanz zwischen uns und packt mich an den Schultern, was ist eigentlich dein Problem, Anna, so schnell, das sagt ja genau die Richtige. Alex’ Augen waren schon immer braun wie nichts Besonderes, aber jetzt gibt es darin einen neuen Ausdruck, Weltschmerz, nur mit einem anderen Planeten.
Was ist denn los, fragt Fede vor mir, ich verstehe es nicht.
Mit Körpern ist Alex besser geworden, plötzlich hat er Kraft. Elin und er lagern zusammen alte Menschen um und schieben Rollstühle durch die Gänge, sie richten jemanden auf, duschen andere Haut, schmieren Brote und klopfen Leuten den Rücken frei.
Wir sind nicht mehr zusammen, sage ich zu Fede, und jetzt trägt Alex plötzlich Sneaker und datet seine Arbeitskollegin.
Wie, ruft Linda und schaut vom Bleigießen auf. Während sie redet, wippt sie weiter mit dem Kopf und wickelt sich ein paar Haarsträhnen um den Finger, wie, ruft sie aus dem Wohnzimmer, ich dachte, ihr hättet euch verlobt.
Elin schnaubt auf, Alex möchte cutten, er lässt meine Arme los und wischt sich mit den Händen über das Gesicht.
Seit wann das denn, fragt Fede verwirrt, warum hast du mir das nicht erzählt?
Das war nicht so einfach, sage ich und höre Samir hinter mir die Treppe runterkommen. Weil Linda eine ist, die immer dann erzähl doch mal sagt, wenn man nicht erzählen möchte, ist sie jetzt auch diejenige, die pssst in die Runde sagt, um meine Antwort genau mitzubekommen.
Was ist denn los, fragt sie dann laut, als wäre das der erste Akt einer Musicalerstaufführung, kann man euch irgendwie helfen?
Ne, rufe ich zurück, ich wollte nur Alex noch einmal sehen, und ihm sagen, dass.
Was denn, fragt Alex, was wolltest du mir sagen?
Dass, sage ich, dass.
Alex’ Hände schütteln jetzt eine Antwort aus mir heraus. Was, fragt er, Anna, was soll das sein, was ist denn dass?
Ich kenne seine Hände nicht mehr, früher war ich es, die nach ihnen greifen musste, und dann fügten sie sich immer nur in meine.
Was soll das sein, fragt er, was ist dass, was ist dass, hm? Alex’ Mund steht etwas offen, ich könnte Antworten hineinspucken, Würmer rein schnäbeln und es mit Erklärungen versuchen, bis er endlich satt wird und nicht mehr auf die Frauen achtet, die einen Löffel in ihn hineinschieben wollen.
Dass ich nichts dafür konnte, sage ich, meine Hände auf seiner Brust, teils zur Abwehr, teils um in Kontakt zu bleiben. Ich drücke bei jedem Wort mit den Fingern gegen sein Shirt, das ist einfach so passiert.
Ich sehe Alex in die Augen. Ein Blickkontakt ist keine Brieffreundschaft, Alex sieht weg.
Was, fragt er. Dass. Ich hebe meine Finger, um stumm mitzuzählen, das Gespräch mit meinem Vater, die trockene Erde im Tulpenfeld, Jonis wütende Finger und meine, die dann irgendwann auch wütend wurden, Alex’ weicher Körper und die Raufasertapete.
Was, fragt Alex, wer war es denn, was ist denn passiert, der Druck um meine Schultern lässt nach. Er ist bereit, den nächsten Schuldigen zu schütteln, wenn ich mit einem Finger auf ihn zeigen kann. Dann atmet er tief durch, scannt den Raum, den Alkohol und das Bienentier, die Zettel im Pappkarton auf dem blauen Teppich und die Sessel von Agatha Christie.
Es war Joni, oder, fragt Fede hinter mir, von früher?
Was war mit ihm, fragt Alex.
Du hattest auch was mit ihm. Fede setzt kein Fragezeichen hinter den Satz, sein Unterbewusstsein hat ein Kellerfenster.
Alex sieht mich lange an, ich verstecke mein Kinn vor ihm, das er sich früher öfter zwischen Daumen und Zeigefinger gelegt hat.
Genau, sage ich, ich habe mich mit Joni getroffen, obwohl Fede da schon mit ihm zusammen war. Meine Stimme zittert.
Warum, fragt Fede, und was ist das hier überhaupt? Er deutet mit einem Arm vage auf Elin, die angefangen hat, ihre Jacke wieder zuzuknöpfen.
War ein Fehler, hierherzukommen, sagt sie laut, sorry, eigentlich wollte ich nur Marie mal Hallo sagen.
Wo ist sie überhaupt, fragt Samir und drängt sich nun endgültig an der Treppe an mir vorbei.
Wer ist denn Joni, fragt Linda und klopft sich dabei mit den Händen auf die Oberschenkel, als wäre sie kurz davor, zu uns rüberzukommen, weil Trennungen immer spannender sind als Bleigießen.
Nichts, sage ich, alles gut.
Alex schüttelt entrüstet den Kopf, ich habe Anna verlassen, wenn ich dir mal eins sagen will, sagt er und dann nichts.
In mir ist es ganz leer. Elin seufzt mich an, sie ist nicht die Art Frau, die anderen von ihrer Verlobung erzählen würde, außer vielleicht in ihrer Whatsapp-Story drei Tage später. Elin ist die Art Frau, die Whatsapp-Storys macht.
