9. Kapitel

Auf dem Weg zu meiner Wohnung versuche ich selbst, so zu laufen, als würde ich auf Schnitzel und Schlagringe stehen. Fede hat mir noch nachgewunken, als ich verschwunden bin, wir kommen gleich nach, sagte er, schreib mal, wenn du alles mit Alex geklärt hast.

Die Raketenhölzer liegen abgebrannt und ausgeflogen vor mir auf der Straße, what a time to be alive, denke ich und sonst nichts.

Auf halber Strecke hole ich das Handy wieder aus der Tasche.

Nach einer halben Minute hebt meine Mutter ab.

Entschuldigung, sage ich, bevor sie etwas sagen kann, habe ich dich geweckt, weil das wollte ich nicht.

Und sie antwortet mir verschlafen, ja, und ich sage, entschuldige, ich wollte dich nicht wecken, und sie sagt, doch, es ist gut, dass du mich weckst, ich bin wohl am Küchentisch eingeschlafen.

Tja dann, sage ich, und nachdem ich es eine weitere Minute rascheln gehört habe und es dann wieder still wird, frage ich, liegst du jetzt im Bett?

Jetzt, ja, sagt meine Mutter, und dann atmen wir eine Weile zusammen ins Telefon. Ich frage mich, ob sie sich nicht manchmal überlebt fühlt, so wie andere sich überarbeitet fühlen. Ja dann, sage ich, und sie sagt auch, ja dann, noch mal danke fürs Wecken.

Klar, sage ich, entschuldige noch mal.

Du musst dich nicht entschuldigen, wiederholt sie, aber warum möchtest du nicht vorbeikommen?

Ich biege in die Straße ein, in der Alex und ich zusammen älter werden wollten, und atme ein paar Mal in den Hörer.

Mama, möchte ich sagen, noch jemand hasst die stille Trauer, das sind nicht nur wir beide. Mama, möchte ich sie fragen, kannst du deine Zwänge überhaupt noch von meinen Zwängen unterscheiden und meine Hand von deiner Hand, und waren unsere Griffe nicht immer ungefähr gleich fest, haben wir uns nicht immer ungefähr gleich stark wehgetan?

Ich kann grade nicht kommen, sage ich, ich fange gerade eine neue Beziehung an, es ist grad mega kompliziert.

Mama, frage ich, nachdem sie eine Weile lang geschwiegen hat.

Ist doch gut, sagt sie dann langsam, ich habe auch jemanden kennengelernt.

Du, frage ich, jemanden?

Genau, sagt sie, erzähl ich dir dann mal, wenn du kommst. Oder ich, fügt sie hinzu.

Okay, sage ich, freut mich.

Mich auch, sagt sie, ich schlaf mal weiter, liebe Grüße an Fede.

Ganz liebe Grüße zurück, sage ich, und in dem Moment sehe ich Elin und Alex schon von Weitem, nicht weil sie so auffällig sind, sondern weil sie in der treibenden Masse besonders still stehen können.

Ganz stumm warten Elin und Alex mich ab, ohne die Arme zu heben und ohne mir entgegenzukommen, nebeneinander, als hätte Alex sich plötzlich verdoppelt, als gäbe es jetzt endlich jemanden, der die Dinge einfach mit ihm ausharrt und annimmt, statt sie immer zu überstürzen.

Hey, sage ich sofort und lauter als nötig, weil trotz der Bewunderung, die ich für die beiden empfinde, doch noch der Drang da ist, ihr Schweigen zu zerschlagen.

Hast du die Schlüssel dabei, Alex, frage ich hastig, ich glaube, sie feiern immer noch.

Möglich, antwortet Alex und nickt mit seinem schmalen Kinn in den vierten Stock, in dem drei Hände gleichzeitig aus dem Fenster aschen.

Gesichter sind keine zu erkennen, nur einige Köpfe, drei Arme und im Hintergrund unsere vibrierende Deckenlampe und drei Neonlichter, die abwechselnd orange, rot und grün flackern.

Ich kenne die auch nicht, verteidige ich mich, und Alex zieht einmal die Nase hoch, weißt du, meint er, das macht es jetzt irgendwie nicht besser.

Es ist so, hole ich aus und trete mit der Schuhspitze ein bisschen Streusalz in den Beton, aber weil eine Wohnung kein Kindergartenkind ist, von dem ich behaupten könnte, es wäre gerade in der Trotzphase, weiß ich auch nicht mehr, was ich dem noch hinzufügen könnte.

Wir können jetzt ja mal hoch und deine Sachen holen, sage ich schließlich, also, wenn da noch welche sind.

Ich bleibe hier, sagt Elin, wenn ich was runtertragen soll, sag Bescheid.

Im Treppenhaus schweigen wir, während Alex in seiner Wetterjacke jetzt wieder zwei Stufen auf einmal nimmt, wie bei unserem Jahrestag, nur dass da jetzt feine Schlammspritzer auf dem wasserabweisenden Stoff sind, die ich nicht wegwischen kann.

