Ich komme nicht, schreibe ich meiner Mutter, während ich aus der Haustür stolpere und Marie und Samir hinaus folge. Aus dem Weg, ruft das Medienmädchen und springt an mir vorbei. Linda, Fede und ich hasten hinterher, ich schließe die Tür hinter uns, The National spielt drinnen weiter. Das Schließgeräusch ist ein anderes als bei meiner Wohnung, satter und sicherer, aber ich bin nach wie vor schlüssellos.
???, antwortet meine Mutter.
Draußen falle ich in zwei uniblaue Windbreaker in Größe XL, die gerade aus einem Pub gestülpt wurden. Sorry, sage ich, während ich nach meinen Freunden Ausschau halte. Samir kniet auf dem Kopfsteinpflaster an der Margaretenstraße und stützt einem Mann den Rücken. Im Licht der Straßenlaterne erkennt man ihn kaum, zwei, drei Gesichter sind über ihn gebeugt, aber der Mann ist breitschultrig und Mitte irgendwas. Manchmal sieht man die Jahrzehnte gar nicht so gut wie Anfang, Mitte, Ende dreißig, vierzig oder fünfzig. Die zweite Ziffer ist bei ihm eine Vier, eine Fünf oder eine Sechs, das weiß ich sofort.
Samir kniet neben ihm mit Gänsehaut und ruhiger Stimme, der Mann sitzt schon wieder aufrecht, er blutet am Arm, immerhin nur der Arm, denke ich, so a Schaß, sagt er.
Ich war es, sagt Marie und drängt sich durch, tut mir leid.
Eine ältere Frau neben mir staubt sich sorgfältig ihre Knie ab. Da wurde grade ein Herr abgeworfen, sagt sie zu mir und deutet auf den Mann, aber keine Sorgen, ich habe die Polizei schon verständigt. Sie hat so Hände, an denen große goldene Diamantenringe gut aussehen, vom Alter dünngewaschen und knotig.
Vielen Dank, sage ich, und sie schüttelt den Kopf, danke euch, so viel Zivilcourage von jungen Menschen, das ist ja nicht mehr selbstverständlich.
Wir waren das, antworte ich, aber nicht extra.
Marie lässt sich neben Samir auf die Knie fallen, das wollte ich nicht, ruft sie und deutet auf ihr Elternhaus, ich wollte drinnen was treffen.
Sie worn des, fragt der Mann, ja, sagt Marie, streicht sich aufgeregt die Locken aus dem Gesicht und hebt den Stein hoch, sehen Sie, hier steht drauf, dass ich Wien verlassen werde.
Herrgott, sagt der Mann, dann mochn Sies doch, dafür müssens doch niemanden umbringa.
In der Ferne heulen Sirenen. Wien blinkt an uns vorbei, und Samir setzt sich jetzt auf und blickt kurz nervös zwischen Marie, mir und der Haustür hin und her.
Möchten Sie überhaupt ins Krankenhaus, frage ich den Mann und sein schütteres Haar, das im Licht der Straßenlaterne blondgrau reflektiert.
Sicher ned, sagt er, do geh i nimma hin.
Marie hat keine Antwort auf die Situation, ihre Knie bleiben auf dem Beton kleben, während sie ihren Bruder Hilfe suchend anschaut.
Samir legt sich beide Hände auf die Oberschenkel, so, dann würde ich vorschlagen, dass wir jetzt mal alle zusammen aufstehen.
Ich knie mich neben Samir und strecke dem Mann eine Hand hin, um ihm aufzuhelfen, aber er winkt ab und greift mit dem unverletzten Arm in seine Jackentasche. Er hat breite Fingernägel und so große Hände, dass er mit Zeigefinger und Daumen seine Packung Zigaretten ganz umgreifen kann. Die dünngewaschene Frau neben mir räuspert sich und dreht sich dann in Richtung Blaulichter, na dann, sagt sie, schönen Abend noch.
Könnens mir höfn, fragt der Mann und deutet mit einem Finger auf sein Feuerzeug, i krieg die mit ana Hand ned angezündet.
Ich zünde ihm seine Zigarette an. Er hat so ein schlupflidriges, bärtiges Gesicht, dem man nie nah kommen kann, auch wenn man ganz dicht vor ihm kniet. Nur der Arm, den Marie getroffen hat, strahlt uns in Schonhaltung entgegen, und die Haltung des Mannes hat sich verändert, etwas an dieser Situation gefällt ihm, etwas daran, dass wir auf ihn warten müssen.
Hören Sie, sagt Samir, wir würden gerne weiter.
Ach ja, fragt der Mann verärgert, jetzt überlegt ihr, ob ihr abhauen sollt oder was?
Ja, sagt Marie, geht’s mit der Wunde? Weil ich will nicht verhaftet werden, ich will nach Prag.
Niemand wird hier verhaftet, sagt der Mann und winkt ab, aber Marie schmeißt ihr Gesicht in die Handfläche, sehen Sie das Loch dort in der Scheibe, und sehen Sie Ihren Arm, das war ich. Und da, sie deutet mit einem Zeigefinger auf die Straße ein paar Meter vor uns, kommt die Polizei, und das hier, sagt sie und deutet auf ihre dunkle Haut, das ist nicht gut. Ich halte nach Erik Ausschau, aber entdecke ihn nirgendwo mehr. Fede hat sich neben mich gestellt und bemerkt meinen Blick, er streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht, vergiss es, Anna, wispert er, du bleibst jetzt hier, du hast das mit verursacht.
Ich wollte gar nicht abhauen, erwidere ich, aber Fede winkt nur ab und sagt, ich kenn dich doch.
Darf ich mitkommen, fragt der Mann und nimmt einen tiefen Zug. Samir fährt sich für einen Moment verwirrt durch die Locken.
Nach Prag, fragt Marie.
Na, nur heid Nocht, sagt der Mann zu Marie, ich will auch nichts, nur feiern. Kurz wird es still, wir alle mustern den Mann, der nicht mal so aussieht, als würde er wirklich aufstehen wollen, geschweige denn tanzen.
Gut, sagt Marie zögerlich, wir wollten uns jetzt nur noch betrinken.
Find ich gut, beharrt der Mann.
Na dann, Samir hilft ihm ungeduldig auf, ich bin Samir.
Freut mich, sagt der Mann, Michael. Er steht schließlich, schwankend, aber er steht.
Geht das mit dem Arm, frage ich zögerlich, sicher?
Sicha, sagt er und steckt ihn sich in die Manteltasche, hob schon Schlimmeres erlebt.