Was war denn jetzt mit Joni, fragt Fede, ich verstehe es nicht. Alex winkt ab, mit dem hat sie uns vermutlich auch betrogen, oder?
Oder, fragt Alex noch mal.
Neben der Scham kommt die Wut darüber, dass sein Blick jetzt, jetzt ganz bei mir ist, nichts entgeht ihm, weder meine Hand am Geländer noch mein Mund. Sein Wahrnehmen hat mir so lange gefehlt, immer hat er nur nach mir gerufen, weil etwas repariert werden musste oder um mir zu zeigen, wie lange er schon freihändig Fahrrad fahren kann.
Ich habe ihm meinen Blick aufgedrängt, selbst dann noch, als es ihm egal wurde, ob seine Hand gerade gehalten wird oder nicht, und als er nur noch aufs Display schaute oder nach draußen oder ins Dunkle starrte, an seine Seite der Wand, und ich aus dem Fenster, die bunten Blätter an den Bäumen, hin zum Unsichtbarfühlen. Jetzt tut er so, als hätte ich ihn alleine gelassen, weil ich fremdgegangen bin, als hätte er sich nicht schon viel früher gewünscht, nicht mehr mitkommen zu müssen.
Ja, sage ich.
Alex wendet sich ab und lässt meine Schultern alleine. Elin sieht mich an, als hätte sie nichts anderes erwartet und schon Schlimmeres gesehen. Ich frage mich, ob die Eifersucht verschwinden würde, wenn wir die gleiche Kleidergröße hätten. Alex legt Elin einen Arm auf die Schulter. Ihr dunkles Haar bleibt glatt und seidig liegen, nur ihr Gesicht ist hart, in ihrer Nähe könnte man einen Herzinfarkt haben, sie ist so jemand, der ohne zu zögern das Ding an den Hauptbahnhöfen benutzt, mit denen man Leute wiederbeleben kann, weil sie einfach tut, was getan werden muss. Jetzt nimmt sie Alex an die Hand und sagt, komm, wir gehen, weil es nicht ihr Film ist und sie keine Nebenfigur.
Meine Schuld ist eine Statue im Raum, die ich so nicht stehen lassen kann, ich hebe sie auf, um sie zu zerschlagen. Ich liebe dich, sage ich, aber du warst nie da, und was ich jetzt sage, ist ernst gemeint, ich wollte es neu versuchen, ich habe das nächste Jahr dir gewidmet.
Hör auf, sagt Alex und tritt nach vorne, aber ich stelle mich in den Flur, um ihm den Weg zu versperren. Ich liebe dich, wiederhole ich, ich kann es dir beweisen, ich hab alles aufgeschrieben.
Das gerade geschnittene Wohnzimmer fällt mir auf, ich scanne den Raum und filtere alles Wirre heraus, die Indieboy-Softsoul-Musik und die stickige Luft, die Pappbecher und die anderen, Jara, Linda und Samir, die Marie gefunden haben, und ihr jetzt erneut helfen, Getränke zu verteilen. Fedes verletzter Blick und Alex’ Fluchtversuch, ich kann es dir beweisen, sage ich, wir haben alles aufgeschrieben, und ich habe Samirs Namen auf den Stein geschrieben, um einen Neuanfang möglich zu machen, um nicht mehr an dem Alten zu haften.
Was für Steine, fragt Alex.
Wir haben Steine beschriftet mit Sachen, die wir loswerden wollen, erkläre ich ihm, während ich kurz zum Küchentisch renne, um nach Lukas’ Rucksack zu greifen, schau her.
Alex legt sein Gesicht in die Hände und seufzt genervt, wir sind Mitte zwanzig, was wollt ihr loswerden, euer Abitur?
Alex, sage ich, und meine Stimme zittert vor Wut auf mich selbst, wie kann es sein, dass ich es nicht schaffe, ihm zu sagen, dass ich ihn jetzt sanfter lieben kann.
Elins Hand ist dunkler als meine und schmiegt sich fest in seine, als würden sie schon jetzt nicht mehr für alles Worte brauchen, sondern vieles über Druckaustausch klären können, mit den Handflächen, mit der Stimme, mit Gewicht. Sie verlässt ihn nicht, aber sie macht sich auch nicht klein, um bei ihm zu bleiben, das ist so eine Frau, denke ich, neben der man wachsen kann.
Dann verpiss dich doch, sage ich stattdessen, schaue auf seine Hose, du und deine unausgefransten Enden, und seit wann datet ihr überhaupt?
Geht dich nichts an, sagt Elin, aber ich fand Alex schon immer toll, komm, wir gehen.
Krass, sage ich, ich noch nie, ich fand ihn immer nur liebenswert. Fede fixiert mich mit dem gleichen Blick, mit dem er mich am Anfang des Abends nach dem Gespräch mit meiner Mutter bedacht hatte.
Das ist der Unterschied, sagt Alex, und ich wollte dich eigentlich schon verlassen, bevor wir nach Wien gezogen sind, aber dann ist dein Vater gestorben.
Und dann bist du aus Mitleid bei mir geblieben?
Ja, sagt Alex, irgendwie schon.
Ich spüre Jaras Hand an meiner Schulter. Falls sie eine Meinung zu dieser Szene hat, dann eine mit einseitigen Argumenten, die alle für mich sprechen, weil sie nur in den Momenten dabei war, in denen der Lieferservice kam oder wir über Laubblätter gesprochen haben. In denen Alex meine Hand nehmen und sie, ohne etwas damit zu meinen, wieder loslassen konnte. Jara schreibt mir den Bluterguss an seinem Hals nicht zu, nicht den Abstand, den er zu meiner Hand hält, nicht die Art, wie er einen Schritt nach hinten geht, sobald mein rechter Arm nicht mehr weiß, was er als Nächstes tun soll.