Oben angekommen, wummert uns der Bass schon im Treppenhaus entgegen. Ich werfe vorsichtig einen Blick auf die Haustür gegenüber, aber hinter der ist nichts zu hören.

Alex und ich kennen unseren Nachbarn nicht sonderlich gut, in eineinhalb Jahren haben wir uns nur zwei Mal im Flur gegrüßt, dabei dachte ich am Anfang, wir würden so eine gute Nachbarschaft pflegen und uns ab und zu Gebäck rüberbringen, weil der Mann von nebenan uns zum Einzug zwei Pizzen rübergebracht hatte. Brot und Salz kann doch nichts erhalten, hat er gesagt, und an Gott glaube ich sowieso nicht.

Der ist super, hatte Alex zu mir gesagt, und ich hatte das erwidert, ja, der ist wirklich super, aber das nächste Mal hatte ich ihn erst ein halbes Jahr später wiedergesehen, und da hatte er uns nur von Weitem zugewunken.

Der ist vielleicht gar nicht da heute, sage ich.

Hoffentlich nicht, erwidert Alex und schaut, genau wie ich, etwas länger als nötig auf seine statt auf unsere Haustür.

Also, räuspere ich mich und wische mir die Hände noch einmal an den Hosenbeinen ab, dann mal rein.

Als nach dem dritten Klopfen niemand öffnet, werde ich unruhig, und auch Alex neben mir möchte am liebsten wieder nervös auf seine Fransen treten, die nicht mehr existieren.

Sag mal, fragt er leise, wem hast du denn die Schlüssel gegeben.

David heißt er, sage ich klopfend, glaube ich jedenfalls. Glaubst du, fragt Alex, also kennst du ihn gar nicht.

Nicht wirklich, sage ich, aber das machen Leute doch die ganze Zeit, ihre Wohnungen an Fremde vermieten.

Aber nicht kostenlos, erwidert Alex.

Wer sagt denn, dass das hier kostenlos ist, meine ich gereizt. Ich lüge nicht, so, wie sich das drinnen anhört, zahle ich vermutlich drauf.

Jetzt, denke ich, ist die Chance, Alex um Verzeihung zu bitten oder ihn zumindest zu fragen, ob er sich an das Fangspiel aus unserer Kindheit erinnert, bei dem es kein anderes Ziel gab, als den anderen möglichst schnell und stark mit beiden Armen einzuklammern.

Ob er sich daran erinnert, dass ich ihm dabei einmal aus Versehen in den Bauch geschlagen habe und er sich sofort übergeben musste, ob er sich daran erinnert, dass sie am selben Tag beim Abendessen im Radio einen Vergewaltiger suchten, der einen Schriftzug auf den Oberarm tätowiert hatte, LOVE IS PAIN.

In dem Moment öffnet sich die Tür.

Hey, sagt David strahlend, ich bin David. Er schüttelt Alex’ Hand und nimmt sie dabei in beide Hände, so wie Samir das tut, und möchte dann bei mir weitermachen, muss dann lachen, küsst mich auf die Wange und sagt, ach, du bist es, kommt rein, ich habe euch gar nicht gehört.

Den ganzen Hinweg lang hatte ich mich nicht an Davids Gesicht erinnern können. Heute Nacht sieht er aus wie ein kerniger Bootsbauer, einer, dem ich, mit ein paar Extraleben, die Arche Noah zugetraut hätte.

Hallo David, sage ich, während ich seinen Blick erst suche und ihm dann ausweiche, das ist unsere Wohnung.

Deine, sagt Alex neben mir, während er über Davids Schulter einen Blick ins Wohnzimmer wirft, jetzt bist du endlich dazu gekommen, die Kartons auszuräumen.

Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um seinem Blick folgen zu können, und tatsächlich stehen da neben einer Traube Menschen auch die leeren Umzugskartons und ein IKEA-Regal an der Wand, das heute Morgen noch nicht dastand.

Das hat die Samira gemacht, sagt David, der unserem Blick gefolgt ist, ich bin handwerklich nicht so begabt.

Was fällt dir ein, unsere Wohnung aufzuräumen, sage ich.

Das ist ihre, sagt Alex, ich will nur meine Sachen.

Obwohl die Musik ohrenbetäubend laut ist, sieht es tatsächlich ordentlich aus, trotz der vielen Menschen, die das Wohnzimmer und die Küchennische besetzen, die auf den Sofalehnen und Küchenstühlen hocken. Bis auf einige Frauen, die auf dem Teppich zu der psychedelischer Musik tanzen, bewegen sich alle auf diesen sechzig Quadratmetern langsam und träge wie eingedickter Pudding, der nur noch ab und zu auf der Herdplatte Blasen schlägt.

Die Frauen sehen aus, als würden ihre Männer seit acht Monaten nicht mehr mit ihnen schlafen und stattdessen ständig über ihre neuen Teslas reden, aber auch, als hätten sie jetzt einen Ort gefunden, um sich den Vaginismus aus der Seele zu schreien, oder so ähnlich.