Michael, sagt Samir, wir müssen jetzt los, damit wir nicht verhaftet werden. Weil da, sagt er und deutet auf das Polizeiauto, kommt jetzt die Polizei.
Okay, sagt Michael, aber dafür geht das Bier auf euch.
Jetzt lass uns erst mal loslaufen, ruft Samir nervös und schiebt uns alle voran, weg vom Haus.
Wir hinken uns zu fünft ein paar Straßenecken weiter, das Medienmädchen, Linda, Jara und Lukas sind nicht mehr zu sehen. Es ist schon wieder passiert, nie gelingt mir ein Abschied, ich habe keine Ahnung, wo sich Jara und Lukas hin verschoben haben, Linda, das Medienmädchen, mein Vater, jedes Mal bleiben lose Enden, die sich nirgendwo mehr anknüpfen lassen.
Ein Schweigen legt sich über uns alle. Ich spüre, wie Marie nervös wird und in ihrer Jackentasche nach ihrem Tabak kramt, weil Samir schneller läuft als wir alle und Fede meinem Blick ausweicht und ich am liebsten auch woanders wäre. Marie räuspert sich, im Gegensatz zu mir hat sie keine Übung mit der Stille. Spannung kann man aushalten lernen, genau wie Planks, erst dreißig Sekunden und dann immer länger.
„Samir bricht das Schweigen“ ich glaube, das reicht mir für heute, sagt er, ich verschwinde.
Wie, fragt Marie, wohin?
Sag ich nicht, meint Samir, vielleicht Prag?
Ich wollte es dir noch sagen, sagt Marie nach einer Weile, und Michael schnauft an ihrem Arm.
Ja, ja, sagt Samir, und Anna wollte mir das sicher auch noch sagen mit Alex, klar, ich gehe. Marie zieht an ihrer Zigarette.
Typisch, sage ich, es geht immer nur um dich, Samir, hast du mal überlegt, dass es an dir liegen könnte, dass dir niemand was erzählt?
Mir läuft schneller, aber findet den Ausgang nicht, hätte ich nicht von dir erwartet, sagt er, Anna, dass du mich auf den Stein schreibst.
Hätte ich nicht von euch erwartet, murmelt Marie, dass du einen Grund hast, ihn draufzuschreiben.
Das ist doch Kindergarten, sage ich, dann gehe ich jetzt.
Wohin denn, fragt Fede und deutet auf mich, du hast heute Morgen deinen Schlüssel an einen Fremden verschenkt.
So fremd war er nicht, sage ich, aber den Schlüssel kriege ich wieder, und Alex hat sowieso den anderen.
Und wo ist er jetzt, fragt Samir verwirrt.
Der Schlüssel, frage ich.
Der Fremde, meint Samir, und ich zucke die Schultern, vermutlich in meiner Wohnung.
Okay, sagt Samir und klingt besorgt. Michael hat sich mit dem gesunden Arm jetzt bei ihm eingehakt und raucht mit dem verletzten. Marie zieht an ihrer Zigarette und wedelt den Rauch gekonnt zu uns allen, jetzt reißt euch zusammen, ich hab grad auch keinen Bock mehr. Sie versucht, die anderen mit dem Handy zu erreichen, um ihre Party wieder einzusammeln.
Sag mal, fragt Fede, und eure Eltern?
Aber Samir antwortet nicht.
Können wir die Steine nicht einfach vergessen, sagt Marie, zumindest bis Mitternacht oder bis ich wieder nüchtern bin? Samir sagt nichts dazu, aber er hört zumindest auf, nach einer Seitengasse Ausschau zu halten, und auch ich kann auf einmal tiefer atmen, was soll das denn, denke ich, und ich denke auch an meine Laufschuhe und das Seitenstechen, das es nicht geben durfte.
Alle wollen vor dem Jahreswechsel irgendwo sein, sagt Fede, während er die Passanten beobachtet, die uns hektisch überholen. Das ist sein bester Versuch, einverstanden zu klingen, alle haben Angst, sagt Fede, nicht rechtzeitig anzukommen. Sonst wäre man doch immer lieber woanders, das ganze Jahr lang sehnt man sich weit weg auf eine Reise, nach den Zugfahrten und Flügen und den Autobahnen, das ganze Jahr über trägt man Kopfhörer. Nur an Silvester möchte man plötzlich ganz da sein, nur da würde es sich wie ein böses Omen anfühlen, würde man um Mitternacht im Stau stehen, nur an Silvester muss man den Countdown runterzählen und warten, bis es passiert.
Silvester, sagt er, ist der einzige Glaube, den wir noch haben, das sind diese zehn Sekunden Ehrfurcht im Jahr, von denen alle immer träumen.
Ich habe keine Ehrfurcht vor Neujahr, sage ich, ich habe schon seit Jahren keine mehr vor gar nichts, nur manchmal träume ich davon, in einer Kirche alle Gedenkkerzen auf einmal anzuzünden.
Du hattest schon immer so einen komischen Tick mit Gott, sagt Fede, und Religion als Hauptfach.
Ich streiche mit der Hand über die Fassade neben mir, über uns spannt sich immer noch die goldgelbe Weihnachtsbeleuchtung.
Wien ist immer nur von unten und von oben schön, wenn man die Fassaden hoch- oder auf die Dächer runterschaut, hat Samir einmal gesagt, als wir auf der Dachterrasse unserer Bar standen. Was man mitbekommt, wenn man hier lebt, dass sind die zweiten, dritten und vierten Stockwerke, die Fahrstühle ohne Spiegel, die Vorhänge an den Fenstern gegenüber und nie den Himmel.
Samirs WG-Zimmer hat doppelte Fensterscheiben, erst muss man mit einem kleinen, weiß lackierten Holzgriffel das zur Straße hin auf- und zuschieben und dann das nächste Fenster, mit der dünnen Scheibe, und wenn man beide Fenster zuhat und dann im Wohnzimmer steht, hört man die Autos immer noch genauso laut.
Vertraust du dem denn, fragt mich Fede unvermittelt.
Wem, frage ich?
Deinem Gast, sagt Fede, der in deiner Wohnung ist. Ich denke an David und wünsche mir das Gewicht der Schlüssel zwischen meine Finger. Ich glaube, sage ich, da ist niemand drin.
