8. Kapitel

Im Orange ist kein Platz mehr für uns, aber es ist noch Platz für Marie, die sich mit ihren breiten Hüften an den Oberschenkeln der größeren Menschen vorbei auf uns zuschlängelt. Ole, ruft sie dann lächelnd und winkt dem Kellner zu, und Ole drückt ein Auge zu und deutet mit einer Hand auf zwei Plätze an der Theke. Marie trägt jetzt eine grüne Schürze, die ihr über dem Dekolleté spannt, zum erste Mal an diesem Abend sehe ich sie richtig glücklich, mitten zwischen den Körpern, denen man an das Brustbein atmen muss.

Ole erkennt mich nicht wieder, und die Frau mit den kaputt blondierten Haaren hinter der Theke fehlt heute auch. Ich bin froh darüber, weil sie wahrscheinlich jemand ist, der unberührt und nachsichtig weiter Gläser spült, während alle anderen sich in den Countdown zählen wollen.

Um uns herum wogt ein Meer aus Menschen in das nächste Jahr.

Kommt mit, schreit sie uns entgegen, und weil in diesem Moment die Musik lauter gestellt wird, ruft sie noch hinterher, Party, geil. Dann fängt Marie an, zu tanzen, mit wippenden Brüsten und fliegenden Locken, und immer wieder sehe ich ihre weißen Zähne aufblitzen. Ich beobachte, wie sie die Gegenwart an den Hüften packt, vor Freude ab und zu aufschreit, völlig unbekümmert, während wir uns wieder vor zur Theke kämpfen. Ich kann mich nie so vergessen, ich frage mich sogar beim Geschenke-Auspacken, welches Gesicht man den anderen jetzt schuldet.

Während Marie ins Hinterzimmer geht, erkämpfe ich Fede und mir einen Stuhl an der Theke, um die Tür nicht aus den Augen zu verlieren, hinter der Marie verschwunden ist. Ich kratze das Kerzenwachs unter den Daumennagel und bestelle uns zwei Bier, ein Kellner schiebt uns kurz darauf drei rüber, ich öffne sie uns mit einem Feuerzeug. Ich esse die Erdnüsse leer und halte nach den anderen Ausschau. Niemand achtet auf Marie und wie sie nur so tut, als ob. Keiner arbeitet hier länger, die Bar gehört zu einer Kette, wahrscheinlich ist es ein Job, den man in den Semesterferien bekommen kann.

Die Leute sitzen rum und warten auf den Neuanfang oder einen Weltuntergang, auf ihre Bestellung oder auf die Besinnungslosigkeit. Je länger ich mich umschaue, desto weniger bin ich mir sicher.

Kellnern kann Marie, und sie kann auch gut so tun, als ob. Nach fünf Minuten reicht sie uns noch eine Flasche weiter, ganz offensichtlich so, als hätten wir bezahlt. Ich nehme sie entgegen, öffne sie und frage mich, ob ich immer noch ein guter Mensch bin, weil ich in der Regel versuche, Kellnerinnen und Obdachlose immer anzulächeln.

Fede und ich wechseln einen Blick. Ich spüre, dass er unsicher ist und Marie nicht einschätzen kann. Ist sie sauer, flüstert er, wegen ihrer Party?

Ich glaube schon, antworte ich und beobachte Marie. Sie kommt mit vier Schnapsgläsern wieder zu uns an die Theke und strahlt, weil das Adrenalin da ist und die Euphorie, als wären das zwei weitere Freunde, und Silvester hätte sie nur unter einem Vorwand feiern wollen.

Weißt du, ob Lukas hier ist, frage ich sie, ich muss dringend etwas mit ihm klären.

An Silvester gibt es nichts zu klären, widerspricht mir Marie, Prost. Sie kippt ihren Schnaps und verzieht das Gesicht, ich glaube, er wollte gleich nachkommen.

Und, fragt Fede, steht das mit Prag noch?

Sicher, sagt Marie und sammelt die leeren Gläser wieder ein, gebucht ist gebucht. Wir haben nur noch zwanzig Minuten, flüstert Fede mir nervös zu, hast du Samir gesehen?

Ich schüttle den Kopf und beobachte Marie, wie sie Getränke ausschenkt und Geld einsteckt, Münzen in die Kasse, Scheine in den Brustbeutel ihrer Schürze.

Siehst du Lukas irgendwo, frage ich Fede zurück, ich möchte die Steine noch loswerden. Ich hole meine Steine aus der Tasche und lege sie vor mir auf das Mahagoni, die Schrift nach oben, jetzt ist mir egal, wer mitlesen kann.

Krass, dass du uns da alle draufgeschrieben hast, sagt Fede.

Ja, sage ich, sorry.

Ich sehe mein Spiegelbild, das in der Glasvitrine reflektiert wird, die Flaschen schimmern durch mich hindurch.

Ich rutsche auf meinem Hocker nach links, um mein Gesicht nicht mehr gespiegelt zu sehen, meine Schenkel rutschen auf dem roten Kunstleder.

Bist du jetzt sauer?

Ich bin nicht sauer, sagt Marie, ich bin nur bald weg.

Marie nimmt Bestellungen von anderen auf und verschwindet ab und zu auf der Toilette, wischt sich über die Nase, während ich an meinen Vater denke, der vor seinem Tod etwas Ähnliches gesagt hat. Bist du jetzt sehr böse, wenn ich gehe, hatte er mich gefragt, und ich sagte, böse nicht, aber traurig schon, und er antwortete, gut, dann gehe ich.

Und dann ist er doch nie gegangen, überhaupt ist schon lange nichts mehr von mir gegangen, allem musste ich hinterherlöschen, den Fotos, den Sprachnachrichten, den Videos und den Rückschauen auf alles, was ich heute vor einem Jahr gemacht habe. Ich schiebe die Steine auf der Theke hin und her, Fede beobachtet mich dabei.

Hier ist kein Fluss in der Nähe, oder, frage ich, und Marie lacht. Ich möchte mit den Steinen tauschen und in irgendeinen Strudel hineingezogen werden, während sie hier an der Theke liegen bleiben. Ich beneide Marie, die heute Abend das Trinkgeld einsackt und sich morgen in den Fernbus setzt und dann ciao.

Hey Marie, frage ich, als ihre Locken wieder in meine Richtung wippen, darf ich mitkommen nach Prag?

Natürlich nicht, sagt sie, das ist mein Traum. Das Licht ist gelb, hier kann man drei Bier und dann drei Bier zu viel trinken.

Meiner auch, sage ich, wirklich.

Quatsch, sagt sie, was du brauchst, ist ein richtiges Ziel. Die Lampen erwarten von mir, dass ich ruhiger werde.

Du musst mal fühlen, was du wirklich willst, Anna, wirft Marie mir vor, fühl doch einfach mal rein. Sie wischt meine Frage vom Tisch, darf ich dir was bringen? Vielleicht geht es dann.

Ich wundere mich über ihre Taille, die ganz weich und energetisch durch den Raum schwebt. Wie können ihre Bewegungen so soft und durchlässig bleiben, frage ich mich, wenn ihr die Welt immer wieder Hundehaufen durch die Hautporen drücken möchte.

Noch zwei Bier, rufe ich ihr hinterher, und der Mann neben mir an der Theke hebt auch einen Finger der unverletzten Hand.

Michael, sagt Fede, und dreht sich zu ihm um, wie geht’s deinem Arm?

Ned guad, sagt er.