Du fandest alles immer so in Ordnung, wie es ist, rufe ich, du wolltest nie was ändern, ich finde, da gehören zwei dazu, außerdem, wenigstens war ich ehrlich im Gegensatz zu anderen Menschen hier im Raum.
Okay, sagt Elin, ich gehe.
Sie trägt einen Teddy-Mantel, seit wann, frage ich mich, seit wann steht Alex auf Frauen in Teddy-Mänteln. Sie kommt ganz angstfrei und unbeeindruckt auf mich zu. Anna, sagt sie, sorry, klärt ihr das alleine miteinander. Sie winkt mit einer Hand nach hinten, nachlässig in die Richtung, in der sie Alex vermutet, und schiebt sich an mir vorbei in den Flur.
Nein, Elin, ruft Alex, wir gehen gemeinsam. Alex wirkt etwas überfordert, Elin ist raus, sie kümmert sich gar nicht um Alex, das ist der Unterschied zwischen uns, ich hätte mich erst mal nach ihm umgedreht, sie fasst einfach mit an und denkt, er ist erwachsen und weiß schon, was er tut. Von Nahem sehe ich die Schatten unter seinen Augen und seinen flachen Bauch, der einen Abdruck ins Hemd atmet.
Hastig öffne ich den Rucksack und suche nach meinem Stein, warte, rufe ich, ich kann es dir beweisen.
Eine Hand legt sich auf meine Schulter, beruhige dich mal, Anna, sagt Fede, und dann schleust er Elin vorbei, aber Alex, was ist los mit dir?
Fedes Hand bleibt an meinem Ellenbogen, während ich mich weiter durch die Steine wühle, wer hat dir denn in den Kopf geschissen?
Du weißt gar nichts, sagt Alex, und jetzt lasst mich durch, das ist vorbei.
Ist es nicht, rufe ich und schaue vom Rucksack hoch, deine Sachen sind noch in der Wohnung. Samir kommt jetzt auf uns zu und beobachtet Alex wie ein Würfelspiel. Er kennt ihn von meinen Profilbildern, auf denen bin ich nie alleine. Immer ist Alex neben mir, oder Jara, oder zumindest ein Wind, der in die richtige Richtung weht.
Mir sind die Sachen egal, ruft Alex, jetzt lasst mich durch!
Na ja, sagt Samir, der jetzt aufgeschlossen hat, ich lade euch ein, mit mir als Gesprächsleiter das Ganze in einer ruhigen Atmosphäre zu besprechen. Samir kennt sich aus mit Gruppenpädagogik, er möchte jetzt gemeinsam Gefühle lösen wie einen gordischen Knoten.
Klingt gut, nickt Fede. Er strahlt Samir an, während ihm die ganzen Coming-of-Age-Gedanken im Kopf herumschwirren.
Warum denn, fragt Alex, ich kenne dich nicht mal.
Wenn sich hier einer raushält, ich deute schnell auf Samir, dann du.
Na ja, sagt Fede eifrig und verstärkt vor Euphorie seinen Griff an meinem Arm, ist doch ein nettes Angebot, die Situation scheint ja doch etwas verfahrener zu sein.
In dem Moment erkenne ich meine Schrift wieder. Ich hab ihn, rufe ich und hebe triumphierend meinen Stein hoch, siehst du, ich habe dich nicht angelogen, ich wollte das loswerden. Aber Alex hört mir nicht zu, bis ich ihm den Rucksack in die Hände drücke und sage, hier bitte, dich wollte ich nie loswerden, dich wollte ich immer nur zurück.
Ey, ruft Samir und deutet auf meinen Stein, den ich weiter in der Hand halte, warum steh ich da drauf?
Du bist das, fragt Alex und dreht sich um, hätte ich mir ja denken können. Samir und Alex starren sich an, Alex ist etwas größer, aber Samir hat die Überheblichkeit seines Vaters geerbt, wenn er will, kann es ihm egal sein, was die Leute von ihm denken, Samir kann sich Autos leisten mit Sitzen, die ihn massieren.
Weil ich das vorher ernst meinte im Bad, sage ich und halte den Stein in der Hand, als wäre ich bereit, ihn zu schmeißen. Ich will das nicht, ich wollte immer nur Alex, ich wollte es wirklich, wirklich versuchen, ich habe das ernst gemeint.
Wie, fragt Fede, was ist mit Samir?
Nichts, sagt Samir und zeigt wieder die Seite von sich, die schon zensiert wurde. Das, sagt er, das geht jetzt wirklich nur mich und Anna etwas an.
Wo ist mein Rucksack, ruft Lukas in den Raum und bildet dabei mit beiden Händen ein Sprachrohr, es ist schon halb elf, wir müssen jetzt los, die Steine wegschmeißen.
Wir haben die, ruft Fede zurück, aber wir brauchen sie auch noch kurz.
Darf ich noch einmal mit dir reden, frage ich, während ich versuche, alle anderen Gefühle verstummen zu lassen, als Erstes meinen Besitzanspruch auf seine Berührung.
Was ist denn, fragt Alex angespannt.
Du musst noch mal kommen, sage ich, deine Sachen holen. Ja, ja, nickt er.