Also, sagt Marie und dreht sich zu uns um, die anderen sind am Stephansplatz, sollen wir zu ihnen? Oder soll ich alleine? Jetzt ist’s eh gleich zwölf, sie winkt mit den Fingern zum Nachthimmel, an dem schon ab und zu der erste Glitzer kratzt. Ich glaube, ich geh gar nicht mehr zurück zum Haus, was machen die Polizisten jetzt darin, fragt sie Samir, suchen die nach Fingerabdrücken?
Keine Ahnung, sagt er schulterzuckend, die sind wegen dir da drin, ich hab nicht plötzlich damit angefangen, Steine zu schmeißen.
Pff, macht Marie, sag das doch deiner Freundin Anna, die musste ja ihren Ex-Freund einladen und uns von ihrer Verlobung erzählen.
Fair enough, sagt Fede neben mir.
Fair enough, wiederhole ich, aber offensichtlich habe ich euch zurecht nicht vertraut, wenn Jara mir nicht mal sagt, von wem sie schwanger ist, und du so tust, als hättest du nichts davon gewusst, und dann einfach auswandern möchtest, ohne uns davon zu erzählen.
Was will die Polizei denn da noch in eurer Wohnung, fragt Michael, mir geht’s doch gut jetzt.
Ja, stöhnt Marie, während sie schon wieder ihr Handy ans Ohr presst, um eine Sprachnachricht abzuhören, dann sag du ihnen das doch. In solchen Momenten verwechsle ich Marie oft mit einer Kellnerin, sie hat dann so viel Anspannung in ihrem Oberkörper und versuchte Übersicht in den Augen, als würde sie mir gleich einen Tisch zuweisen, auf irgendeinen Ort deuten und sagen, da ist noch frei. Jetzt bedient sie andere Kunden.
Während Marie mich ignoriert, fragt Fede, ob ich Wertsachen in der Wohnung habe. Vor allem Gin und Averna und Rum, sage ich, und Cola und ein bisschen Bacardi, und dann alles, was in der Schublade des Nachttisches ist, aber das kann Fede sich sowieso denken.
Sobald wir um die nächste Straßenecke gebogen sind, lehnt Samir sich an eine Hauswand. Eine Minute, sage ich, Lagebesprechung.
Ich kann nicht so lange stehen, sagt Michael und nickt uns auffordernd weiter, ich brauch jetzt bald ein Bier, wegen meinem Arm.
Marie lehnt sich an Samir und sieht knapp an mir vorbei in die Leere. Samir reagiert nicht auf ihre Berührung, er schaut über ihren Scheitel und friert den Blick ein, um sich nichts ansehen zu lassen. Und wo, fragt Marie in die Runde, bekommen wir denn jetzt Alkohol her?
Fede hebt sein Handy und scrollt uns die Läden durch, die in der Nähe vom Stephansplatz sind. Michael drückt seine Zigarette auf dem Boden vor uns aus, alles neue Läden, sagt er, früher hießen die noch anders.
Das Orange, sagt Samir und richtet sich wieder auf, die haben wieder offen, das ist hier ganz in der Nähe.
Wir haben aber kein Geld, sage ich, oder hat jemand welches dabei? Wir alle schütteln den Kopf, he, ruft Michael, ihr wolltet mich einladen.
Machen wir auch, sagt Marie und hebt beschwichtigend die Hand, ich weiß, wie wir das machen, ich tu so, als wäre ich Aushilfskraft und reiche euch alles rüber, das funktioniert eigentlich meistens.
Meistens, fragt Fede, aber Marie antwortet nicht, sondern schaut abschätzend zu ihrem Bruder hoch.
Könnte klappen, sagt Samir, die stellen immer wieder neue Leute ein, und an mich haben sie sich nur erinnert, weil ich nach der Schicht noch so oft dageblieben bin. Er kratzt sich am Handgelenk mit den Festivalarmbändchen. Marie streicht sich durch die Locken.
Können wir jetzt endlich weiter, fragt Michael und holt sich jetzt selbst eine Zigarette aus der ausgebeulten Jeansjacke, mein Arm fängt an wehzutun, sonst geh ich halt doch zur Polizei.
Mir ist schlecht, seufzt Marie und lehnt sich mit ihrem weißen Fake Fur an die Hauswand hinter uns.
War das ernst gemeint, was du auf den Stein geschrieben hast, fragt Samir.
Marie nickt mit geschlossenen Augen, ich hab meinen Nachtzug schon.
In derselben Sekunde llegt Samir seine Hand auf Maries Schulter.
Fede und ich kommen nach, sage ich und winke uns beiden im Dunkeln auf die andere Straßenseite, wir müssen noch mal kurz alleine reden.
Sobald wir aus dem Blickwinkel der drei verschwunden sind, atmen wir gleichzeitig auf. Weil ich die Stille nicht aushalte, erzähle ich Fede vom Naschmarkt und dem Museumsquartier und überhaupt von allen Plätzen, an denen ich sonst auch nie bin.
Gleich sind wir am Rüdigerhof, sage ich zu ihm, der sieht von draußen tatsächlich nicht so spektakulär aus, aber hier trifft man immer wen und man darf noch rauchen. Und, frage ich dann. Im Laufschritt schaue ich zu Fede hinüber. Und was, fragt er zurück. Ich warte darauf, dass Fede seine Lippen zusammenpresst, wie er es immer tut, wenn er sauer ist, erst das Zusammenpressen, dann das Rausplatzenlassen.
Es tut mir so, so leid, Fede, sage ich und greife nach seiner Hand. Ich hätte es dir sagen sollen, ich wusste nur nicht, wie.
Ja, sagt Fede und drückt meine Hand, während er den Kopf schüttelt.
Ging nicht, sage ich und weiß nicht mehr weiter. Ich habe immer gewusst, warum ich ihm die Dinge nicht erzählen konnte, weil Fede in Frankfurt das Telefon zwischen seine Schultern klemmt zum Telefonieren, weil er dann fragt, und, was geht bei dir so, als würde er keine lange Antwort erwarten, und weil er am Ende immer liebe Grüße an Alex ausrichtet.
Weil, beginne ich noch einmal, ich dachte, du würdest es nicht verstehen.
Was denn, fragt er, dass eure Beziehung auseinandergeht. Und, sage ich, dass ich eine Affäre habe.
Und, fragt er.
Und was, frage ich.
Und, sagt er, was hätte das geändert?
Was meinst du, frage ich, das war krass, das war nicht einfach, das irgendjemandem zu erzählen. Fede antwortet nicht, sondern weicht von mir ab, er läuft ein paar Schritte voraus, um mich von vorne betrachten zu können.
Ich darf das doch wissen, sagt er dann, ich bin doch dein bester Freund.