Ich greife nach den Bierdeckeln vor mir und fange an, sie neu zu mischen. Erinnerst du dich noch an Kartenhäuser, frage ich Fede neben mir, aber der chattet gerade am Handy.

We can pack up our old dreams, and our old lives, scheppert es aus den Lautsprechern. Spielt jetzt tatsächlich Bon Jovi, frage ich.

Romance isn’t dead, antwortet Michael, nur weg.

Ich ignoriere ihn, obwohl ich den Satz gut finde, und er ignoriert mich auch, nur seine Stimme nicht, die strahlt aus, während seine Augen auf der Tischplatte bleiben.

Ich, sagt Michael. Ich erinnere mich an Kartenhäuser.

Das ist gut, mit Alex habe ich das oft gemacht, sage ich zu ihm, während ich versuche, das Konstrukt zu stabilisieren. Ich erinnere mich nicht mehr, was die höchste Etage war, die wir jemals geschafft haben. Ich habe sie sicher fotografiert, aber alle Bilder gelöscht vor zwei Wochen, ich habe nicht mal mehr die Bilder von den Cocktails, die ich mit ihm getrunken habe, von den speckigen Barhockern und den klebrigen Tischen, von den Bierdeckeln und von seinem Löffel in meinem Zucker.

Alle gelöscht, sage ich.

Wirklich alle, fragt er mich.

Ja, lüge ich.

Weil ich die Nacktfotos meiner Ex-Freundin noch habe, die ist aber letztes Jahr gestorben, sagt er und reicht mir seine Schachtel Marlboro. Ich ziehe mir fünf heraus, überlege dann, rolle ihm zwei Zigaretten wieder zurück, mein Beileid.

Ja, sagt er, letztes Jahr, ich hasse das, mein Beileid, was soll das denn sein?

Keine Ahnung, sage ich und frage mich kurz, ob das jetzt schon Nekrophilie ist, wenn er sich die Bilder seiner toten Freundin immer noch ansieht.

Dann denke ich, dass er recht hat, und möchte ihn trösten. Ich möchte mein Beileid nicht sagen, sondern zeigen, ich denke, bei seinem Leid ist wirklich schon lange niemand mehr gewesen, aber da ist der Hocker zwischen uns und seine abgewandte Schulter, sein eingezogener Kopf und meine Angst vor seiner Leere.

Die ist einfach umgekippt, sie war tot, bevor sie den Boden berührt hat, zack, meint er, ich bin arbeiten, und sie fällt um und stirbt im Fallen. Ich weiß nicht mal, in welchem Winkel.

Ich kann nichts sagen, also stütze ich mich nur auf meine linke Hand und bleibe ihm zugewandt, damit er weiß, dass ich ihm zuhöre. Um uns herum beginnt plötzlich eine Lichtershow, grüne Planeten gleiten durch den Raum, streichen über unsere Arme hinweg, die Musik wird lauter, aber ich kenne das Lied nicht.

Immer habe ich gedacht, Marie wisse gar nichts von ihrem Schmerz, so, wie man es nicht weiß, wenn man einen schwachen Händedruck hat oder ein wenig zu oft blinzelt. Dabei hat sie nur eine andere Taktik, „und zwar in ihren Erinnerungen die Straßenseite zu wechseln“.

Weißt du, sage ich, ich habe dir vertraut.

Ich dir doch auch, sagt Marie, ich vertraue dir doch immer noch.

Plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, was genau sie damit meint, die selbstreflexiven Gespräche beim Abendessen oder die Kaffeepausen in der Uni, die kurzen Momente, in denen wir dem anderen zwischen der ganzen Selbstständigkeit eine Zusammenfassung der inneren Zustände gegeben haben.

Klar, sagt Marie geistesabwesend.

Warte, rufe ich ihr hinterher, kannst du nicht noch eine Weile in Wien bleiben?

Spinnst du, wenn mein Vater nach Hause kommt, bringt er mich um. Sie lacht nicht, während sie das sagt, ich denke an die nächtliche und die schulische Gewalt, sie hebt das Bierglas in ihrer Hand wie einen Zauberstab. Jetzt mach nicht so einen mitleidigen Blick, sagt sie, ich nehme vielleicht zu viele Drogen oder falle durchs Studium, sagt Marie und schwenkt es hin und her, aber immerhin sage ich nicht, es liegt an meinen Eltern.

Das heißt, du möchtest dich jetzt einfach weiter ablenken, sage ich.

Marie nickt, noch vierzig Jahre lang, aber die werden dann immerhin richtig gut.

Sechzig, sage ich, aber Marie lacht nur und deutet auf ihre Hosentasche, so alt werde ich nicht.

Ich spüre Michaels Blick auf meinen Händen, die das Kartenhaus jetzt freiwillig abbauen.

Es ist so laut hier, wiederholt er und dreht seinen Kopf in unsere Richtung, es ist so laut, sagt er und betrachtet immer noch meine Finger, das ist gut, dass es so laut ist, weil sie einem immer stille Trauer wünschen mit ihren Karten, weil man so tun muss, als wäre der Tod, weiß ich nicht, sagt er, irgendetwas, ein Kunstwerk, vor dem man staunen soll, dabei ist er einfach nur Dreck.

Ja, sage ich, es tut gut, das zu hören.

Ich weiß, sagt der Mann, und ich sage es gerne noch einmal.

Im April wollte sie ins Planetarium, sagt er, weil sie das Programm nicht mehr geändert haben, seit wir zwölf Jahre alt waren. Und dann lacht er, das Planetarium, was hätte ich da sollen?

Ich schiebe ihm meinen neuen Schnaps rüber, er kippt beide.

Das Medienmädchen kommt auf uns zu, noch zehn Minuten, schreit sie und stößt mit uns an, die anderen sind schon oben auf der Dachterrasse. Fede zeigt uns sein Display, damit wir noch einen Jahresrückblick vom letzten Jahr mit Mark sehen können.

Darf ich auch, fragt das Medienmädchen.

Klar, nickt Fede und hält uns das Handy schräg, damit wir besser sehen können, ich bin poly.

Ich schaue zu Marie, die uns nicht hören kann, mit einem Lappen beginnt sie das Spülbecken energisch auszuwischen.

Cool, sagt das Medienmädchen, ich auch. Sie quetscht sich zwischen uns, und ich rutsche etwas von meinem Hocker, damit sie zur Hälfte mit draufsitzen kann. Ihre Halskette hängt ihr in den Ausschnitt, ein silbernes Amulett mit Mondstein.

Marie hört uns doch zu, sie deutet auf das Medienmädchen, sie tindert nur, damit sie regelmäßig etwas Lustiges twittern kann.

Stimmt nicht, sagt sie, ich nenne es meine selbstlose Seite, weil ich die Typen date, bei denen man in der Bio schon ablesen kann, dass sie noch nie in einer Therapie über ihre Mutter gesprochen haben.

Sie holt ihr Handy hervor und fährt mit dem Zeigefinger eine Beschreibung nach. Hier zum Beispiel, wenn er schreibt, lern mich doch kennen, ich bin eigentlich immer gut drauf. Sie zeigt mir ein Bild von einem gut aussehenden Typen, dann lerne ich ihn kennen und rede so lange mit ihm, bis er versteht, dass das nur Coping-Mechanismen sind, weil er als Kind gelernt hat, dass er seine Wut unterdrücken muss, um gemocht zu werden.

Was ist, wenn er immer sagt, er will nichts Ernstes, und dann ist er plötzlich doch verliebt, frage ich, was macht man dann?