Während ich neben David stehe, versuche ich, mich an sein Gewicht zu erinnern oder an seine Hände, sogar an seinen Gesichtsausdruck, der heute ganz sanftmütig und erleuchtet aussieht, ob er mich nicht mehr gewollt haben muss, wo waren die Mundwinkel, die entscheiden, ob man jemanden noch mit hochnimmt oder nicht.

David und ich halten den Blickkontakt, für einen Moment sieht er aus wie das Medienmädchen, woher kamen die plötzlich alle, die Anfangdreißiger in ihrer Mitte, wann hatten die sich denn selbst gefunden und mit ihrem inneren Kind versöhnt.

Und, fragt David in meine Richtung und legt mir sanft eine große Hand auf die Schulter, geht es dir besser?

Ich nicke bloß, weil ich jetzt wieder sicher weiß, dass wir gestern nicht miteinander geschlafen haben, dass ich David nur mit nach oben genommen und gesagt habe, kannst du dich bitte auf diese Seite legen, ich muss morgen früh raus, du siehst aus wie jemand, der einfach keinen Stress macht.

Ich weiß, dass David noch gefragt hat, ob ich etwas brauche, eine Fussmassage vielleicht, und da wusste ich schon, das ist jemand, der niemals ein Liebesschloss an einer Brücke anbringen würde, höchstens an einem Baustellengeländer, und mit mindestens drei oder vier Namen darauf.

Ich spüre, wie Alex neben mir David noch einmal von oben bis unten mustert, mehr als sonst spüre ich seine Präsenz neben mir, Alex wird eigentlich immer von Dingen umgeben, die versichern, dass er mit im Raum ist, ohne dass er sich zur Bestätigung noch sonderlich anstrengen muss.

Setzt euch doch noch eine Weile dazu, sagt David mit einer einladenden Handbewegung, ich hole dir schon mal eure Schlüssel.

Davids Gäste sind vielleicht im ersten Arbeitsjahr oder in der Promotion, sie lächeln uns an oder rauchen am Fenster oder tanzen selbstvergessen vor sich hin.

Während David im Jackenhaufen auf dem Sofa gräbt, schüttelt Alex neben mir den Kopf, ich kann mir immer noch nicht ganz erklären, warum du ihm einfach deine Schlüssel geschenkt hast.

Ich habe sie ihm nicht geschenkt, sage ich. Bist du dir sicher, fragt Alex zurück, ich will nicht wissen, ob du es ernst meinst, sagt er, ich will nur wissen, ob du dir wirklich glauben kannst.

Ich habe ihn nur nicht davon abgehalten, sie zu benutzen, murmle ich, aber das zu sagen fühlt sich falsch an in dem Moment, in dem ich es ausspreche.

Ich beobachte David, der lächelnd einen Schlüssel hochhält, den er gerade as der untersten Jacke hervorgezogen hat, ich glaube, David meint wirklich nichts davon böse, er ist nicht mal hinterhältig, er ist einfach ein Typ, der gut darin ist, seine Chancen zu nutzen, wenn sie sich ihm bieten.

Bevor er zu uns kommt, überwinde ich mich, hole einmal tief Luft und sehe Alex an, der traurig neben mir steht, es tut mir leid, sage ich, ich habe das heute verbockt, und du und Elin, ihr hattet sicher auch was Besseres vor heute Abend.

Alex reagiert nicht gleich, dann lächelt er in den Satz hinein und hebt eine Hand, um sie für einen Augenblick auf meine Schulter zu legen, Alex’ Lächeln ist dasselbe, aber sein Waschmittel ist jetzt ein anderes.

Ich spüre seinen Blick auf mir, der bleibt, bis ich sage, mir ging’s nicht so gut die letzten Wochen, aber das wird schon wieder. Alex erwidert nichts Spitzfindiges mehr, er atmet nur einmal ganz lange aus und dann noch mal, bis er ein Lächeln andeutet, seine Hand von meiner Schulter nimmt und sagt, okay, dann packe ich es jetzt mal.

Ein paar der Leute grüßen uns nickend oder heben eine Hand, als wir weiter ins Wohnzimmer treten.

David steht wieder neben uns und strahlt mich zuversichtlich an, das sind alles herzensgute Menschen hier, sagt er, wir sind alle Yogalehrer und Yogalehrerinnen. Und die Wohnung, ergänzt er und faltet dabei die Hände vor der Brust, ist wunderschön.

Als Alex sagt, das ist sie wirklich und dabei etwas Bedauern in seiner Stimme mitschwingt, wird mir klar, dass wir zum letzten Mal zusammengewohnt haben.

Was ist, fragt David, und ich sage, sie ist wunderschön. Hier ist die Küche, sage ich und deute links von mir auf die Küche, da ist das Wohnzimmer, ich zeige geradeaus, und rechts ist das Schlafzimmer, und das Bad ist gleich daneben.

Ich weiß, lächelt David, habe ich schon rausgefunden. Dann deutet er noch einmal auf die Küche, es gibt sogar noch ein paar Brownies, aber teilt euch am besten erst mal einen und wartet dann ein bisschen ab.