Klar, sage ich und denke dabei an alle Dinge, von denen ich ihm nie erzählt habe.
Wegen deiner Mutter, sage ich, ich dachte.
Fede zuckt die Schultern, ich wusste doch, einem von uns wird noch etwas passieren, glaubst du, wir kommen einfach unversehrt durch unsere Zwanziger, das sind die Kopfsprungjahre, schaust du kein Netflix.
Auf dem Weg zum Orange zähle ich Fede auf, was in den letzten Monaten mit Alex und mir passiert ist, ich zeige Fede die drei Nachrichten, die er am besten ignoriert hat: Ich glaube, mein schlechtes Gewissen hat dir mehr Liebeserklärungen gemacht als ich.
Und: Wem außer dir soll ich sagen, dass es wehtut.
Und: Zu Neujahr bekommst du von mir eine Liste mit Personen, die mich jeden Tag an dich erinnern.
Ich sage Fede nicht, dass ich nachts immer noch von Alex’ Füllwörtern träume und davon, seine Leserlichkeit zu verbrennen, dass ich unsere Geschichte schwärze, damit am Ende nur noch die Worte übrig bleiben, die sich reimen, dass ich unsere Erinnerungen kürze und sie auswendig wie einen Psalm aufsage, weil die ausführliche Geschichte nicht aushaltbar ist.
Inzwischen sind mehr Menschen aus ihren Wohnungen gekommen, um auf den Countdown zu warten, mit vor Kälte roten Nasen und Winterjacken in Uniblau.
Eine Weile laufen wir dann schweigend nebeneinander her, nur ab und zu setzt sich das Geräusch der einfahrenden Tram zwischen uns oder eine meiner Entschuldigungen und Erklärungen und Ausflüchte, dafür, dass ich es ihm nicht früher gesagt habe.
Ist okay, Anna, sagt Fede flüchtig, es ist wirklich nicht so schlimm.
Ich finde schon, sage ich, ich hätte dir alles früher sagen, überhaupt früher etwas sagen sollen. Fede nickt vage und deutet dann nach links, um mir zu zeigen, dass wir abbiegen müssen. Ich denke an meine Mutter, die jetzt vermutlich mit der Stille alleine zu Hause ist, wahrscheinlich sind sie ungefähr gleichzeitig eingeschlafen, die Stille und meine Mutter.
Ich habe ihr nie dafür gedankt, dass sie nur gelacht hat, als ich mit vierzehn auszählen wollte, ob Alex mich wirklich liebt, und dafür ihre Aloe Vera in sechsunddreißig exakt gleich große Stücke geschnitten habe und in zwei Haufen einteilte, er liebt mich, er liebt mich nicht, weil es Winter war, und ich draußen keine Blume finden konnte.
Und ich habe ihr nie gesagt, wie schön ich das fand, als ich sie anbrüllte, du verstehst mich nie, und sie zurückbrüllte, wie auch, ich habe doch auch zum ersten Mal ein sechzehn Jahre altes Kind.
Und ich habe ihr nie gesagt, wie weh es tat, als ich meinen Vater drei Wochen vorher noch fragte, ob er noch einen Wunsch hat, und er meinte, nichts mehr, ich bin ganz froh, dass ich den Absprung noch rechtzeitig schaffe.
Wir haben uns halt lange nicht gesehen, sagt Fede, und ehrlich gesagt, ich habe da auch noch was.
Was denn, frage ich und bleibe mit Fede an der Haltestelle Taubstummengasse stehen.
Er schaut kurz zum Anzeiger, noch vier Minuten, dann winkt er ab. Erzähl du mal zuerst, sagt er, und jetzt sei mal ehrlich.
Neben uns warten noch andere Grüppchen auf die Bahn. An Haltestellen halte ich nach der Dame in Lila Ausschau, aber ich habe sie nie wiedergesehen, wahrscheinlich meidet man im Leben das Warten, sobald man seine Farbe gefunden hat.
Während Fede und ich unsere beigegrauen Mäntel sortieren, fange ich an, von gestern Nacht zu erzählen.
David heißt er, sage ich und erzähle Fede von unserem Abend, von seinen kurzen blonden Haaren und seinem verständnisvollen Lächeln. Dass David gleich aussah wie jemand, der von irgendwem schon lange vermisst wird, weil er eine Bar betritt und dann so tut, als wäre er schon immer darin gewesen.
Du bist jemand, in den man sich schnell verlieben kann, hatte ich ihm später am Abend gesagt und: Soll ich ihr schreiben, soll ich ihr sagen, dass es dir gut geht und du bald wiederkommst?
Ne, ne, hatte er gesagt und mir eine Hand aufs Knie gelegt, lass mal gut sein.
Fede fragt, was denn dann genau passiert sei heute Morgen und wo die Schlüssel jetzt verschwunden seien?
Da standen noch die Umzugskartons, sage ich, keine Ahnung, das habe ich nicht ausgehalten.
Von Alex’ Auszug, fragt er.
Nein, sage ich, von unserem Einzug von vor zwei Jahren. Weil er nicht sofort versteht, was diese Kisten in mir ausgelöst haben, überlege ich, was ich ihm noch von heute Morgen erzählen soll.
Zum Beispiel, dass ich neben David aufgewacht bin und er schon aufrecht im Bett saß und sich aufmerksam im Zimmer umgesehen hat. Und dass ich denke, dass er jemand ist, der immer alles sorgfältig verschließt, der am Morgen danach in die hintersten Fächer greifen will, um zu wissen, was in den Schränken und Schubladen ist, dass er mit der Hand in den ganzen feuchten Stoff fassen möchte, in die Schmutzwäsche, in den Dreck, der noch in den Rillen der Wanderschuhe im obersten Fach hängt, dass er seine Finger überall ohne Scheu liegen lassen möchte, in Falten und Lippen, dass er dort reingreifen möchte, um ein bisschen zu forschen, er möchte die Kuchenkrümel vom Boden aufpicken, und wenn ich ihn ließe, würde er den Schlafsack auslüften und das Leintuch waschen, er würde die Batterien für die kabellose Maus austauschen, den Adventskranz verstauen und Bilder von uns an die Wand kleben.
Okay, sagt Fede, und zieht das Okay sehr lange.
Ich sehe Fede nicht an, die Anzeigen haben hier noch nie funktioniert, sage ich, die springen immer, ich hab’s dir nie gesagt, weil du doch so gut von Alex und mir gedacht hast.