Ach, sagt sie, ich bin immer ein Fan von nichts Ernstem, warum soll sonst immer alles Spaß machen, nur in der Liebe wollen Sie dann was Ernstes, weißt du, was ich glaube, die suchen gar keine Liebe, die suchen wieder ein Elternhaus, in dem sie bestraft werden, wenn sie sich falsch verhalten.

Oder was Festes, ruft sie, stellt ihr Schnapsglas auf der Theke ab und beugt sich vor. Alle, die etwas Ernstes oder etwas Festes wollen, die suchen nur nach Halt, weil sie sich sonst so wenig spüren, die wollen endlich mal wieder ganz eng umschlossen werden, wie in einer Gebärmutter. Die wollen keinen Sex zum Selbstzweck, sondern nur Intimität gegen eine vermeintlich sichere Beziehung eintauschen, und wer das macht, sagt das Medienmädchen, der hat seine Verlustängste noch nicht überwunden.

Oida, sagt Marie.

Isso, bekräftigt das Medienmädchen, da kann mir keiner was erzählen. Du musst das tun, was sich für dich richtig anfühlt, sagt sie. Ich zum Beispiel spende nie, ich unterschreibe noch nicht mal Petitionen, aber ich zahle monatlich für die ethischen Pornos auf der xconfessions Seite von Erika Lust, und das fühlt sich fast genauso richtig an.

Eine ältere Frau greift nach meinem Arm und fragt mich, ob ich mich für Jesus interessiere. Ich schüttle den Kopf und deute zu Fede, aber mein Freund hier könnte ihm mal eine Chance geben, sage ich, er probiert grade mehrere Männer Anfang dreißig.

Nein danke, sagt Fede.

Ich hole mir eine Handvoll Zündhölzer aus der gläsernen Vase. Wann hörst du endlich auf, Kleptomanin zu sein, fragt Marie mich, während sie uns einen Schnaps einschenkt und Michael neben mir die Jesusfrau zu sich winkt.

Für wenn wir nie wieder in meine Wohnung kommen, sage ich und stecke die Zündhölzer ein, und wir dann Feuer machen müssen. Danach skizziere ich einen Lebensentwurf auf einen Bierdeckel und bekomme Angst, bei einem Plagiat erwischt zu werden.

Fede zeigt mir währenddessen seine Safe Spaces auf den Fotos, ihre Betten, die Serie, die Mark und er zusammen schauen, die Unitoilette und das Sofa mit dem Spannbetttuch, diese Kellerwohnungen, die Kippen im Vorhof, die Treppenstufen und die Bäckereien an den Kreuzungen.

Ich möchte gar nicht mehr weg aus Frankfurt, sagt er, das war wirklich ein Volltreffer. Er spricht von den Raben im Stadtpark, von den Hunden in der Tram, die an den Knöcheln ihrer Besitzer hängen, und von den Mäusen, die durch die U-Bahnhallen rennen, sozusagen seine Spirit Animals. Er atmet einmal tief durch und lächelt mich dann an, während er meine Steine in der Hand abwägt. Ich bin mir der Liebe einfach so sicher, sagt er, ich weiß, dass er sich einfach mit mir freut, wenn ich mich jetzt noch sexuell mit jemand anderem ausprobiere.

Magst du die behalten, frage ich ihn und nicke zu den Steinen in seiner Faust.

Nein, sagt Fede, ich wollte dir nur sagen, wie gut die Zukunft wird.

Sieht toll aus in Frankfurt, sagt das Medienmädchen, aber Spirit Animals sollte man nicht sagen, das ist Cultural Appropriation.

Sorry, sagt Fede, wusste ich nicht.

Man lernt nie aus, sagt das Medienmädchen, und ich find’s gut, wenn wir uns gegenseitig weiterbilden.

Bullshit, sagt Marie, die Inuit hatten gar keine Spirit Animals.

Doch, klar, sagt das Medienmädchen, mit der heiligen Natur.

Aber keine Spirit Animals, widerspricht Marie, das Wort kam erst in der Popkultur auf, in irgendeinem Artikel stand das, ich such mal.

Bist du sicher, frage ich.

Ja, sagt sie, ich schick dir den Link.

Wie dem auch sei, sagt Fede, sorry jedenfalls.

In der Bar spielt gerade Bob Dylan It ain’t me babe, und Marie summt beim Bierausschenken mit.

Was ich auch hasse, sagt Michael neben mir ungeachtet meiner starren Haltung, ist, wenn jemand sagt, ich muss mich jetzt neu erfinden. Ich habe kein Geld dafür, mich neu zu erfinden, was heißt das denn überhaupt, ich könnte mir noch nicht mal einen neuen Kleidungsstil leisten, höchstens ein T-Shirt in Grün, was ich sonst nie anhabe, und was bringt mir das dann?

Die Jesusfrau nickt verständnisvoll, und ich nehme einen großen Schluck von meinem Bier.

Es geht ja nicht gleich um neu erfinden, sage ich ihm und hebe eine Hand. Manchmal reicht es ja vielleicht, wenn man nur nicht so schnell vor sich selbst davonrennt, wenn es manchmal eher so ein eiliger Laufschritt ist oder man auch mal auf sich selbst bis zur nächsten Straßenecke wartet.

Ich stoße mein frisch gebautes Kartenhaus um und bin mir nicht mal sicher, ob ich davon irgendetwas ironisch gemeint habe, weder das mit dem Wegrennen noch das mit den aneinandergestellten Bierdeckeln.

Michael neben mir räuspert sich. Schau, sagt er, ich denke gerade darüber nach, über das Vor-sich-selber-Wegrennen.

Er nimmt einen tiefen Zug aus seinem Glas, aber ich versteh’s nicht, und es ist mir auch wurscht.

Er reicht mir einen Flyer von der Jesusfrau weiter.

Mir auch, sage ich, meine Therapeutin meinte einmal, mein Unterbewusstsein hat mir den Zugang zu meinen Gefühlen versperrt, also habe ich mir verschiedene Einbruchsmöglichkeiten überlegt und dann noch mehr Fluchtwege.

Aha, sagt er.

Meine beiden Steine schiebe ich zu Fede rüber. Ich will die nicht, sagt Fede. Und überhaupt, dachtest du wirklich, du würdest noch mal was mit Alex haben wollen.

Klar, sage ich, oder nicht, ich will ihn nur haben, verstehst du, irgendwie besitzen.

There, there, sagt das Medienmädchen, endlich werden wir ehrlich, ich heiße übrigens Lara.

Ich sehe durch die Bar zum Aquarium, das hinter der Bar in einer Ecke steht, klein, aber sauber, mit einem großen schwarzen Deckel und Wasserpflanzen darin. Ich kenne überhaupt niemanden mehr mit einem Aquarium, sagt Fede dann.

Passt, sagt Michael neben ihm, nachdem er eine Weile überlegt hat, wir müssen uns das genauer anschauen.

Gleich, sage ich.

Noch ein Bier, fragt Marie mich, oder magst du Wein lieber.

Lass uns zu dem Fisch gehen, sagt Michael, ich zahle auch, und er schiebt mir ein Bier in die Hand und meinen Hocker nach hinten.

Wir stellen uns vor das Aquarium, in dem tatsächlich ein paar Fische herumziehen. Skalars sind das, sagt Michael und klopft gegen die Scheibe, schau, die haben sogar Babys, ich brauche mein Bier. Ich betrachte die Fische, die fasrigen Algen, die langen Flossen und die schwarzen Streifen und die Wasserschnecken, die gräulich an der Scheibe kleben, bis Michael wieder neben mir steht.