Nein, danke, sagen Alex und ich gleichzeitig, und ich ergänze noch, vielleicht später, und dann schauen wir in die gleiche Richtung, und ich frage, willst du, oder soll ich.

Du musst, sagt Alex, ist deine Party.

Ich gehe die paar Schritte auf die Schlafzimmertür zu und stoße sie vorsichtig auf, aber David schüttelt nur gekränkt den Kopf und ruft uns zu, da habe ich niemanden reingelassen, ich bin doch kein Assi.

Im Schlafzimmer geht Alex zielstrebig auf seinen Kleiderschrank zu, zieht eine Sporttasche aus dem untersten Fach und beginnt langsam, den Raum nach seinen Gegenständen zu inspizieren.

Ich helfe dir, sage ich, aber bleibe dann stehen, weil ich nicht weiß, ob es jetzt tatsächlich Sinn macht, die Reißzwecken von der Wand abzupinnen, um ihn sein Attack of the 50 Ft Woman-Poster einzurollen.

Wie stellst du dir denn das vor, frage ich und deute auf die Tasche, die ich noch aus dem Sportunterricht in der zehnten kenne, da kriegst du doch gar nicht alles rein.

Lass nur, sagt Alex, ich mach schon.

Er nimmt von allem nur etwas mit, seine Lieblingsshirts und seine Lieblingsbücher, seine Bürste und seinen Föhn, seine Videospiele und seine Badehose, und dann ist er schon fertig mit dem Schlafzimmer, bevor er überhaupt zum Nachttisch gekommen ist. Siehst du, sagt er dann, das Wichtigste ist drin.

Für einen Moment bleibt er stehen, worauf ich gehofft habe, und sieht sich um wie jemand, der gerade aus einem Traum aufwacht. Sobald er nur einmal stehen bleibt, habe ich gedacht, müsste er sofort auf die Knie fallen, um einfach zu sagen, sieben Jahre, sieben Jahre, sieben Jahre.

Nichts davon passiert, er drückt bloß die Tür auf und geht zurück ins Wohnzimmer und grüßt die anderen mit einem Nicken und räumt die wenigen Bilder aus dem Regal, packt das kitschige Kreuz ein, das über der Spüle hängt, und oben auf die Sporttasche seine Müslischale.

So, sagt er, fertig.

Wie, fertig, frage ich, wütend darüber, dass ich nicht nur mit meinen Sachen zurückbleibe, sondern auch mit denen, die ihm einfach nicht wichtig genug sind, um sie einzupacken, aber was habe ich erwartet, wenn man derjenige ist, der erst geht, und dann derjenige, der nicht zurückgelassen werden will.

Was ist mit der Pfeffermühle, frage ich und zeige zum Esstisch.

Kannst du behalten, sagt er.

Ich will sie aber nicht, du wolltest die klauen.

Stimmt nicht, sagt Alex, das war deine Idee gewesen, jetzt behalt sie doch. Oder, sagt er, verschenk sie.

Alex sieht sich noch einmal um im Wohnzimmer, in dem ich mich auf den Teppich geworfen habe, in dem die Stunden, Tage, Monate wie Wandfarbe verstrichen sind, Tapete über Tapete, die jetzt mühsam abgekratzt werden wollen, in dem ich ihm gesagt habe, ich spüre gar nichts mehr. Ich sehe aus dem Fenster, und draußen steht Elin ganz still, und dahinter geht es Richtung Naschmarkt. Als er wegschaut, schiebe ich ihm meine Steine in die Tasche und vergrabe sie unter dem Shirt mit dem Halbmarathonaufdruck von 2011.

Und du bleibst jetzt hier bei deinen neuen Freunden, fragt Alex, und beinahe möchte ich verneinen, um als gescholtener Familienhund bei Alex und Elin einziehen zu dürfen.

Keine Ahnung, sage ich, ja.

Okay, sagt Alex.

Okay, sage ich. Und dann winkt er noch einmal.

Ich sehe ihm aus dem Wohnzimmerfenster nach, wie er meine Steine ins Treppenhaus trägt, zwischen den Hauswänden verschwindet, hin zu einer Wohnung mit einem anderen Grundriss.

Hinter mir steht David.

Das vergesse ich immer, dass dann doch meistens jemand da ist. Der fängt einen nicht auf, aber reicht einem zumindest eine Zigarette rüber oder teilt einem die Uhrzeit mit oder lächelt ganz kurz und sagt, dir auch einen schönen Tag.

Geht es dir denn gut, fragt David, du sahst heute Morgen irgendwie gestresst aus. Er fragt das mit sorgenvollem Blick und berührt mich dabei nicht. Er trägt eine schwarze Stoffhose, die teuer genug ist, um zu jedem Anlass passend auszusehen.

Was steht denn grade auf deiner Bedürfnisliste ganz oben, fragt er und schaut auf die Uhr, ich persönlich habe das Gefühl, ich würde gerne noch mal Liebe ins Wohnzimmer lassen, das bietet sich doch an.