Das ist wichtig, wiederhole ich. Zum ersten Mal blickt er weicher an mir herab, ich glaube, er hat Mitleid mit meinen Fäusten. Es tut mir so leid, sage ich, weil es stimmt, aber es stimmt auch, dass mir im Gegensatz zu ihm nichts wehtut.
Ich habe Angst, dass Alex sie sonst gar nicht mehr holt, und dann sitze ich in der Wohnung wie meine Mutter und muss schon wieder den Haushalt oder mich selbst auflösen.
Gut, sagt Alex, dann machen wir das jetzt gleich.
Jetzt geht noch nicht, sage ich, da feiert jemand drin.
In unserer Wohnung feiert jemand, fragt Alex, wer?
Ein Freund, sage ich.
Welcher Freund, fragt Alex und kickt einmal frustriert in den Jackenstapel neben mir. Die sind doch alle hier, deine Freunde, ruft Alex, oder hast du noch mehr Freunde.
Das dachtest du nie, sage ich, jetzt tu nicht so, als ob, beginne ich, aber lasse den Satz dann einfach in der Luft hängen und trocknen, meine Stimme ist belegt. In zwei Stunden bei der Wohnung, sage ich, dann ist frei, dann kannst du alles holen.
In zwei Stunden, sagt Alex und sieht auf sein Handy, halb zwei.
Halb zwei, nicke ich, abgemacht.
Anna, sagt Alex, ich räume es aus, keine Sorge. Seine Hand beweist mir, dass er es ernst meint, ganz kurz legt er sie auf meinen Arm wie ein Versprechen. Dann möchte er endgültig an mir vorbei, um Elin wieder einzuholen, die vermutlich längst vor dem Haus steht und ihm draußen eine Zigarette anbieten wird.
Ich komme, wiederholt Alex, während er Fedes’ Hand abstreift, die ihn immer noch vom Gehen abhalten will, aber weggeschmissen wird hier gar nichts, was ist das denn für ein bescheuertes Spiel? Kurz sieht es so aus, als würde Alex mir den Rucksack zurückgeben wollen, doch dann überlegt er es sich anders und leert ihn aus, die Steine kullern über das Parkett. Auf den meisten Kieseln steht nur ein Wort, Dorf, zum Beispiel, Depression, Arif, 10 kg, Samir, Magda, Angst, Marie, Wien, Komplexe, auf manchen steht auch gar nichts, da hat jemand nur Sterne aufgemalt.
Ich höre Maries Lachen, als sie die Steine auf dem Fischgrätenmuster aufschlagen hört, und wie es abrupt aufhört, sobald sie die Beschriftungen liest.
Was soll das heißen, ruft sie, wer hat meinen Namen da draufgeschrieben.
Aha, sagt Alex, während er sich hastig seine Windjacke überstreift, da fängt es ja schon an.
Ich erkenne Lukas’ endoskopische Schrift auf einem großen vollgeschriebenen Stein, er möchte etwas viel Konkreteres in die Donau schmeißen als nur den Besuch bei seiner Mutter. Wer Überbegriffe loswerden will, meinte das Medienmädchen vorhin, möchte eigentlich alles behalten. Ich hatte ihr zugestimmt, auch weil ich verstand, dass es schwierig ist, irgendwas loswerden zu wollen, wenn man kein wirkliches Vertrauen in die Zukunft haben kann. Ich zum Beispiel, hatte sie gesagt, ich fühle mich so, als wäre noch nicht sicher, ob Netflix die zweite Staffel meines Lebens überhaupt produzieren wird und ob in der nicht alles nur schlimmer werden würde, also spulen wir bei der ersten immer wieder zurück zu unseren Lieblingsstellen und schauen dann noch die Interviews auf YouTube mit meinen liebsten Nebenfiguren, und alle Tabs bleiben offen.
Marie hebt den Stein hoch, auf dem ihr Name steht, Oida, ihr Arschlöcher, sie dreht sich zu Jara um, warst du das?
Ich, ruft Jara, hallo? Sie schiebt sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht, während sie den Boden nach ihren Steinen absucht. Die Schlagzeilen liegen offen, einige starren drauf, um ihre zu finden oder die der anderen zu lesen.
Nicht aufheben, ruft Lukas, die dürfen nicht mehr berührt werden!
Ich war das, antwortet Samir auf Maries Frage, aber das war eher so im metaphorischen Sinne gemeint.
Du wolltest mich im metaphorischen Sinne loswerden, schreit Marie, hörst du dich eigentlich selber reden?
Okay, sagt Alex, ich gehe.
Ja, brüllt Samir zurück, damit du mal selbstständig wirst und ich einen Abend lang machen kann, was ich möchte, ohne daran denken zu müssen, dass dich das verletzt.
Okay, danke, Anna, strahlt Marie, dass du immerhin seinen Namen aufgeschrieben hast. Sie kickt den Stein, auf dem Samirs Name steht, in seine Richtung und lacht.
Warum musstest du denn Samirs Name draufschreiben, ruft Fede, ich dachte, du warst noch nicht oft hier gewesen und ihr hättet euch nur einmal auf der Party gesehen.
Wir sind zusammen heim nach der Party, sagt Samir.
Auf der Erstsemesterparty, fragt Alex auf der Türschwelle, du betrügst mich schon seit zwei Jahren?
Ja, sage ich, aber ich will es auch loswerden.
Alex kommt noch einmal zurück in den Flur, bevor er antwortet, du kannst doch nicht zwei Jahre lang fremdgehen und dann einen Stein in einen Fluss schmeißen, Anna, so funktioniert das nicht.