Die sind ziemlich lebhaft, sage ich und weiß nicht genau, was ich damit meine, vielleicht nur, dass ich nicht verstehe, was sie tun und wohin sie wollen. Das ist ein Weibchen, sagt Michael, wir hatten auch mal welche. Er deutet auf einen Skalar mit langem, hellem Schweif, der jetzt direkt auf die farblosen Jungtiere zusteuert.

Der isst sein Kind, sage ich. Das machen sie nur selten, beruhigt mich Michael, ich glaube nicht, und in dem Moment hat das Weibchen schon das Baby geschluckt, und der Fisch streicht weiter durch die Algen und an den Wasserschnecken vorbei, als wäre nichts passiert. Die hat das Kind gegessen, sage ich, oder das ihrer Schwester.

Der Skalar blinzelt nicht, als ich ihn durch die Scheibe hindurch anstarre, er kreiselt einfach mit starrem Blick weiter durch das Becken, ohne von den anderen gemieden zu werden.

Michael neben mir bewegt sich einen Moment gar nicht, was mir sofort auffällt, weil er sich sonst die ganze Zeit bewegt, nicht viel, mehr wie eine Alge, und dann höre ich ihn atmen und plötzlich das Aquarium. Wasser spritzt auf meine Jacke, und für einen Moment springen nur Blasen an die Wasseroberfläche, die Fische stieben auseinander, und die Lichtröhre des Deckels zerspringt irgendwo.

Danach wird es still. So was macht man nicht, sagt Michael. Ein Skalar treibt leblos oben, und Michael legt beide Hände an die Scheibe, beginnt, zu weinen, und faltet sich dann einfach breitschultrig an der Kneipenwand zusammen.

Ich setze mich neben ihm auf den klebrigen Boden. Dafür musst du dich nicht schämen, sage ich, das hast du super gemacht.

Michael ist kein Mann, dem man normalerweise sagen würde, dass er Dinge super macht, weil er mit seiner lauten Trauer immer zwei Hocker braucht und weil sein Blick während des Redens auf das Holz der Theke gerichtet bleibt und nur die Stimme ausstrahlt und weil er sich mit Jesusfrauen unterhält und ihre Flyer mit nach Hause nimmt.

Aber gerade ist nicht normalerweise, und ich merke, wie meine Worte bei ihm ankommen und wie mein Herz laut klopft vor lauter Begeisterung, das war ganz, ganz super, sage ich zu ihm, das war wunderbar.

Im Hintergrund läuft gerade No Surprises von Radiohead, und ich nehme seine Hand in meine, weil wir beide kein Bier mehr halten müssen, no alarm and no surprises. Marie hebt eine Flasche nach oben, ich schüttle den Kopf, sie nickt nachdrücklich, kommt hinter der Theke hervor und steckt sie mir in die Jutetasche.

Die Hand des Mannes ist eine Faust, die stark zittert, darin hält er meine Hand eingeschlossen. Es tut mir leid, sagt er, es tut mir leid, es tut mir leid.

Es muss dir überhaupt nicht leidtun, sage ich, ich lade dich ein, Marie ein Schnaps und einen Spritzer.

Ich muss zum Wuzzler, sagt Marie und transportiert zwei Bierkrüge an uns vorbei, ich bin gleich bei euch.

Niemand geht hier wuzzeln, und niemand fängt an, jetzt Spritzer zu trinken, sagt Michael, gleich ist Silvester.

Nach dem Schnaps löse ich meine Hand aus seiner. Ich muss jetzt meine Steine wegschmeißen, sage ich, aber wenn du willst, kannst du mitkommen.

Er schüttelt den Kopf. Ich will jetzt zahlen, sagt er zu Marie, ich geh jetzt heim, und noch fünf Euro, weil mir das mit dem Fisch leidtut. Dann stolpert er müde aus der Bar, den einen Arm in Schonhaltung in seiner Jackentasche vergraben, die Trauer nimmt er mit.

Als ich mich wieder zur Theke durchdrücke, sehe ich, wie Samir und Fede sich umarmen. Im Gegensatz zu mir muss Fede sich nicht kleiner machen, als er ist, um perfekt in Samirs Armbeuge zu passen, er strahlt darunter hervor wie ein aufrechter Sieger und streckt gleich darauf eine Handfläche aus, um mich näher zu ihnen zu winken.

Drei für euch, sagt Marie und drückt mir die Schnapsgläser in die Hand, während ich aufstehe. Eigentlich bräuchten wir jetzt keinen Schnaps, sagt Marie wehmütig, eigentlich bräuchten wir jetzt ordentlich MDMA.

Marie, rufe ich, meine Steine, hab ich die hier liegen lassen?

Ich taste das Mahagoni der Theke ab, aber meine Steine sind verschwunden. Keine Ahnung, ruft sie gestresst, gleich ist Mitternacht.

Anna, ruft in dem Moment jemand anderes, ich kann die Stimme nicht gleich einordnen, es ist Lukas, rotzbesoffen, das Bienentier in der Hand, hast du Jara gesehen, sie hat das in der Wohnung vergessen.

Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Bedürfnis, Lukas ins Gesicht zu greifen, ich möchte ihm die Kälte abstreifen, während er weint, jetzt sag schon, ist sie hier?

Ich hab sie nicht gesehen, antworte ich, ich dachte, sie wäre bei dir.

Ne, sagt er, ich bin weggerannt, als die Polizei kam.

Du bist weggerannt, als die Polizei kam, wiederhole ich, du bist schon wieder weggerannt?

Ja, schnieft er und hebt seine überlangen, dünnen Arme hilflos übers Gesicht, ich hasse mich doch auch.

Ich nehme ihm das Bienentier aus der Hand und stopfe es in meine Jackentasche. Obwohl es aus Plüsch ist, sieht es hier nicht fehl am Platz aus, als wäre es seine Aufgabe, durch seine warme Glanzlosigkeit die kleinsten Löcher der Stadt zu stopfen.

Mann, Lukas, sage ich.

Sag nichts, wimmert er. Er sieht gar nicht mehr aus wie er, ohne seinen ergonomischen Rucksack und mit Flecken auf dem braunen Pullover.

Ich lege meine Arme um ihn, und er verschränkt seine hinter meinem Rücken wie zwei Streichhölzer, sein Rücken ist fest, und ich streichle ihn, du bist nicht der Einzige, sage ich, hör mal, mein bester Freund hat seine Sexualität neu entdeckt und wird jetzt mit meiner Affäre rumknutschen, und zwar vor dem Liebesschloss, dass ich mit ihm im Sommer da angebracht habe, als ich noch in einer Beziehung war.

Dann mach doch mit, schnieft Lukas nach ein paar Sekunden in mein Ohr, ist doch auch deine Mitternacht.

Ich trau mich nicht, sage ich.

Für einen Moment lösen wir uns beide nicht aus der Umarmung, so nah war ich das letzte Mal jemandem, als sich im Zimmer meines Vaters ein Brett von der Wand löste und die Scherben dann auf dem Boden lagen, zusammen mit der Blumenerde und ein paar Büchern, die wie aufgeschlagene Vögel aussahen. Zuerst hatte ich versucht, die größten Scherben aufzusammeln, aber dann war ich zurück auf das Bett meines Vaters gekrochen, und wir haben den Anblick ein letztes Mal einfach nur eine Ewigkeit lang zusammen ausgehalten. „Ich versuche, mir allesgenau vorzustellen, die Erde, das Brett, die Bücher und die gemusterte Bettdecke, auf der seine Hände lagen, die jeden Tag farbloser wurden.