Liebe ins Wohnzimmer lassen, wiederhole ich.

Ja, sagt David, ich habe dir heute Morgen von dem Ritual erzählt. Er nickt zu den Sofakissen und den Frauen, die auf der frisch geborene Tanzfläche Bauch an Bauch tanzen. Ah, ja, sage ich, und erinnere mich halb an etwas, das er über Berührung erzählt hat und über den Fluss der Liebe. Ich weiß noch, dass ich dachte, ihm ist das wirklich wichtig mit dem Weltfrieden, ich würde auch gerne für die Menschheit einstehen, aber ich unterschreibe noch nicht mal online Petitionen, weil ich keine Lust habe auf die Spam-Emails.

Passt schon, sage ich, obwohl ich noch mehr sagen möchte, woran liegt es, dass ich eigentlich gar keinen Sugardaddy, sondern einen Beichtvater brauche?

Bevor alles hochkommt, entschuldige ich mich mit einer flüchtigen Handbewegung ins Badezimmer.

Zum ersten Mal seit zwei Jahren erinnern mich Alex und mein Bad an so ein Bad, das man im Club betritt und in dem man sich sofort mit dem Zeigefinger die Wimperntusche von den Augenringen wischt.

Irgendjemand hat meine Lippenstifte ausprobiert, aber sie zumindest wieder in das Bambuskörbchen gelegt, ich wundere mich über mich selbst, über mein Vertrauen David gegenüber, das zwar verzweifelt, aber gerechtfertigt war.

Als ich wieder ins Wohnzimmer komme, nehmen mich die Frauen sofort in ihren selbstlosen Tanz auf, sie bewegen sich dynamisch und bewusst, als wäre ihr Körper nie ein Hindernis gewesen, sondern ein Ort, in den sie sich zurückziehen, um Kraft zu sammeln.

Es ist wirklich total angenehm hier, sage ich zu David und finde es wirklich total angenehm, im Gegensatz zu ihnen kommen mir meine Leute aufgekratzt und verwundet vor. Ich tanze mit den Frauen, bis meine Knie schmerzen, und fühle mich selbstsicher, weil mir die Dinge, die Alex aus der Wohnung mitgenommen hat, nicht fehlen, überhaupt fehlt mir wenig, weder meine Gegenstände noch die, die nicht mehr Alex’ Gegenstände sind, ich nehme seine Tennisbälle und seine Duftkerzen, seine Weingläser und seine Ein-Euro-Kakteen von der Fensterbank und drücke sie den Frauen in die Hand, und weil so Frauen es gewöhnt sind, alles Mögliche achtsam in die Hand gedrückt zu bekommen, Redestäbe, Sprachmuscheln und Pfauenfedern, verweigert sich niemand, und drei verneigen sich vor mir.

Der wird dich begleiten, sage ich und schenke auch David einen Tennisball. Hier, sage ich, für dich, weil ihr so nett seid, und er nickt und sagt, du kannst gerne auch zu uns kommen, dienstags, donnerstags und sonntags haben wir die Kurse für Anfänger und Anfängerinnen.

Alles klar, sage ich und bekomme tatsächlich Lust, mich schon wieder als Teil von etwas zu fühlen, als Teil einer Beziehung, als Teil einer Gemeinschaft, für die ich besonders wichtig werde, weil ich den besten Kartoffelsalat oder wenig Stress nach dem Sex mache.

Ich ziehe mich etwas aus dem Wohnzimmer zurück und lehne mich an den Kühlschrank, um die anderen von dort aus zu beobachten. Die Leute hier stellen sich auch zu Hause ein Kerzenlicht auf ein orangefarbenes Seidentuch, einfach, weil sie es können, mit ihren Sonnengrüßen und den Herzen ohne Paywall.

Eine sehr dünne Frau schiebt sich an mir vorbei zum Backblech, ein dicker Bergkristall hängt ihr an einer Lederkette in den Ausschnitt, und der Bund ihrer Leinenhose schnürt sich um ihre Hüfte wie der Schwarzgurt der Achtsamkeit. Machst du auch gleich mit, fragt sie und nickt zum Wohnzimmer.

Beim Liebe-Reinlassen, frage ich.

Genau, sagt sie, in zehn Minuten oder so. Sie sieht aus dem Fenster, ohne meine Antwort abzuwarten, und hat Tränen in den Augen, als sie sagt, ich spüre da einen Abschied in meiner Brust, der ist gar nicht meiner.

Ach, sage ich.

Ja, sagt sie, während sie zwei Brownies auf einmal in die Hand nimmt und abwechselnd links und rechts davon abbeißt, das Schlimmste am Abschied, weißt du, was das Schlimmste ist?

Und ich sage, die Reste im Kühlschrank, die noch sehr lange haltbar sind.

Und sie sagt, nein, ich finde, das Schlimmste ist das verschlossene Wurzelchakra.