Ich sehne mich nach der Couch und nach Erik, der das ganze Geschehen still vom Balkon aus beobachtet, ich möchte mit ihm zusammen in den Puff gehen und danach einen Fernseher aus dem Fenster schmeißen.
Ich verkrampfe meine Hände ineinander, weil ich zwar alle Therapien abgebrochen habe, aber schon etwas mitnehmen konnte, ich atme lange aus und halte Abstand zwischen mir und ihm, aber irgendwas muss ich doch sagen, um meine Wut zu kanalisieren. Etwas gegen Lukas’ fusselige Socken und seine aufrechte Haltung und gegen das Bienentier, das er jetzt in der Hand hält, als würde es ihm recht geben.
Also, sagt Linda, ich hab wirklich nur den Theaterregisseur draufgeschrieben, den Hurensohn.
Und ich nur den Puff, ruft Erik vom Balkon, wie kaputt seid ihr eigentlich?
Toll, sagt Marie, Anna hat uns alle auf ihren Stein geschrieben.
Mich auch, fragt Fede.
Dich auch, nickt Marie. Mein Stein liegt direkt auf der Teppichkante. Anstatt zu antworten, suche ich die anderen Kiesel nach Fedes Handschrift ab. Fede sieht verwirrt von dem vollgekritzelten Kiesel zu mir, warum hast du mich da draufgeschrieben, kannst du mir das mal erklären?
Lukas zum Beispiel, sage ich, anstatt auf seine Frage zu antworten, wollte nur Uni auf seinen Stein schreiben, aber schau mal, wie voll der ist.
Ich sehe, wie Jara die Augen schließt und plötzlich sehr müde seufzt und auch Fede legt den Kopf schief und blickt mich bittend an, aber Fede weiß auch weniger über Lukas als ich, er hält ihn für einen pedantischen, aber grundguten Kerl.
Wisst ihr, warum, weil er im September weggerannt ist, als Jara ihm gesagt hat, dass sie schwanger ist, und weil er sich dann zwei Wochen lang nicht mehr bei ihr gemeldet hat.
Das stimmt nicht, ruft Lukas laut und wird noch bleicher, als er sowieso schon ist, das Bienentier fest in seinem Griff. Er sagt es so laut, als hätte sich diese Antwort in dem Moment formuliert, in dem Jara mit ihrem ausgehöhlten Bauch zu ihm zurückgegangen ist und ihm sagte, meine Freunde finden dich feige.
Bist du sicher, frage ich laut, bist du sicher, dass das nicht stimmt, weil einer hat sich ja um sie gekümmert, einer hat ja zwei Wochen ihre Hand gehalten, einer ist ja mit ihr in die Klinik und drei Tage später wieder dorthin, einer war danach für sie da, und du warst das jedenfalls nicht.
Lukas schluckt und starrt für einen Moment auf dem Boden. Dann holt er tief Luft und sieht mich an. Bereit, die längste Rede der Welt zu halten, lauter als ich und mit mehr Zeigefingern als jeder andere.
Du hast keine Ahnung, sagt er dann nur, du hast einfach keine Ahnung.
Ich glaube, sein Körper wartet für einen Moment auf Jaras Berührung, die alle aufkommenden Gefühle wieder ein bisschen verwischt, doch Jara ist zum ersten Mal an diesem Abend mit sich selbst beschäftigt. Sie klappt auf dem Sofa neben ihm zusammen wie ein Gartenstuhl, dem man mit den Schuhspitzen die Gelenke zusammenkickt.
Du hast was gemacht, fragt Linda entsetzt, und Marie schaltet schneller und wendet sich Jara zu.
Jara, fragt sie, stimmt das, ist alles in Ordnung bei dir? Jara schüttelt Linda ab, um sich selbst getrocknete Salbeiblätter in Zigarettenpapier einzurollen, sie entzieht Linda ihre Finger, weil sie es nicht aushält, gehalten zu werden. Ich komm schon klar, sagt sie weinerlich.
Jetzt sag doch einmal die Wahrheit, sage ich zu Lukas, und lass nicht uns alle auf Steine schreiben, während du selbst gar nichts erzählst.
Lukas’ Mund ist ein dünner Strich. Er antwortet nicht, sondern sammelt einfach nur die Steine auf, alle anderen weichen zurück, er baut sich auf seinem Arm ein Kind aus Steinen und lässt es dann in den Rucksack fallen, den er mir vor die Füße legt. Schmeiß du die doch weg, sagt er dann, wenn du das alles so viel besser weißt.
Da musste wohl jemand etwas kompensieren, sagt Samir trocken und zu mir gewandt, während sich die anderen um Jara drängen und ihre Hand halten wollen, während sie anfängt, zu weinen.
Als ich den Mund aufmache, um mich bei irgendwem zu entschuldigen, sieht Jara mich nur stumm und verwaschen an, und ich schließe ihn sofort wieder, dabei brauche ich dringend eine Erlösung, oder zumindest einen Ablassbrief, dafür würde ich jetzt viel geben, via Paypal an den Papst.
Dafür musst du dich nicht schlecht fühlen, sagt Linda, während sie Jara die Hand streichelt, das ist dein Körper und deine Entscheidung.
Stimmt, sagt das Medienmädchen und streichelt ihr über den Rücken, ich hab’s auch getan. Weil alle sich jetzt im Halbkreis um Jara aufgebaut haben und sogar Fede sanft eine Hand auf ihr Knie abgelegt hat, lasse ich mich einfach, ähnlich wie Jara, auf den Boden zusammenklappen.