Anna, sagt er, und presst seine Wange beim Reden an die rote Stange der Haltestelle, du warst nur genervt von ihm, du hast mir immer nur erzählt, dass er dir nicht hilft und seine Sachen nie in den Wäschekorb macht und dass du alles für ihn tun musst.
Stimmt gar nicht, sage ich.
Klar stimmt das, sagt Fede, das hättest du mir doch früher sagen können, mit Alex und mit Samir und dem anderen Typen jetzt, dann hätte ich auch nicht, Fede lässt den Satz so in der Luft stehen und gestikuliert nur mit eine Hand in Richtung Gleise.
Was denn, frage ich, was hättest du dann nicht?
Mit Samir, sagt er, der Kuss, das war etwas anders geplant. Aber in dem Moment kommt die Tram, und Fede winkt ab, ich erzähl es dir gleich.
Mit uns in die Bahn steigt ein Typ in unserem Alter ein, ein wenig schlaksiger, er stemmt sich mit beiden Händen im Mittelgang ab, ohne dabei seinen Wodka loszulassen, er hat Gel in den Haaren und dann ganz in schwarz gekleidet mit weißen Schuhen.
Wer lacht denn hier, fragt er und nimmt einen großen Schluck aus seiner Flasche, wer genießt den Frieden? Keiner! Niemand reagiert, und der Typ setzt sich in unserem Vierersitz neben mich und gegenüber von Fede.
Er riecht unangenehm, und ich hasse ihn sofort, weil er so viel Platz einnimmt und ich seinen Atem einatmen muss.
Um nach draußen schauen zu können, wische ich mit meinem Ärmel einen Teil der Fensterscheibe frei.
Ist eh dunkel, sagt Fede.
Der Weg ist das Ziel, meint der Typ und bietet Fede einen Schluck an.
Nein, sage ich, weil ich sehe, dass er zögert. Der Mann nickt mir anerkennend zu, als wären eigentlich wir beide ein Team. Dann beugt er sich nach vorn, hält Fede an seinen Knien fest und drückt fest zu, egal, was passiert, uns passiert nichts.
Fede ist jetzt derjenige, der einfach aus dem Fenster starrt und seine Arme vor der Brust verhakt. Während ich nach dem Arm des Mannes greife, muss ich daran denken, wie einmal auf dem Heimweg eine Dachlawine vom Nachbarhaus abging und Fede sich auf der Stelle in den Schnee fallen ließ und nur die Arme zum Schutz über den Kopf gehoben hat, während alle anderen Kinder zur Seite sprangen. Ich erwarte einen Schlag, als ich das Handgelenk des Typs umfasse und seine Hand von Fedes Knie wegziehe, aber stattdessen kippt sein Oberkörper nach vorn, und seine Flasche fällt auf den Boden. Seine Hand hängt jetzt schlaff in meiner.
Ist er eingeschlafen, frage ich, sag mal, hat der die Augen noch offen?
Niemand drehte sich nach uns um, obwohl alle dabei sind, der ist vielleicht bewusstlos, sagt Fede, weil er wieder atmen kann, er schiebt sich auf den Sitz, der weiter von dem Typen entfernt ist.
Hey, sage ich, tätschle seine Hand und spüre seinen Kopf, der langsam auf meine rechte Schulter rollt, nicht einschlafen. Fede betrachtet mich und den Typen, seine tätowierten Handgelenke, seine Daunenjacke, die knochigen Knie, die sich unter den Skinny Jeans abzeichnen, und flüstert, soll ich jetzt sagen, dass er aufhören soll, dich anzufassen, der Arsch?
Ich schüttle den Kopf und spüre die beruhigende Schwere seiner Handfläche auf meiner und streiche über die schmalen Fingerknöchel des Typen, die ganz friedlich sind und nichts mehr wollen.
Schade, meint Fede, ich hoffe, er verpasst jetzt Silvester, ich hoffe, er wird der Einzige sein, der Silvester in der Tram verbringt, nur er und der Lokführer und dann vielleicht gerade im Tunnel.
Als wir aussteigen, rüttelt Fede den Typen sanft am Bein, und der rollt den Kopf von meiner Schulter wieder auf die Brust, ganz versunken in seinem Pelzkragen.
Der hat was gesagt, meint Fede und geht näher ran.
Wir haben wieder Frieden, übersetzt er mir.
Am Stephansplatz atmet Fede tief durch. Okay, sagt er dann, Anna, ich muss dir auch was erzählen. Immer, wenn Fede nervös ist, fängt er an, zu vibrieren, schiebt seine Unterlippe ein bisschen nach vorne. .
Ich hatte immer Angst, sagt Fede leise, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Jetzt tritt mir doch nah, sage ich wütend und bleibe vor ihm stehen. Können vielleicht alle mal aufhören, mir nicht zu nahe treten zu wollen, ich hab das Gefühl, niemand will mehr in meiner Nähe sein, sonst hättest du ja mit mir geredet, sonst hättest du mir doch mal gesagt, dass du glaubst, dass es zwischen Alex und mir gerade nicht so gut läuft.
In der einen Hand halte ich mein Handy, in der anderen den Stein in der Jackentasche fest umklammert, ich möchte ihn wegschmeißen, aber wir sind mitten auf der Einkaufspassage, und nirgendwo kann ich werfen, ohne vielleicht einen Mann am Arm zu treffen.
Jedenfalls, sagt Fede, hab ich eins seit Mai, mein Freund ist Vater, sagt er, und Tierarzt.
Dein Freund ist Vater und Tierarzt, wiederhole ich und betrachte Fedes Nase, so piercinglos, und wie er sich heute als Ferdinand vorgestellt hat. Auf einmal macht es Sinn, seine Wut auf mein Verständnis, wie ich ihn verwechselt habe mit einer früheren Version von ihm, wie meine Mutter, die mir Screenshots schickt, und Fede hat mir immer nur mit Herzchen geantwortet, ohne zu sagen, was wirklich Sache ist.
Er heißt Mark, sagt Fede, und mehr sagt er nicht. Fede erzählt sonst anders von Männern, er erwähnt ihr Sternzeichen und ihren Schulabschluss und in welchem Verhältnis sie zu ihrer Mutter stehen und warum sie ganz sicher anders sind und welchen Habitus er gleich wiedererkannt hat, aber jetzt sagt er gar nichts mehr, jetzt bleibt da der Punkt hinter dem Namen.