Eine Weile schweigen wir, sie kauend, ich müde, sie hat in ihrem Beckenboden die Wahrheit gefunden, und ich suche immer noch überall nach einer Objektivität. Gerne hätte ich mal einen Satz in Anführungszeichen, der deutlich macht, was außen stattfindet, bevor es innen ankommt. Nie weiß ich, was in der Welt ist, ohne dass ich etwas dazudenke, in Wirklichkeit bin ich gar nicht auf der Suche nach einem festen Partner, sondern nach einem zuverlässigen Erzähler.

Ich komme ja eigentlich aus der Mitte Deutschlands, sagt die Frau plötzlich, und ich nicke, ohne zu sagen, wo ich herkomme. Man muss aufpassen mit solchen Sätzen, irgendjemand sagt sonst immer, wie klein die Welt doch ist. Die Chakrafrau leckt sich die letzten Krümel von den Fingerspitzen, so viel habe ich die ganze letzte Woche nicht gegessen, ruft sie mir glücklich zu, wankt ins Wohnzimmer und setzt sich dann mit dem Po auf unseren Küchentisch, so selbstverständlich, wie ich es nicht getan habe, nicht mal, als Alex und ich ihn nach unserem Umzug einweihen wollten.

Plötzlich fallen mir all die Dinge auf, die eigentlich mir zustehen, mein Handy, das ungeklaut auf dem Esstisch liegt, und die dunklen Flecken im Holz, auf dem schon Jaras Auflauf stand, die Farbe, die Alex und ich an die Wand gestrichen haben, und der Boden, den ich gewischt habe, nicht oft, aber manchmal, der kleine Balkon, auf dem Jara und ich saßen, und das Bett, in dem wir gefickt und geschlafen haben, und die Badewanne.

Du bist jetzt ja ein bisschen früher zurückgekommen, als erwartet, sagt David und stellt sich mit einem frisch gebrühten Tee zu mir in die Küchentür. Er bleibt ganz bei sich, während er das sagt, er versucht nicht mal, den Satz schnell weiterzuführen. Stattdessen atmet er zweimal ganz bewusst durch und lächelt.

Also, Anna, sagt David dann, als er lang genug geschwiegen hat, mehr muss er gar nicht sagen, seine Handfläche lädt mich ein, und sein Zeigefinger deutet auf das Wohnzimmer und auf die Gruppe dort, die sich gut kennt und kein Problem hat mit Nähe. Also, sagt er, Sexualität ist ja auch Lebensenergie.

Ja, voll, sage ich, meine auch, es gab noch nie eine Zeit, in der ich nicht darauf gewartet habe, dass ein Mann mir antwortet.

Wirklich, fragt er, ich meine, gestern fandest du es spannend, aber heute nicht sagt er, sondern nur Er mustert mich kritisch mustert mich kritisch, sag mal, wie viel habt ihr denn getrunken?

Nicht so viel, glaube ich, und höre in mich rein, aber drinnen schwankt es nur.

Okay, sagt David, wenn du magst, führe ich dir mal aus, was ich mir gedacht habe für heute Abend. Er streicht sich durch die Haare und sieht wieder zu dem Kreis, den er sich eingeladen hat. Da sind sicher auch Ex-Freundinnen dabei, aber von denen muss jetzt niemand irgendwelche Steine auskippen, die verstehen sich alle noch super und können ab und zu miteinander schlafen und sagen dann, sie hatten ein schönes Wochenende gehabt.

Ne, sage ich, schon verstanden, macht doch, ich bin da offen, und das Bett ist frisch bezogen, oder zumindest noch okay.

Wir brauchen kein Bett, horch mal in dich rein, ob das wirklich okay ist.

Ne, sag ich, wir sind alle voll offen, wir sind da poly.

Okay, sagt David, dann hast du schon Erfahrung mit Tantra?

Warte, sage ich, ein Freund ruft gerade an, dem wird das gefallen.

Wir sind fertig geworden, brüllt Fede euphorisch in die Leitung, wir sind in zehn Minuten da. In dem Moment klingelt es an der Haustür.

Soll ich sie öffnen, fragt David lautlos, und ich nicke.

Super, sage ich in den Hörer zu Fede, komm hoch, und bring Samir mit, ich glaube, David wäre genau sein Typ.

Als David die Tür aufzieht, werden ihm erst mal Jara und Lukas in den Flur gespült. Jara zieht noch im Gehen ihre Schuhe aus und lässt ihre Armreife auf den Küchentisch fallen, sie schüttelt ihre Haare aus und wirft zwei Wollpullover hinterher, mein Gott, sagt sie, was ist das denn für eine Sauna.

Hier tanzen ein paar Yogalehrer, sage ich und schlittere ihnen entgegen, Yogalehrer und Yogalehrerinnen.

Lukas klebt blass im Türrahmen. Jara sieht sich in der Wohnung um und meint dann schulterzuckend, dafür sieht sie aber noch ganz okay aus.

Finde ich auch, sage ich, und das Regal haben sie auch aufgestellt, wo warst du, und warum bist du vorhin einfach weggerannt?

Eigentlich sind wir Tantramasseure, sagt David und verneigt sich höflich, Tantramasseure und Tantramasseurinnen.