Bist du jetzt zufrieden, fragt mich Lukas und kickt mir den Rucksack an die Beine, wolltest du das so?
Das Kind war nicht von ihm, brüllt Jara da in den Raum, und dann holt sie freiwillig den Stein aus ihrer Tasche, den sie vorhin eingesteckt hatte.
Was, frage ich.
Ja, sagt Jara knapp und starrt vor sich auf den Boden. Von wem denn dann, fragt Fede.
Während Jara nicht gleich antwortet, gehe ich neben ihr in Gedanken all die Männer durch, denen wir im letzten Jahr an der Uni begegnet sind, aber bei keinem Gesicht bleibe ich hängen, weil es mir völlig unbegreiflich scheint, dass Jara, die immer schön und demütig über allem schwebt und alle Männer mit unverbindlicher Freundlichkeit in die Nieren tritt, dass diese Jara einen dieser verlorenen Jungs anschaut und sagt, fick mich.
Wer denn sonst, sage ich, ich dachte die ganze Zeit, ich bin die Einzige, die hier ihren Freund betrügt.
Quatsch, sagt Jara leise, und irgendwie verletzt mich das. Während Fede nachhakt, ob es jetzt einer aus unserer Stufe war oder aus ihrem Freundeskreis, ob es Lukas’ Zwillingsbruder war, wenn er denn einen hätte, da schaue ich auf Jaras Ringe und auf ihre Spangen und fühle mich plötzlich so schwer, als würde ich sie alle tragen müssen.
Ich erinnere mich an die Tage vor der Abtreibung, an die nass geweinten Kissen und an den tröstenden Geruch der Asia-Nudeln, an Jaras loses Haar, über das ich streicheln konnte, während sie mir von ihrer Mutter, von ihrem Herzen und von Lukas erzählte.
In diesen zwei Wochen im Sommer dachte ich, dass ich noch nie jemandem so nahe war, weil sie nackt vor mir aus dem Badezimmer kam und ich um fünf Uhr morgens nach vier Schachteln Kippen übermüdet und blau geredet dachte, jetzt kennen wir uns, jetzt kennen wir uns wirklich, jetzt kennt sich gerade niemand besser als wir beide uns, egal wer sonst gerade miteinander fickt oder isst oder redet oder raucht, näher als wir beide auf diesem Balkon kann sich gerade niemand sein.
Ich finde auch im Nachhinein keine Lücke in ihren Worten, hinter der sich die Lüge hätte verstecken können, keine Distanz zwischen uns.
Aber du wusstest damals noch nicht, frage ich, dass du nicht von ihm schwanger warst?
Doch, sagt Jara, das wusste ich.
Wie, frage ich.
Wir haben keinen Sex, sagt Lukas und wippt nervös auf und ab, auch ihm kommen jetzt die Tränen, er verstreicht sie linkisch mit dem Unterarm.
Ihr habt keinen Sex, fragt Linda.
Ich kann nicht, sagt Lukas und fügt dann ruhig hinzu, körperlich, ich konnte noch nie. Für eine kurze Sekunde ist es still.
Ach krass, wiederholt Linda, aber ist dann sensibel genug, um nicht weiter nachzufragen.
Nein, antwortet Lukas, und es belastet mich sehr.
Ich buddle mir das Gesicht in meine Handflächen ein, ohne dass ich mich entscheiden kann, ob ich mich mehr für Lukas schäme, für seine Socken und seinen Zeigefinger, der immer noch versucht, aufrechter als alle anderen zu bleiben, oder für mich, weil ich daraus gleich auf seinen Charakter geschlossen habe.
Jara sieht mich vom Sofa aus traurig an, ich habe es im Sommer nicht übers Herz gebracht, es dir zu sagen, sagt sie dann. Ich nicke und stelle mir ihr Herz vor wie einen sehr rutschigen Hügel, an dem nichts in meine Richtung gestoßen wird, an dem sie alles hinten runterfallen lässt, dass da eine Müllhalde hinter Jaras Herz ist, eine ohne Abwassersystem.
Und wer war es dann, frage ich nach einer Weile. Marie hält Jaras Hand, aber sie sieht dabei aus dem Fenster, hin zu den ersten Raketen, als würde sie sich nichts mehr wünschen, als jetzt nicht mehr hier zu sein.
Herr Limprecht, sagt Jara mit gedämpfter Stimme.
Nein, sage ich und muss mich mit einer Hand auf dem Laminat abstützen, meine Haare, die ich den ganzen Abend zu einem Dutt geknotet hatte, beginnen wehzutun.
Doch, sagt Jara und winkt mich weiter.
Ich schüttle ungläubig den Kopf, und Linda fragt, wer ist Herr Limprecht.
Unser Professor für Sprachwissenschaften, sage ich.
Nein, sagt Linda.
Doch, sage ich.
Na ja, sagt Marie und sucht wieder ihre Präsenz in der Wohnung, er ist auch ein netter Mensch.
Lukas neben mir atmet auf. Du wusstest davon, Marie?
Na klar, nickt sie, ist doch okay, kann man doch drüber reden.
Ich stelle mir vor, wie er erst zu ihrem Lektor wurde und dann zu ihrem Zeichenfehler und dann zu ihrem Seitensprung. Wann ist das denn passiert, frage ich, immer noch fassungslos, und warum habe ich davon nichts mitbekommen und Marie schon?