Lukas lässt mich los, sollen wir trotzdem gemeinsam nach oben, fragt er mich, und kannst du mal versuchen, Jara anzurufen?

Mach ich, sage ich, und dann nehmen wir zwei Stufen auf einmal, um so schnell wie möglich zu den anderen aufzuschließen.

Außer Atem kommen wir eine Minute vor Mitternacht oben an, Fede legt den Kopf schräg, und Samir macht sich groß und reckt das glatt rasierte Kinn, er deutet auf den bedeckten Himmel, und Fede schaut nur mäßig interessiert hin, weil ein Sternbild eben kein GIF ist.

Erik macht ein müdes Peace-Zeichen, als er mich sieht, und hinter ihm explodierenden die ersten Feuerwerkskörper.

Neben mir steht Lara, die beiden, flüstere ich ihr ins Ohr und deute dann auf Samir und Fede, brauchen gleich ihren Neujahrskuss. Laras Gesicht leuchtet auf und sie nickt mir begeistert zu, unbedingt, hüpft sie, komm, sage ich, wir feuern sie an.

Fede, der vorher noch Angst hatte, aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden, lehnt sich jetzt ganz selbstbewusst an ein fremdes Geländer, ohne nach mir Ausschau zu halten. Für einen kurzen Augenblick kreuzen sich unsere Blicke, doch dann legt Fede seine Hand auf Samirs, so wie er denkt, dass ich es bei Joni getan habe.

Alle zittern, weil plötzlich wieder etwas passiert oder, wie Fede meinte, weil man endlich ganz anwesend sein muss oder, denke ich, weil man einmal wieder an seine eigene Endlichkeit erinnert wird, aber in dem Moment würde ich das Damoklesschwert gegen eine Handfeuerwaffe tauschen.

Die beiden, brülle ich, die brauchen einen Neujahrskuss.Ihr seid so cute, quietscht Linda, das machen wir.

Samir stellt sich breitbeiniger vor Fede auf, so wie er es bei mir macht, wenn er zu einem Schlag ausholt.

Fede versteift sich plötzlich, wie er es vorher in der Bahn tat, als der Typ seine Hand auf seinem Schenkel hatte. Seine dünnen Kniekehlen beugt er durch und hört auf, zu lächeln, dann steckt er das Kinn in den Mantelkragen, die weißen Knöchel verkrampfen um das Geländer.

Marie beginnt euphorisch von zehn runter zu zählen, neun, quietscht Lara mir ins Ohr, acht, rufe ich, sieben, sechs, fünf.

Kuss, ruft Linda, Kuss! Kuss! Kuss!, stimmen die anderen mit ein und Samir drückt Fede mit seinem kräftigen Daumen das Kinn wieder nach oben, vier, drei, zwei, höre ich meine eigene Stimme, die alle anderen übertönt, als wollte sie mir etwas sagen, aber ich höre ihr nicht zu.

Um Mitternacht explodiert alles um uns herum. Und wir stehen auf der Dachterrasse, ganz groß und unantastbar. Während Samir Fede küsst, bin ich erleichtert.

Ich habe mir das schlimmer vorgestellt, dass sie eintauchen ineinander und nie wieder atmen müssen, aber das Geländer hinter ihnen bleibt mir treu, die Zeit vergeht nicht schneller oder langsamer, sie vergeht einfach, während Fede die Augen zukneift und Samirs Kippe ein Loch in seine Jacke kokelt.

Samir wirft mir einen Blick zu, während er seine große Hand in Fedes schmalen Nacken legt und seine Haare nach hinten zieht, so wie er es bei mir gemacht hat, als er mich das erste Mal in seiner Wohnung an die vitrinenlose Wand gestoßen hat.

Wo ist denn die Steinsammlung, hatte ich gefragt, und er hatte geantwortet, ich sammle gar nichts, was nicht stimmte, Wochen später wusste ich von drei Dingen, die er sammelte, originelle Postkarten von kleinen Theatern, ironisch gemeinten Kitsch von Freunden und Begründungen, was seine Eltern in der Erziehung falsch gemacht hatten, dass aus ihm derjenige werden konnte, der er jetzt war.

Über uns explodiert ein blauer Nebel, und Fede eskaliert an Samirs Lippen, Linda schreit vor Begeisterung neben mir auf, ungefähr so, wie die Kursleiterin im Fitnessstudio während des dritten Satzes Squats jauchzt, wenn alle noch mal vor dem Cooldown eine gute Zeit haben sollen.

Zum ersten Mal sehe ich Samir beim Küssen als Außenstehende, seine engen Jeans, seinen breiten Rücken und seinen lockeren Kiefer, und Fede, der die Augen geschlossen hält und so aussieht, als würde er in seinen Mund seufzen, so leise, dass nur Samir hören kann, dass Fede für immer dableiben will, wo er ihn gerade hinballert.

Für einen Moment verwechsle ich uns miteinander, als würde ich mir selbst beim Küssen zusehen, und ich muss mich von beiden abwenden, weil ich es nicht aushalte, wie wenig sich die Welt verändert, wenn man nicht einer von beiden ist. Dann sind das nur zwei Köpfe, die in den Haaren des anderen wühlen und ihn dann näher heranziehen, und davon werden wir also eifersüchtig, denke ich, mehr wollen wir also wirklich nicht vom Leben, Speichel schlucken und alle anderen für einen Moment vergessen.

Die anderen sind schon wieder weiter und haben Samir und Fede hinter sich gelassen, sie starren jetzt in den Nachthimmel und stoßen ihre Gläser aneinander.

Auf einmal wünsche ich mir, genauso Teil von etwas zu sein, das auch von außen bedeutend aussieht, die Feuerwerkskörper schrammen jetzt über den Nachthimmel, Funken schlagend bis an die Ränder der Stadt.

Marie neben mir verschränkt die Arme und hält den Kopf in den Nacken, froh, dass auch endlich die letzte freie Fläche von etwas Leuchtendem durchschnitten wird. Sie fängt meinen Blick auf, über die Musik hinweg sehe ich nur, wie sich ihre vollen Lippen zu Worten formen.

Was ist denn, fragt Marie und tanzt sich in meine Richtung. Ich hebe beide Hände an den Mund und rufe zurück, ich will mich auch einfach mal so fallen lassen. Marie rollt die Augen und formuliert, dann lass dich doch einfach fallen, bevor sie die Augen schließt, den Kopf in den Nacken legt und wie zur Demonstration zum Bass tanzt.

Samir hört auf, Fede zu küssen, und weil Fede nicht außen stand, sondern innen gerade Hollywood auf der Haut hatte, leuchtet er jetzt anders, frohes Neues, strahlt er in Samirs Gesicht.

Während ich auf Samir und Fede zulaufe, suche ich Samirs Gesicht nach seinem entrückten Grinsen ab, das im letzten Jahr immer mir gewidmet war. Ich halte Ausschau nach der Verunsicherung aus dem Badezimmer, die mir versichern würde, dass er zwar die Hand meines Freundes hält und mit ihm die Getränke teilt, dass er ihm zuhört und über seine Witze lacht, aber immer noch und ausschließlich, um mir etwas damit zu beweisen.