Erkläre ich dir gleich, sagt Jara und winkt David fahrig zu, ich bring ihn mal zur Toilette, ich glaube, der muss sich übergeben.

Ich denke an die abgebrochenen Nachrichten, die ich ihr nie gesendet habe, weil ich Angst hatte, das Ende könnte ein schlechtes Licht auf mich werfen, aber Jara wirkt so, als würde ihr gerade ein Anfang passieren.

Wir haben uns gerade innerlich getrennt, ruft sie mir über die Schulter hinweg zu, während sie Lukas ins Badezimmer führt, aber erst mal nur bis übermorgen.

Ist alles okay, fragt David.

Ich nicke und fühle mich dicht und gut, betrunken und ganz leise, in mir ist kein Widerhaken. So fühlen sich vielleicht Yogalehrer die ganze Zeit, denke ich, nur irgendwie auf nachhaltigere Weise und ohne dafür zwei Liter Wein trinken zu müssen. Ich nicke, wir müssen mal kurz die Musik noch lauter drehen.

Ich glaube, sagt David, ich mache deinem Freund mal einen Tee.

Kurz darauf wankt Jara wieder mit Lukas aus dem Badezimmer und sucht sich einen Weg durch die kleine Tanzfläche, damit Lukas auf unserem Sperrmüllsofa die Beine hochlegen kann.

Es gibt schöne Wandbehänge aus Indien, ruft David mir im Vorbeigehen auf dem Weg zu Jara zu, die eignen sich auch super als Überzug.

Ich laufe mit ausgestreckten Händen auf Jara zu, während sie Lukas den Kopf streichelt.

Was soll das, frage ich, warum bist du jetzt hier, wir sollten erst mal reden.

Ich hab dich angelogen, sagt Jara, und das war scheiße.

Ja, sage ich.

Ich hab mich nicht getraut, dir zu sagen, wie es wirklich war. Sie zuckt die Schultern. Ich setze mich vor sie auf den Teppich und mustere Jara von oben bis unten, ohne Ringe und Schmuck sind ihre Finger nicht mehr magisch, nur noch schön lackiert in einem hellen Türkis.

Sie streicht Lukas damit durch den lichten Schopf, auf seiner Stirn stehen Schweißperlen, aber er atmet ruhig und gleichmäßig. Etwas an seinem Anblick macht mich nervös, sein blasser Hals, den Jara sich, ohne nachzudenken, über den Oberschenkel gelegt hat, in der Annahme, dass das Schlimmste schon vorüber ist.

Das Bienentier hängt ihm aus der Hosentasche, Jara zieht es heraus und stellt es neben sich auf die Lehne. Dann greift sie doch noch einmal zu und klopft dem Bienentier auf den gestreiften Rücken, so wie ein Kriegsveteran seinem Vierjährigen auf den Rücken klopft, wenn er aus ihm einen Mann machen möchte.

Und, frage ich und versuche, Lukas dabei nicht anzusehen, wo hast du deine Steine jetzt?

Jaras Wangen werden vom Licht im Wohnzimmer abwechselnd rot, orange und blau beschienen, hm, fragt sie, welche?

Die von Lukas, antworte ich.

Ach so, sagt sie, weggeschmissen, kurz vor Mitternacht.

Was, frage ich, ernsthaft?

Ja, in die Donau, lächelt sie in Rot, Blau, Grün.

Krass, sage ich.

Jeder macht mal Fehler, sie streichelt Lukas’ Stirn und legt ein Bein hoch auf die Couch.

Im Treppenhaus kommen mir Samir und Fede entgegen. Sie nehmen die abgetretenen Stufen synchron, Fede ein bisschen schneller als sonst und Samir langsamer, weil er die linke Hand tief in einer Sweatshirtjacke vergraben hat.

Als ich ihn nach seinen Schmerzen frage, stellt er sich so hin, dass ich seinen Arm nicht mehr sehen kann, und sagt, gut geht’s mir, keine Sorge.

Ich kann dir auch helfen, sagt er dann und deutet auf die drei schweren Umzugskartons, auf denen zu verschenken steht.

Das schaff ich alleine, sage ich und sehe an der braunen Pappe vorbei auf ihre strahlenden Gesichter, die sich den ganzen Weg über einig waren, geht ihr schon mal rein.

Was ist das denn für Musik, fragt Samir irritiert. Nicht mal er hat schon genug Herzöffnungen gemacht, um die psychedelischen Vibes genießen zu können.

Nicht meine, sage ich.

Ich nicke hin zur offenen Wohnungstür, drinnen ist ein Mann, der euch gefallen wird, er sieht aus wie der gute Bruder von Räuber Hotzenplotz und kann auch ganz im Moment leben.

Cool, sagt Fede, winkt mit seinem Handy und zwinkert mir zu, Mark sagt liebe Grüße. Danke, sage ich, und drücke mich an ihnen vorbei ins Treppenhaus, meine Mutter auch.