Fede grinst mich von der anderen Seite für einen Moment spöttisch an, als dürfte ich jetzt erfahren, wie sich das anfühlt, nichts mitzubekommen.
Irgendwann am Anfang des Semesters, erwidert Jara leise und belässt es dabei. Ich stelle mir vor, wie sich die beiden nachmittags trafen, um Jaras Seminararbeit zu besprechen, wie lange sie spielten, dass sie sich gegenseitig begreifen wollten, wann sie zugaben, dass es doch nur ums Anfassen ging.
Ich möchte Jara fragen, welche Sätze er in ihren Hausarbeiten unterstrichen hat, mit Bleistift oder mit Textmarker, ob sie ihn immer noch mit seinem Füller zwischen ihre Zeilen schreiben lässt, ob sie später die Tintenflecken gemeinsam abwischen, ob sie ihr Handy auf Flugzeugmodus schaltet und was für Ausreden sie für Lukas bereitgehalten hat, ob sie sich gemeinsam welche ausgedacht haben, so wie andere sich gemeinsam eine Zukunft ausdenken, und an welche Geräusche sie noch am nächsten Tag denken musste.
Und, frage ich, läuft das jetzt immer noch?
Nein, sagt Jara leise, danach habe ich aufgehört.
Und ihm hast du nie davon erzählt, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf, hat ja gereicht, dass er sauer war. Sie nickt zu Lukas, der unschlüssig mit den Steinen in der Hand im Raum steht. Ich geh jetzt, sagt er, das wird mir zu viel.
Ich auch, sage ich, aber nach dir.
Du, sagt das Medienmädchen zu Jara und hält weiterhin ihre Hand, ich finde das mega mutig von dir, abzutreiben.
Vielleicht können wir ein andermal darüber reden, erwidert Jara, ich versuche grade, es loszuwerden.
Ich hab es auch gemacht, sagt das Medienmädchen laut, was soll das überhaupt, wir können uns doch alle erzählen, was auf unseren Steinen steht, es macht doch jeder mal einen Fehler! Sie greift nach Jaras Arm, der sich unwillig von ihrer Körpermitte wegziehen lässt.
Und, fragt sie dann, wie waren die drei Tage davor für dich? Während Jara erzählt, wird Marie neben ihr immer stiller, sie schiebt sich vom Sofa und beginnt, die roten Pappbecher einzusammeln, sieht so aus, sagt sie laut, als wäre jetzt niemand mehr so richtig in Feierlaune, genauso habe ich mir das vorgestellt, danke, Anna.
Sorry, murmle ich, aber denke dabei weiter an Jara. Ich versuche, mich an die erste Stunde zu erinnern, die wir nach den Semesterferien wieder bei ihm hatten, aber mir fällt nichts ein außer die Details, an die ich immer sofort denken muss. Seine Jesusfrisur und sein schallendes Lachen, seine offen stehende, überquellende Schultertasche und seine unordentliche, ausladende Schreibschrift, der hätte es auch nicht geschadet, mal ein bisschen kleiner zu werden.
Okay, sage ich, rapple mich endgültig vom Boden auf und versuche, Lukas einzuholen, der zur Tür läuft. Sorry, Lukas, sage ich. Von Lukas fällt ein Gesicht ab, sobald ich mich entschuldigt habe. Ich hasse mich so, schluchzt er, alles an mir. Meine Haare und meinen Bauch, meine Schuhe, und mein Studium hab ich auch abgebrochen.
Och, Mann, Lukas, sage ich hilflos, warum hast du das nicht früher gesagt? Samir legt seine Pädagogenhände um Lukas und streicht ihm jetzt tröstend über den Rücken. Der sieht nicht mehr aus wie ein Pfarrer, aber immer noch so, als gehöre er ins Neue Testament.
Das Wohnzimmer driftet auseinander, die Steine bleiben liegen, Rotwein sickert in den Teppich, während Lukas schluchzt. Samir umarmt ihn noch fester und schüttelt gleichzeitig den Kopf in unsere Richtung, bin ich der Einzige, der hier ehrlich war? Auf meinem Stein steht, dass ich es wirklich mit Anna versuchen möchte.
Glaub ich nicht, sag ich und suche mit den Augen die Aufschriften auf den Steinen ab.
Samir hält jetzt Lukas’ Hinterkopf wie eine Mutter, um ihn nicht beim Weinen zu stören, während er anfängt, mit dem Zeh zu einem Stein links von ihm zu tippen.
Doch, sagt er, lies mal. Samirs Stein ist tatsächlich vollgeschrieben, aber bevor ich ihn lesen kann, bleibt Marie neben mir stehen. Ein Scheiß warst du ehrlich, ruft sie zu ihrem Bruder und stellt jetzt die Musik ganz aus, du hast seit zwei Jahren eine Affäre mit einer meiner besten Freundinnen, und ihr sagt es mir beide nicht?
Maries Ohrringe flackern von der einen auf die andere Seite. Sie muss gerade etwas gezogen haben, ihr Gang ist ganz aufrecht und ihr Hinterkopf wieder voller Energie. Nie war mir der Unterschied zwischen uns bewusster, Marie hat so Antifa-Augen und ich so CDU-Mundwinkel, und manche sehen aus wie ihre Hunde, und wir sehen aus wie unser Gesicht. Marie strahlt mich an, aber auch sie hat Schwächen, zum Beispiel ihren Zahn, von dem immer mal wieder eine Ecke abbricht.