Okay, sage ich, Mark also. Ich spüre mich selbst nicken, mein Magen knurrt, der Alkohol schwappt hin und her, und meine Zehen werden langsam taub vor Kälte. Ich blinzle mich auf die andere Seite des Bürgersteigs. Den Schautafeln an der Haltestelle ist es egal, was sie einblenden, weil sie keinen roten Faden in ihren Assoziationsketten finden müssen. Ich bin neidisch auf ihre fazitlosen Momentaufnahmen, während ich meine Gedanken immer nachverfolgen muss.
Fede atmet weiße Wölkchen in die Luft und scrollt seine Fotos hoch, auf den meisten ist ein rothaariger Junge zu sehen und ein unscheinbarer Mann Mitte dreißig, der seine Hände um Fedes Bauch legt und seinen Kopf auf Fedes Schulter ablegt. Er hat auch einen Sohn, sagt Fede, der heißt Linus. Ein Lächeln umspielt Fedes Mundwinkel, wow, sage ich, Mark sieht aus, als würde er dir abends Wärmflaschen machen, als wäre das so jemand, der dir beim Netflixschauen die Füße massiert.
Genau, sagt Fede, und dieses Lächeln umspielt auch seine Mundwinkel, was soll das dann mit Samir, frage ich, könnt ihr mal aufhören, ständig herumzuspielen?
Wir sagen die ganze Zeit, was Sache ist, meint Fede, wir sind ständig im Dialog, deshalb bin ich mir der Beziehung auch so sicher, weil wir miteinander reden.
Mark weiß das also, frage ich. Fede nickt, Mark hat gesagt, jetzt küss halt jemanden an Silvester, jetzt fahr halt nach Wien.
Das meint doch niemand ernst, sage ich. Doch, sagt Fede, das nennt sich Polyamorie, da bleibt man ständig im Dialog.
Fede zeigt mir weiter Bilder von den beiden, die Monate fliegen vorbei, September, August, Juli, ein Akademikerhaushalt, und Fede passt rein, mir kommen die Tränen, Mann, Fede, sage ich, und jetzt möchtest du Samir küssen, frage ich, oder was?
Genau, sagt er, praktisch als Experiment, wie sich das anfühlt mit der Polyamorie.
Mein Gott sage ich, ich kann dir aus eigener Erfahrung sagen, dass sich das beschissen anfühlt mit der Polyamorie.
Kannst du nicht, sagt Fede, was du gemacht hast, nennt sich Betrügen.
Und was machst du mit der Eifersucht, frage ich.
Die darf dann auch da sein, sagt er.
Und Mark, frage ich, macht er das auch?
Gerade nicht, sagt Fede, aber vielleicht in der Zukunft. Ich ziehe nicht mehr weg aus Frankfurt, fügt er hinzu, ich hätte dir das viel früher sagen sollen.
Warum hast du’s denn nicht gemacht, frage ich, und in dem Moment schreibt meine Mutter von einem einsamen Sektglas, Maus, gleich ist es so weit!
Stimmt!, schreibe ich und antworte mit einem Bild von der beleuchteten Straße vor uns.
Die ganze Zeit rechne ich damit, dass die Polizei uns einholt und uns wegen der Steine mit ihren Handfeuerwaffen auf den Beton pinnt, aber selbst die Polizei feiert Silvester oder kümmert sich um Wichtiges. Fedes Hand hält meine weiterhin umschlossen, aber er macht mich nicht selbstbewusster, sondern kindischer, alle Ängste, denke ich, hätte ich teilen können, und alle Probleme, die ich hatte, sind unwichtig gewesen. Fede hält nicht an, um sie einzeln zu analysieren, er hebt sie mit einer lapidaren Handbewegung auf, mit einer, mit der man auch einen Staubsaugerbeutel wechseln könnte.
Etwas Brennendes fliegt knapp an meinem Ohr vorbei, und ein paar Typen grölen zu uns rüber.
Warum dürfen die hier zündeln, fragt Fede, ist das erlaubt in Wien mit den privaten Feuerwerken?
Vielleicht haben sie Kinder, sage ich, die auch mal schießen wollen, aber da stehen keine Kinder, nur drei Männer, die auf der Stelle treten, sich schwankend abklatschen und die nächsten Holzstiele der Raketen in die Bierflaschen drücken.
Ich frage mich, wie klein Überwachungskameras inzwischen sind und auf welchen Bildern ich im nächsten Jahr verpixelt erkannt werden und dass ich mich seit zwei Jahren noch nicht beim Bürgeramt gemeldet habe, weil jemand meinte, dass man dann viel Geld nachzahlen muss, wenn man das nicht sofort macht, aber dass es irgendwann rauskommen wird.
Lass uns einfach schnell machen, sage ich, und wir traben mit zwei weiteren Mädchen ein paar Meter an den Männern vorbei, die Countdown zählend auf die nächste Zündung warten.
Diese Schweine, keucht eines der fremden Mädchen neben mir, und ich nicke ihr noch im Gehen zu, während sie abrupt abbiegt und stattdessen direkt auf die Männer zugeht und ihnen vor die Brust schlägt, so was macht man nicht, das ist Umweltverschmutzung.
Fasziniert dreht sich Fede zu ihr um. Inzwischen sehen wir den Männern in den Rücken und den beiden Mädchen ins Gesicht, die auf den Raketen herumtrampeln.
Denkt ihr auch mal an die Umwelt, schreit die eine und hebt eine Faust.
Wir sollten die Polizei rufen, sage ich.
So gut ist unser Karma nicht, meint Fede, die kriegen sich doch gleich wieder ein. Niemand sonst betritt die schmale Gasse, und die nächste belebte Straße liegt noch ein paar Meter vor uns.
Die Männer lassen die Mädchen nach hinten stolpern. Das hält sie nicht davon ab, weiter zu brüllen. Ich betrachte den breiten Rücken des einen und seine Hand, die er neben sich ballt und lockert, als müsste er etwas damit aufpumpen. Drei Männer gegen zwei Mädchen, von denen sich die größere vor der Bierflasche aufbaut, wenn ihr noch einmal schießt, schreit sie, dann sprengt ihr mich mit hoch.
Fuck, sagt Fede überrascht. Ich renne los, weil ich sehe, wie sich der Mann unter der Jacke aufrichtet und den Arm langsam hebt.
Trotzdem spuckt das Mädchen ihm auf die Brust wie ein junges Pferd, das noch nicht handscheu ist.
Ich ducke mich unter seinem Arm hindurch und drücke mich an das Mädchen, das weder mit mir noch mit dem Schlag gerechnet hat, der jetzt mich seitlich am Hinterkopf trifft. Für ein paar Sekunden taumle ich nach hinten, bis wir von der nächsten Hauswand abgebremst werden.