Und, fragt Samir, als er neben mir steht, hat es dir gefallen? Ich spüre seine Hand, die sich mir kalt in den Nacken legt, und erst sein Räuspern macht mir klar, dass das tröstlich wirken soll, und ich lehne mich in seine Handfläche, die nicht zudrückt.

Frohes Neues, sage ich, und er küsst mich auf den Mund.

Ihr beiden, sagt er dann, das ist jetzt für uns alle eine ungewöhnliche Situation.

Fede fängt gerade erst an, mich anzugrinsen, da wird Samir schon wieder unterbrochen, wir haben noch Wunderkerzen, schreit Marie, die immer erleichtert ist, wenn irgendetwas noch abbrennen kann. Wunderkerzen sind wie Sternschnuppen für Faule, ruft sie, ihr könnt euch dabei jetzt auch einfach mal was wünschen nach dem ganzen Losgewerde von der Scheiße des letzten Jahres. Marie grinst, als sie Fede, Samir und mich zusammenstehen sieht.

Samir kann das nicht auf sich sitzen lassen und muss irgendjemanden an beiden Schultern festhalten und ihm von dem Prozess mit seinem inneren Kind zu erzählen, doch bevor ich das bin, schlüpfe ich unter seinem Arm hindurch und nehme etwas Abstand von den beiden.

Frohes Neues, rufe ich, Marie tanzt wild an mir vorbei, und Fede hält mich am Ärmel fest, das war Wahnsinn, oder, Anna, hast du es gefilmt?

Ja, sage ich, nein, sorry, nicht gefilmt, aber frohes Neues. Fede zwinkert mir zu. Für einen Moment denke ich, er wird mich auch küssen, so wie wir uns schon mit vierzehn vor den Jungs geküsst haben, mitten zwischen den billigen Anmachen und den günstigen Umständen. Die Raketen jaulen an uns vorbei, und wir quietschen mit, ein bisschen so, wie ich mir Krieg vorstelle, nur noch sinnloser.

Ich möchte Marie glauben und tanze erst mit Samir und ergreife dann Fedes Hand, um ihn in der Menge nicht zu verlieren, aber ich lasse sie auch nicht los, als wir uns bis zum Geländer vorgedrängt haben. Ich spüre Samirs Blick auf unseren Händen.

Fede legt mir eine Hand auf die Knie, um sich darauf abzustützen, während er Lara ein frohes Neues Jahr ins Gesicht brüllt. Wir stehen Ellenbogen an Ellenbogen mit den anderen Barbesuchern zusammen, und durch die Menge hindurch erhasche ich einen Blick auf Erik, der genauso ratlos wie ich auf das neue Jahr starrt, das jetzt so euphorisch begrüßt wird, als wäre ein neues Jahr eine gute Nachricht.

Erik sieht aus, als würde er gerade auch nicht an die Schönheit der Welt, sondern an die gerade entstehende Luftverschmutzung denken oder daran, dass wir zwischen zwei Vulvalippen aus einem Bauch gepresst werden und das Geburt nennen, oder daran, dass wir auch im nächsten Jahr noch Tiere in ihren eigenen Darm zurückstopfen, in sehr dünne Scheiben schneiden und sie uns dann aufs Brot legen, und wenn man daran denkt, kann einen eigentlich gar nichts mehr wundern.

Ich solidarisiere mich mit seiner ganz leise implodierenden Einsamkeit, vielleicht wäre es besser, denke ich, während ich wieder zu Samir und Fede sehe, wir wären stattdessen aus Eiern geschlüpft, vielleicht würden wir dann endlich aufhören, ständig wieder mit jemand anderem eins werden zu wollen.

Mit beiden Händen greife ich nach Marie und Samir und ziehe sie eng an mich, für einen Moment sind wir uns ganz nah zu dritt, und ein Unbehagen durchfährt mich, sodass ich mich sofort wieder aus der Umarmung löse und in einer Spirale aus dem Kreis tanze.

Samir holt mich wieder ein, das Schloss, sagt er, wollen wir das wegmachen, ich habe mir Benzin von Ole geliehen. Er klopft sich auf die ausgebeulte Jackentasche, komm, sagt er, lass uns das jetzt machen.

Daran habe ich gar nicht mehr gedacht, sage ich und presse mich enger an ihn, weil ich immer weiß, wie ich mich verhalten muss, um von ihm behalten zu werden.

In seiner Halskuhle warte ich ab. Wie kann man ein Gefühl provozieren, frage ich ihn, es so lange provozieren, bis es zuschlagen muss?

Samir hält mich ein paar Sekunden ganz fest, als könnte er das Gefühl aus mir herauspressen, aber innen bleibt es stumm, selbst, als ich mit dem Zeigefinger seine Augenbraue nachfahre und meine Hand mit seiner verschränke, bin ich mir nicht sicher, ob man überhaupt davon sprechen kann, dass wir etwas miteinander haben, wenn wir beide so schlecht sind im Teilen.

Gib mir noch zehn Minuten, sage ich, das Feuerwerk genießen, und dann können wir es abmachen.

Okay, sagt Samir. Er deutet auf Ole, der gerade Knatterbälle und Gartenvulkane verteilt, ich geh ihm mal helfen.

Am Naschmarkt fahren Rettungswagen vorbei, Lukas stellt sich neben mich, Anna, sagt er keuchend, hier, ich habe sie wiedergefunden. Er drückt mir meine Steine in die Hand, einer eckig, einer runder, die sind jemandem runtergefallen und lagen unter dem Tresen.

Danke, sage ich, und wiege sie in meinen Händen, Lukas lächelt mich an, das Bienentier hängt ihm aus der Tasche. Für einen Moment sieht er traurig aus, als müsste er nicht Jara suchen, sondern seine Existenzberechtigung. Ich schaue mich nach einem Gegenstand um, mit dem sie jetzt ihr Herz vergleichen würde, wenn sie hier wäre, womöglich mit den Raketenhölzern, die jetzt wieder verkannt auf der Erde liegen.

Zusammen atmen wir den Geruch ein, den Silvester ein paar Minuten nach Mitternacht macht. Das letzte Mal, sagt Lukas, habe ich mich auf dem Sprungturm im Freibad vor fünf Jahren so gefühlt.

Wie, frage ich.

So weit oben, sagt er.

Ich war immer das Mädchen, das unter dem Baum auf die Sachen aufgepasst hat, sage ich, während alle anderen schwimmen gegangen sind.

Ah, nickt er, so einen hatten wir auch.

Kommst du klar, frage ich, Lukas nickt und schwankt.

Ich sage nichts mehr, weil ich weiß, dass Lukas keinen braucht, der sagt, du kannst jederzeit anrufen, wenn es dir schlecht geht, er braucht eigentlich jemanden, bei dem er sich nicht schlecht fühlen müsste, wenn er es dann tun würde, aber das ist unmöglich, weil Zeit stiehlt man ja jedem. Einmal, sagt Lukas mir ins Ohr, während die anderen tanzen, bin ich vom Zehner gesprungen, und Jara saß am Beckenrand und hat sich in dem Moment ein altes Pflaster vom Schienbein reißen wollen, in dem meine Freunde mir zugerufen haben, dass ich springen soll.

Und, frage ich. Fede macht gerade Fotos von Marie, während sie mit ihrer Wunderkerze ein Herz in die Luft malt.

Und, sagt er, hat sie gemacht, aber als ich zu ihr geschwommen bin, hat es wieder geblutet.