Der wurde schon so oft geklebt, hatte sie mir gesagt, den hat es mal ausgeschlagen, als ich zwölf war. Sie sagt immer, den hat es ausgeschlagen, als hätte er sich aus eigener Kraft aus ihrem Mund geschleudert. Seitdem verliert Marie ihn immer wieder, schon zwei Mal hat sie ihn sich neben mir in die Hand gespuckt, schon wieder, murmelt sie dann, Mist, und starrt auf den halben Frontzahn und steckt ihn dann schnell in ihr Münzfach.
Ihr Zahnarzt kennt das schon, der sagt dann, so oft können wir das aber nicht mehr kleben. Aber jetzt noch einmal, sagt sie, was soll ich machen, meinen Vater werde ich nicht nach Geld fragen. Ich weiß, Marie ärgert es, dass sie nicht richtig zubeißen kann, dass es ausgerechnet der Schneidezahn ist, der nicht bei ihr bleiben möchte.
Ich rieche ihr Männerparfüm, als sie auf mich zukommt, gerne wäre ich jetzt Leonard Cohen und würde ihr mindestens zwei Gedichtbände widmen, aber mir fallen keine Wörter ein, während sie vor mir nach meinem Aufschrei sucht.
Marie, sage ich, aber sie winkt schon ab und läuft Amok mit den Steinen, ich hab mich schon abgemeldet von der Uni, schreit sie in die Raummitte, und das hier, das ist meine Abschiedsparty gewesen. Mit diesem Satz klirrt Maries Stein durch das Fensterglas und Jaras Stimme schlittert mit den Scherben über das Parkett. Und während Samir jetzt hektisch Lukas abschüttelt und sagt, Leute, Ruhe bewahren, schmeißt Marie schon den nächsten Stein, einen auf den Steinway, einen durch die Terrassentür.
Weißt du, was ich auf meinen Stein geschrieben habe, brüllt Marie, dass ich nie wieder nach Wien zurückkehre, das ist die letzte Nacht, die ich in diesem beschissenen Haus verbringe, und ab morgen bist du mich los.
Sie schmeißt ihren Stein durch das Fenster am Balkon, irgendwo klatscht er auf, jemand schreit auf der Straße.
Wenn du das siehst, Papa, ruft Marie und hebt ihre Finger auf eine kleine Kamera, die mir bis jetzt nicht aufgefallen ist, fick dich.
Das Loch, das sie in die Scheibe geworfen hat, ist so groß wie eine Faust. Erik deutet mit dem Finger nach draußen durch das aufgeschlagene Glas und in die Nacht, aus der der Stein geflogen ist, und auf Maries Hand, die sich im Wohnzimmer zur Faust ballt, als wollte sie die Luft erwürgen.
Hör mal, sagt Erik, da ist etwas aufgeklatscht. Er deutet zu dem Balkon.
Lieber nicht, murmele ich.
Lukas weint immer noch in Samirs Armbeuge.
Ich mich auch, sagt Erik, aber wir sollten jetzt mal raus und schauen, wen Marie da ausgeknockt hat.
Shit, wimmert Marie und wühlt sich aufgeregt durch die Locken, Shit, Shit, Shit. Ich will nicht in Wien ins Gefängnis, ich wollte jetzt endlich mal nach Prag. Ich knie mich zu ihr und streiche ihr über den Rücken. Unter der Bluse kann ich ihre Wirbelsäule spüren und ihren Brustkorb, der zittert.
Ihr bleibt hier drin, ruft Samir und deutet auf uns wie ein Feuerwehrmann, und räumt alles raus, und dann treffen wir uns draußen.
Erste Hilfe, das ist Samirs Ding, er rennt zur Haustüre, seine Locken wippen. Lukas sammelt hastig die Steine auf, wenn die hierbleiben, weint er, dann ist das ganz schlechte Energie.
Fede hilft ihm dabei und tippt auf Jonis Namen, der auch auf meinen Stein gekritzelt ist. Ich habe mir das vorher irgendwie direkt gedacht, sagt er unvermittelt, dass da mal was zwischen euch lief. Weil du, sagt Fede, und plötzlich fehlen ihm die Worte, und er schließt eine Faust um den Stein.
Weil du, wiederholt er, auch in Joni verliebt warst. Fede sieht mich so an, wie Samir es beim Spiel für einen Augenblick getan hat, nur dass es bei Fede eine müde Schamlosigkeit ist, eine Ansprache an jemanden, an den man keine Erwartungen mehr hat.
War ich nie, sage ich, warum hast du das gedacht? Mein Mund ist trocken.
Ich habe es dir angesehen damals, sagt Fede, und weil das zu viel ist, drehe ich mich kurz um und suche unsere Jacken aus dem Haufen im Flur.
Das ist Unsinn, Fede, rufe ich ihm ins Ohr, das ist der größte Schwachsinn, den du je erzählt hast. Ist ja auch egal, sagt Fede und zuckt mit den Schultern, ist ja wirklich egal, ich wollte nur sagen, dass es mich eigentlich nicht wundert.
Das Leben überrascht mich immer wieder, es sagt mir hier, hier, hier bin ich, so bin ich, und ich sage, okay, lass uns drüber reden, aber das Leben will gar nicht drüber reden. Das Leben macht schon weiter, während ich noch nachdenke, das Leben ist kein Zuhörer, das Leben ist ein Schlagabtausch.
Ich packe all das Zeug ein, das hier noch rumliegt, die Taschen der Leute, das Koks und die Steine. Fede lässt den Rollladen vor dem Loch im Glas runter.