Fuck, sagt der Typ hinter mir und klingt Fede erstaunlich ähnlich. Vielleicht sollte der, statt Samir, sein Neujahrskuss werden, denke ich, vielleicht wäre das irgendwann ihr gemeinsames Wort, so wie, na ja, bei Jara und Lukas.
Oida, sagt das Mädchen, als ich mein Gesicht endlich aus ihrer Halsbeuge entfernt habe und sie mich ansehen kann. Oida, wiederholt sie, während ich höre, wie die Männer hinter uns abziehen.
Fede, rufe ich, das war super von uns, das haben wir ganz super gemacht. Fede ist blass, seine Augen hat er weit aufgerissen, als er mit schnellen Schritten auf uns zuläuft.
Sag mal, ruft das andere Mädchen aufgeregt, hast du Schmerzen.
Ich schüttle den Kopf, ich lasse so was nicht mehr zu, sage ich zu dem Mädchen, das sich jetzt aus meinem Griff windet, da muss man sofort reagieren. Danke, sagt sie erleichtert, und in dem Moment schießen mir die Tränen in die Augen.
Bist du sicher mit den Schmerzen, fragt ihre Freundin verunsichert, und ich denke an Lindas Arzt, der meinte, zeigen Sie mir mal genau, wo es jetzt gerade wehtut, und ich nicke wieder.
Wir müssen das Klima retten, ruft das Mädchen, vor das ich gesprungen bin, während sie ihre Hose abklopft, und wegen Volldeppen wie denen schmelzen die Gletscher.
Für einen Moment antwortet niemand, auch Fede ist sprachlos wegen der Uneigennützigkeit der Mädchen oder wegen meiner.
Ich bin ja auch kein Fan von Fleischessen, sagt er dann langsam, ich hasse Fleisch, aber irgendwann reicht es doch auch. Es reicht was, fragt das Mädchen und schüttelt mich endgültig ab.
Na ja, sagt Fede, was möchtet ihr denn erreichen?
Es geht doch nicht um erreichen, sagt das schmächtigere Mädchen, wir müssen das Klima retten.
Das stimmt, sage ich, wie alt seid ihr denn?
Was spielt das für eine Rolle, grunzt die Größere.
Sechzehn, sagt ihre Freundin.
Ich habe Fridays for Future vermisst in meiner Schulzeit, sage ich zu ihnen, ich hätte mir gewünscht, da eine Gruppe zu haben, die mich versteht. Ich dachte damals, meine Wut wäre eine Phase, aus der ich rauswachsen müsste.
Wie alt seid ihr denn, fragt die Ältere.
Egal, sage ich.
Dreiundzwanzig, sagt Fede.
Das sind sieben Jahre, zählt die Ältere nach, du bist jünger als mein Bruder.
Warum seid ihr dann nicht jetzt dabei, fragt mich die Freundin, das ist doch auch eure Zukunft.
Bin ich doch, jedenfalls folge ich FFF auf Instagram, ich schaffe awareness, oder etwas Ähnliches.
Du bist so klug für dein Alter, sagt Fede, und das Mädchen nickt, ja, oder du dumm für deins.
Wir müssen jetzt los, sagt Fede, bald ist Mitternacht, und ich habe keinen Bock auf Grundsatzdiskussionen, wir böllern auch nicht, versprochen.
Ich beneide die beiden, weil ihnen ihre Wut noch nicht egal ist und sie irgendwie noch nicht genug haben von der ewigen Dauerapokalypse in den Nachrichten, während meine Wut irgendwann in den Hintergrund getreten ist, als wäre sie ein Störgeräusch, an das man sich gewöhnen kann, so lange es nicht unterbrochen wird.
Es muss doch auch Wege geben, friedlicher zu rebellieren, sage ich, als wäre meine Resignation ein Land und ich Patriot.
Okay, sagt Fede und hebt beide Hände, ich würde jetzt sagen, hier trennen sich unsere Wege endgültig, ihr geht die Erde retten, und wir gehen jetzt trinken. Dann greift er mich an der Hand und winkt mit der anderen den beiden zum Abschied zu.
Wir müssen alle die Erde retten, ruft das Mädchen uns hinterher, alle zusammen. Ihre Worte klingen in mir nach, während ich Fede folge, und kurz stelle ich mir das vor, wie es wäre, wenn die Mädchen gewinnen würden und die Erde retten könnten, so wie man ein Kind rettet, das gerade hinfällt, ob die Welt dann plötzlich aufhören würde, zu schreien, ob sie die Tagesschau endlich einstellen könnten.
Hast du das gesehen, Fede, frage ich ihn, wie ich dazwischengegangen bin und wie die Männer dann weggelaufen sind?
Ja, sagt Fede, klar habe ich das gesehen, was ist denn mit dir passiert?
Nichts, sage ich und grinse, weil ich plötzlich doch an Neujahr glaube und an Zivilcourage, die ich von jetzt an tragen kann, so wie emanzipierte Frauen das mit Kurzhaarschnitten und goldenen Vintageohrringen machen.
Ganz ehrlich, sagt Fede zu mir, Klimarettung klingt für mich immer ein bisschen wie Blitzkrieg, das ist doch eine Illusion, wir können die Welt nicht retten, wir können nur mit viel Disziplin zweihundert Jahre später aussterben.
Ich weiß nicht, sage ich und bin ganz froh, dass wir einmal nicht über Mark oder Samir reden, ich finde das irgendwie bewundernswert, ich weiß nur nicht, was sie genau damit meinen.
Genau, sagt Fede, Zivilcourage am Arsch, die Typen böllern jetzt halt woanders. Weißt du, sagt er aufgeregt, natürlich möchte ich die Erde retten, aber ein bisschen mehr möchte ich der Welt etwas heimzahlen wegen ihrer AGBs und den Cookies und dem Kapitalismus.
Ich lasse Fedes Worte in der Luft hängen und will sie wieder aufgreifen, aber in dem Moment müssen wir am Blumenladen rechts abbiegen, und Fede nimmt eine rote Rose aus dem Eimer vor dem Laden und schenkt sie mir im Laufschritt.
Ich klaue nicht mehr, sage ich. Er schüttelt den Kopf, das war nicht geklaut, die werden doch sonst weggeschmissen, wer kauft denn nach Mitternacht morgen noch Rosen.
Ich nehme ihm die Rose aus der Hand und stopfe sie in den nächsten Briefkasten.