Die Abstände zwischen den Raketen werden immer länger, der Himmel riecht so, als müsste unsere ganze Milchstraße dringend lüften.

Konntest du denn deine Steine noch wegwerfen, frage ich zurück. Mein Handy zeigt mir an, dass es der erste Januar ist, eine Freundin aus Kanada postet, heute wäre die erste Seite von 365 leeren Seiten, die noch vor uns liegen und gefüllt werden wollen.

Ne, sagt er, ich hab mich nicht getraut, na ja.

Und gute Vorsätze?

Habe keine, sagt er, und du, du doch sicher auch nicht.

Ich auch nicht, sage ich, aber ich bekomme gerade Lust auf Vorsätze, das passiert mir jedes Jahr wieder für ungefähr zwei Stunden nach Mitternacht, da melde ich mich doch online wieder fürs Fitnessstudio an.

Ist doch okay, sagt er, das kann man dann ja doch noch vierundzwanzig Stunden lang stornieren.

Erstens, sage ich, kündige ich meine Wohnung.

Wann, fragt Lukas.

Morgen, sage ich.

Gut, sagt Lukas, was noch.

Ich trenne mich von Alex, sage ich, noch heute Nacht.

Okay, sagt Lukas, aber sah nicht so aus, als wäre das noch nötig.

Er hat noch seine Sachen in der Wohnung, meine ich, und die müssen jetzt alle raus.

Lukas nickt.

Und dann, sage ich, werde ich einfach nicht mehr über alles nachdenken heute Nacht und Urvertrauen in die Welt haben.

Urvertrauen, wiederholt Lukas, ich dachte, das ist das Ding, das man als Baby von den Eltern bekommt, wenn sie immer wieder das aufheben, was man absichtlich auf den Boden schmeißt.

Ich glaube, sage ich, das stellt sich einfach ein, wenn man aufhört mit dem ständigen Nachdenken.

Lukas schweigt eine Weile, dann dreht er sich zu mir um und sagt, ich wollte mich mal mit dem Tod auseinandersetzen, und jetzt trage ich seit eineinhalb Jahren einen Organspendeausweis mit mir herum, der undeutlich ausgefüllt ist, und habe deswegen noch mehr Angst, zu sterben.

Lara kommt mit einer flüchtigen Umarmung auf uns zu, ich muss leider noch weiter, der Typ von Tinder ist jetzt unten und möchte einen Neujahrskuss, und man soll doch immer gehen, wenn’s am schönsten ist.

Cool, sage ich, also dann, wir bleiben lieber noch ein bisschen. Wir winken dem Medienmädchen länger als nötig hinterher, selbst dann noch, als sie längst verschwunden ist.

Woran liegt es, frage ich, und drehe mich etwas, um auf die Stadt unter uns zu deuten, dass man Menschen von oben viel leichter lieben kann, selbst die Böller und die Hunde sehen von hier aus irgendwie friedlich aus, jetzt verstehe ich Gott und seine Liebe zu den Menschen und auch, warum er nie eingreift.

Lukas zieht die Nase hoch und macht ein Bild, derselbe Ausblick, nur als Panorama.

Fede stellt sich neben mich, Samir sucht dich, sagt er, er meint, du sollst zum Geländer kommen.

Fede, sage ich, ich muss dir noch was sagen.

Was denn, fragt Fede.

Ich hab hier auf der Dachterrasse mal mit Samir zusammen ein Schloss befestigt, da sind unsere Initialen drauf.

Fede antwortet erst nicht, bis ich ihm ins Ohr brülle, und das, brülle ich, werden wir jetzt wegmachen.

Aber nicht wegen mir, oder, schreit Fede zurück, und ich schüttle den Kopf, nein, wegen dem Neuanfang.

Zu dritt schreiten wir das Geländer ab. Es muss gleich hier sein, sagt Samir aufgeregt zu Fede in seinem publizierenden Tonfall und geht mit dem Zeigefinger die Stangen ab. Er wiederholt das ein paar Mal, während wir die verpulverte Nachtluft einatmen und Betrunkenen ausweichen.

Weil Samir so oft und immer zuversichtlicher sagt, dass es gleich hier in der Nähe ist, werde ich fast aufgeregt, als hätten wir doch ein größeres Geheimnis gehabt und würden jetzt von etwas Spektakulärem erwartet werden, das ich Fede stolz präsentieren könnte. Als ob ich sagen könnte, schau, das haben wir uns zusammen erarbeitet, deshalb konnte ich nicht darüber reden. Als wären wir ein Start-up-Unternehmen, das inzwischen Millionen erwirtschaftet hätte, aber als wir am richtigen Pfeiler ankommen, hängt da doch nur ein Schloss, auf das mit Edding ein schönes S und ein hässliches A geschmiert wurde, kleiner als meine Handfläche, und es sieht immer noch aus wie neu.

Das ist es, sage ich, und Fede sieht mich für einen Moment irritiert an.

So, sagt Samir, hier ist das Benzin. Aus seiner Jackentasche holt er vorsichtig einen feuchten Lappen hervor, den er in eine Plastiktüte eingeschlagen hatte.

Das machen wir jetzt weg, erkläre ich Fede, als würde ich vor einer Tafel stehen und mit dem Finger auf eine komplizierte Formel deuten, um neu anzufangen.

Der Edding geht viel schlechter ab, als gedacht, was die Situation erst unangenehmer und dann leichter macht. Fede findet noch einen geklauten Jägermeister in der Tasche, wir stoßen am Geländer an, und jeder darf einen kleinen Schluck trinken, da ist die Freiheit ganz da, und Samir küsst mich auf den Mund, während um uns herum die Restböller abgeschossen werden und die Rastlosen uns anrempeln, und dann küsse ich Fede, nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal seit sehr vielen Jahren wieder auf den Mund. Samir fasst mir in die Haare, was mich dazu bringt, ihn härter zu küssen, und Fede umklammert meinen Anorak, und schon wieder heult eine Sirene hinter uns auf, das ist die erste Nacht, in der ich mehr auf die Rettungswagen achte als darauf, ob der Mond zu- oder abnehmend steht. Fede zu küssen fühlt sich ähnlich an, wie Freud zu zitieren, nicht unbedingt richtig, aber doch bedeutungsschwer. Alles, was mir drinnen Angst macht, schnüre ich ab.

Auf einmal fällt mir ein Satz von früher wieder ein, Mädchen sind einfach weiter, wusste ich damals, die ganze Zeit lang, in der ihre Lippen auf meinen lagen. Mädchen sind einfach weiter, hatte meine Mutter gesagt, weil Alex im Unterricht viel öfter ermahnt wurde als ich, und manchmal denke ich immer noch daran, wenn die Verkäuferinnen mir neue Reizwäsche in Papier einschlagen oder wenn mir ein Mann sagt, wow, du bist so einfühlsam. Eine Zeit lang habe ich mich dafür geschämt, wie gut ich weiß, wie ich am meisten gemocht werden kann, bis mir klar wurde, dass ich das zwölf Jahre lang gelernt hatte, und auch, wie ich noch mehr gemocht werden könnte, so wie jetzt zum Beispiel, wo ich Fede anstrahle, Benzin in seinem Haar verteile, Samirs Hand drücke und sage, mir geht es gerade super.

Mir auch, sagt Fede und legt mir seine Hände um die Schultern, um das Gesicht in meine Halsbeuge zu pressen. Fede und ich halten uns aneinander fest, und nur für Samir sieht das gerade wie eine Umarmung aus.