Ich halte nach Alex und Elin Ausschau und stelle mir vor, wie er ihr gleich irgendwo in der Nähe Happy New Year in das dunkle Haar raunen wird, während beide staunend und verliebt zum Feuerwerk hochschauen, an den Neuanfang denkend, wie er sie von hinten umarmt und dabei seine Wunderkerze an ihren Hintern drückt.
Wie sie morgen die ersten trägen Januarstunden mit Halbschlafblasen und Weiterschlafen verbringen werden, erst in der Dämmerung zum Einkaufen das Haus verlassen, wie sie darüber reden, dass sie den Tag schon wieder ganz knapp verpasst haben wie einen Regionalzug, der nicht oft, aber manchmal kommt.
Komm, sage ich zu Fede, sobald das Orange in Sicht kommt, lass uns noch mal kurz warten.
Weißt du, was das für ein Geruch ist, fragt Fede mich und stellt vorsichtig ein paar Bierdosen zur Seite, bevor er sich auf die Eingangsstufen eines Altbaus setzt.
Fede legt seine Stirn auf mein Knie ab, und ich spüre den Stein in meiner Tasche. Was wir hören, sind zwei entfernte Wasserleitungen drinnen, die gleichzeitig rauschen.
Ist ja auch egal, sage ich, nachdem es ein paar Minuten lang still war.
Dieses beschissene Dorf, sagt er und holt seinen Stein aus der Tasche, das werfe ich jetzt ganz weit weg. Fede holt Schwung und zielt auf einen orangenen Mülleimer, Vorsicht, sage ich, weil gleich daneben die Autos am Straßenrand parken, aber da hat Fede schon geworfen, und der Stein landet genau da, wo er soll.
Treffer, sagt Fede.
Der Stein ist einfach verschwunden, zumindest sehen wir ihn jetzt nicht mehr, sein letztes Jahr klebt jetzt an Dönerboxresten, Bierdosen und Hundekackbeuteln.
Sorry, Lukas, sagt Fede.
Ich starre auf den Mülleimer, was ist, wenn es jetzt nicht mehr wirkt?
Fede grinst, da muss nichts wirken, das ist alles schon Realität, ich habe so viel therapiert im letzten Jahr, da brauch ich keine Räucherstäbchen mehr. Wir machen auch Paartherapie zusammen, sagt er, praktisch prophylaktisch.
Prophylaktisch, sage ich, wirst du jetzt auch Medizin studieren?
Fede grinst, ich schicke Mark nachher ein Video von meinem Silvesterkuss, und dann, mal schauen, was in der Nacht noch so passiert.
Wenigstens, fügt er hinzu, hat dann einer von uns ein Bett.
Oder wir beide, erwidere ich, aber es ist nur eins vierzig breit.
Als Fede mich angrinst, bevor er wieder ernst wird und noch einmal nachfragt, was das denn jetzt für eine Beziehung zwischen Samir und mir ist, da verwechsle ich ihn mit einem Fremden, der gleich mein Feuerzeug benutzen wird, um noch vor Mitternacht den ersten seiner Vorsätze zu brechen.
Ach, sage ich, das ist nichts Ernstes.
Wirklich nicht, hakt er nach, und als ich ihm das eifrig bestätige, es ist sicher nichts Ernstes, ganz sicher, da erwische ich mich bei dem Gedanken, dass ich nur die Zeitspanne ausrechne, in der es Fedes Verliebtheit jetzt zu überbrücken gilt.
Ich finde, ihr passt gut zusammen, sagt Fede, und ich sage, dito.
In dem Moment, in dem wir beide darüber lachen müssen, fällt mir mein eigener Denkfehler auf. Wozu sollte ich die Zeit, in der Fede verliebt ist, überhaupt überbrücken wollen, dafür, dass keiner von außen mehr mitreden kann, in welcher Farbe wir die Schlafzimmerwand streichen, und um uns dann über dem Eichenholz des Bettgestells anzuschreien, bis ich mit ausgestreckter Handfläche auf ihn zulaufe und Samir sagt, ich warne dich, dann einfach das Haus verlässt und fremdgeht oder meine Hand abfängt und mich auf die harte Kante des Bettgestells presst?
Glaubst du, wir können in denselben Mann verliebt sein, fragt Fede.
Ich bin nicht verliebt, sage ich, und Fede seufzt.
Anna, sagt er, ich kenne dich. Für einen Moment gibt es wieder nur mich und Fede, als wären die ganzen Umzüge und Ausflüge, die Nächte alleine und die Tage mit anderen nur ein Traum gewesen.
Ich habe nie mit Dingen abgeschlossen, sondern ihnen immer nur versprochen, irgendwann zu ihnen zurückzukommen, und jetzt sie sind immer schon vor mir in den neuen Räumen.
Ich habe vergessen, wie ehrlich Fede immer zu mir war, als er mir vom Metzger erzählte und mir Videos von lesbischen Frauen auf Pornhub zeigte, weil, wie er sagte, die nirgendwo anstoßen, nirgendwo eindringen und meistens die Gesichter nicht von oben gefilmt werden.
Und wie er dann kurz darauf sein erstes Mal hatte und wir vor ein paar Monaten noch die fünf häufigsten Gedanken aufzählten, die wir haben, wenn der andere in uns eindringt, und seine Top One war der Gedanke an den Blumenstrauß auf dem Schreibtisch und wie er versucht, den Blickkontakt mit der Vase zu halten. Wir hatten neue Wörter dafür erfunden. Wir sagten Freigetränk, wir sagten Schlupfwinkel, wir sagten Fingerfood, wir sagten Aschenbecher, wir sagten Comfort Zone, wir sagten Sommerloch, wir sagten Weinkeller, und weil ich in Wien wohnte, fügte ich noch Würstelbox hinzu.
Ich glaube schon, sage ich, dass das geht, warum nicht, wenn wir doch sonst auch alles teilen oder alles teilen könnten. Ich höre mir zu, während ich rede, um zu schauen, was der neue Mut mit mir macht.
Ich hätte dir viel früher davon erzählen sollen, sage ich leise, ich habe nur irgendwie vergessen, dass du zuhören kannst.
Nicht so schlimm, sagt Fede, geht mir auch manchmal so.
Toll, sage ich in die Stille, das heißt, du hast ein geiles Leben, und ich habe eine untreue Affäre und einen Ex-Freund.
Genau, sagt Fede. Und du hast deine Freunde angelogen, Marie ist bestimmt sauer, wir sollten jetzt los, ich habe nur noch zwanzig Minuten, um das mit dem Kuss sauber hinzubekommen.