Ich ärgere mich nicht mehr darüber, dass er vieles nicht versteht, für Fede und mich war es immer leicht, unseren Müttern ähnlich zu sein, die immer warm und verständnisvoll im Hintergrund herumstanden, in welcher Hinsicht hätten die Jungs den Vätern denn auch ähnlich sein sollen, wenn sie noch keine Verträge unterschreiben und sich nicht tagelang in Luft auflösen konnten.

Wenn man nicht darüber nachdenkt, ist nichts daran seltsam, dass Samir meine Hand hält und Fede das zum Lächeln bringt, er lächelt verzaubert erst mich, dann Samir und dann wieder mich an, so, wie man früher nach einer Zirkusaufführung gelächelt hat und dachte, es ist eben doch möglich mit dem Dreiersalto, und niemand ist abgestürzt, wer hätte das gedacht?

Wir wechseln uns ab mit dem Lappen und rubbeln erst am &, dann am A und dann am S herum, ist das wirklich so wichtig, fragt Fede, und Samir nickt, es ist sehr wichtig, oder hast du heute noch was vor?

Fede schüttelt lachend den Kopf und legt ihn auf meiner Schulter ab, aber ich, sage ich zögernd, ich muss gleich los, um Alex noch vor der Wohnung abzufangen, er räumt gleich noch seine Sachen raus.

Okay, sagt Samir, wir kommen nach, wenn wir hier fertig sind.

Ihr macht das hier, frage ich, habt ihr einen Edding dabei, dann könnt ihr zumindest das S neu schreiben.

Geh weg, meint Samir, und Fede winkt mir mit dem Lappen zu, wir kommen nach, ruf an, wenn du fertig bist.

Ich wende mich ab und kann den Knall zuerst nicht zuordnen, bis Marie kreischt und zu Samir springt.

Hau ab, sagt er, und sie schreit, du brennst aber. Jetzt haben es die anderen auch bemerkt, und Samir presst sich die Jacke zwischen die Schenkel, es war nur der Ärmel, ruft er, es ist alles in Ordnung.

Plötzlich ist es ganz still und rauchig auf der Dachterrasse, Samir ist am Geländer neben Fede zusammengesunken, den Arm weiterhin zwischen die langen Beine gedrückt, als wage er es selbst nicht, ihn herauszuziehen. Alles gut, sagt er wieder, es war nur der Ärmel.

Als sich keiner rührt, zieht er ihn langsam zwischen den Knien hervor, öffnet und schließt seine Hand, da ist nichts drangekommen, ruft er laut, der hat mich nur gestreift, jetzt haut schon alle ab.

Linda lacht auf, Marie schaut besorgt, und Fede möchte auf ihn zugehen, aber dann tauschen wir Blicke aus, und er zieht sich zurück. Nach ein paar Minuten sammelt sich Samir. Als er Maries zögerlichen Schritt in seine Richtung sieht, hebt er den Zeigefinger.

Ich warne dich, sagt er und richtet sich langsam und alleine wieder auf.

Sorry, sagt Marie und hält die Faust mit dem Feuerzeug hoch, ich dachte, der geht in die andere Richtung. Sie deutet hilflos erst die Flugbahn an, die der Böller versehentlich genommen hat, und dann die, die er hätte nehmen sollen. Ihr Arm schlackert durch die Luft, es trennt sie keine doppelt verglaste Fensterschreibe mehr von der Welt, und trotzdem bleibt die Platzangst im Körper und die Akkordarbeit im Kopf. Ihr Eyeliner sitzt, der ist wasserfest.

Marie dreht sich im Kopf, sorry, sorry, sagt sie wieder, und fängt fast an, zu weinen, aber sie kann sich nicht an Samir wenden, der sie immer tröstet, wenn sie mal wieder über die Stränge geschlagen hat. Er blickt stoisch geradeaus, während er sich seinen Weg bis zur Terrassentür bahnt. Mit dem gesunden Arm hält er sich den verkohlte Ärmel seiner Lieblingsjacke aus billigem rotem Achtzigerjahreplastik, die er auf Vinted gefunden hat. Schon ok, winkt Samir ab, aber kannst du mal aufhören, immer irgendwas zu schmeißen?

Während Marie, Fede und Jara gemeinsam ein paar zerbrochene Flaschen aufsammeln, husche ich Samir hinterher und versperre ihm den Weg nach unten.

Wie geht es dir, frage ich außer Atem. Für einen Moment bleibt er im Rahmen der Terrassentür stehen, größer als ich und still.

Anna, sagt er und dann eine Weile nichts mehr, ich möchte nach seinem Nacken greifen und meine Wange an seine pressen, aber irgendetwas hält mich ab, während er sagt, ich komme gleich mit, ich muss mich nur kurz richten.

Ich bleibe im Türrahmen stehen, während er beginnt, sich im Schutz des Windfangs vorsichtig die Jacke abzustreifen.

Hilf mir mal, sagt er, sein Kiefer tritt nun stärker hervor, als hätte er sich zwei Kaugummis auf einmal in den Mund gesteckt. Vorsichtig kremple ich ihm den verbrannten Ärmel zurück, die Haut darunter ist rot und klebt etwas fest. Das macht dich an, oder, fragt Samir, und ich sage, was? Und er meint: Nie wegzusehen.

Statt einer Antwort versuche ich nur, den Blickkontakt mit ihm zu halten, um ihm stumm mitzuteilen, als was ich mich noch für ihn verkleiden würde, um im hinteren Teil seines Lebens nicht aufzufallen, als Wasser, das ihm bis zum Hals steht, als sein dritter Versuch eines Neuanfanges, als sein Herzblatt aus Recyclingpapier. Stück für Stück schiebe ich meine Fingerspitzen zwischen Haut und Plastik, taste mich durch die Nässe am Unterarm.

Fede hat der Kuss gefallen, sage ich, und Samir wendet sich ab, sobald ich ihm den Jackenärmel über das Handgelenk ziehe. Er mustert seinen Arm und sagt, nächstes Jahr dann du. Der Satz klingt nicht bestimmend, sondern resigniert, als hätte er jetzt schon vor dem neuen Jahr kapituliert und vor allen Entscheidungen, die er darin treffen wird.

Wir schweigen beide, bis Marie ihren Bruder wiederentdeckt und mit den Armen voller Flaschen auf uns zukommt. Sie ruft ihn, als stünde er viel weiter entfernt. Brauchst du irgendwas, fragt Marie, Bepanthen?

Als Samir ihr nicht antwortet, schaut Marie hilflos zu mir.

Ich glaube, sage ich, nur Ruhe.

Quatsch, widerspricht Marie, ich bin’s doch, sie geht einen Schritt auf Samir zu, aber er dreht sich zur Wand.

Im schwachen Licht des Treppenhauses sehe ich Maries Gesichtszüge, die mit 200 km/h entgleiten, als gäbe es gleich Schwerverletzte. Mit einer Hand kramt sie in ihrer Tasche, auf der Suche nach Tütchen oder Tabak oder sonst etwas Tröstendem.

Jetzt nicht, Marie, sage ich und sehe zu, wie sie ihre Arme enger um die leeren Flaschen schließt.

Komm her, sage ich, als sie sich wieder umgedreht hat, zum Balkon und zu der guten Aussicht. Samir kommt zu mir und sinkt in meine Seite, damit ich ihm über den Rücken streichen kann, der erst langsam weich wird und dann anfängt, zu zittern.