Als ich zurückkomme, tanzen im Wohnzimmer immer noch die anderen. Nicht so wie im Orange, sondern mit schlackernden Gliedern und weiten Gesten, die niemand anderen vom eigenen Körper überzeugen wollen. David klatscht einmal kurz in die Hände und stellt sich im hüftbreiten Stand auf den Teppich. Fede und Samir sind zu Jara und Lukas auf die Couch gerutscht, und ich fläze mich zwischen die beiden.

Samir zuckt zusammen und schiebt seinen Arm zur Seite. Nicht da drauf, sagt er und betrachtet den Arm verwundert, eine große Brandblase hat sich inzwischen dort gebildet, wo Maries Böller ihn geschrammt hat, halb gefüllt mit Flüssigkeit.

Ich verletz mich nie, sagt Samir, eigentlich. Er lockert und streckt seine Finger vorsichtig.

Ihr Lieben, sagt David, ich würde jetzt gerne beginnen, habt ihr schon euren Partner beziehungsweise eure Partnerin? Wenn sich das für euch stimmig anfühlt, dann würde ich da jetzt gerne den Raum für halten.

Den Raum für was, flüstert Fede.

Keine Ahnung, sage ich, ich dachte, das wird einfach eine Orgie.

Wir wollen das Jahr gleich sexuell beginnen, sagt David, weil Sexualität auch Lebensenergie ist.

Okay, sagt Fede und tippt aufgeregt auf sein Handy, das heißt, wir haben eine Orgie?

Ja, sage ich und nicke vage. In gewisser Weise finde ich das konsequent, das Jahr gleich mit großen, groben Begriffen zu beginnen, so wie ich versucht habe, es zu beenden.

Jetzt atmet mal in eure Mitte, sagt David und strahlt einmal achtsam in die Runde.

Das ist so jemand, flüstert Fede und deutet zu David, der erlebt nichts, der erliebt alles.

Ich schließe die Augen, aber atme immer zu nahe am Rand, egal, wo ich mich in mir befinde, ich hangle mich an ihm entlang und wechsle immer nur die Bereiche, Schwimmer- oder Nichtschwimmerbecken.

Okay, sage ich und beobachte die anderen Tantramasseurinnen, die gar nicht anfangen, aneinander rumzufummeln, sondern alle nur sanft in ihre Eierstöcke atmen, ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann.

Was, flüstert Fede, du musst gar nichts.

Ich weiß, dass ich gar nichts muss, sage ich. Aber ich weiß auch, dass das so ein Satz ist, der schon immer egal war. Warum ist Marie nicht hier, frage ich, die sollte so was mal machen, ich bin doch schon mega offen.

Marie ist auf der Polizeistation, sie ist da grade freiwillig hingegangen. Samir hält den Blick auf David gerichtet, während er das sagt, und beobachtet dann die anderen Pärchen dabei, wie sie sich langsam einander zuwenden und sich im Schneidersitz an den Händen fassen.

Ich halte in meiner Bewegung inne und drücke meine Hände in ein Sofakissen, sollen wir zu ihr?

Samir schweigt einen Augenblick und schiebt das Kinn dabei vor. Nicht nötig, sagt er dann, sagt sie zumindest, sie meinte, sie wird das alleine klären.

Ich stelle mir vor, wie Marie mit ihren Händen die Polizei einrahmt und zum ersten Mal nicht nach ihrem Bruder Ausschau hält. Wie leer das Haus sein wird, wenn ihr Vater seinen Koffer im Wohnzimmer abstellt und sagt, was ist denn hier passiert, der schöne Boden! Und Marie kellnert dann gerade in einem tschechischen Hotel, verliebt sich in einen Geigenspieler der Prager Philharmonie, pulvert sich durch die Orchesternächte und scheißt auf Germanistik.

Ich streiche mir müde und langsam übers Gesicht, so wie eine werdende Mutter sich mit einer Hand über den Bauch fährt.

Wenn ihr euch gegenübersitzt, beginnt David, könnt ihr euren Partner oder eure Partnerin gerne einladen, sich jetzt einfach mal zu entspannen. Ich spüre Jaras Blick auf mir und sehe, wie sie Lukas übers Haar streichelt. Dann blicken wir beide gespannt zu den anderen Paaren, die sich jetzt neben uns auf dem Sofa und unter uns auf dem Teppich langsam ausbreiten und sich achtsam ausziehen, ihre Kleider danach sogar sorgsam neben sich stapeln.

Ich habe mir das anders vorgestellt, flüstert Samir. Fede neben mir ist verstummt, er betrachtet die Körper, die plötzlich sichtbar werden und doch unaufdringlich bleiben. David steht ein paar Meter von uns entfernt und meidet uns, ich spüre deutlich, wie er uns Raum lassen möchte, um zu entscheiden, ob wir das wirklich wollen.

Warum gibt es immer einen in der Mitte, der es gut mit einem meint, und warum gibt es dann meine Angst vor allem, was kommt, immer noch, nicht anders als vor acht Stunden? Wann ist diese Nacht vorbei, denke ich, und endlich wieder irgendein Dienstagvormittag im Februar?

Ich mach das nicht, sagt Fede, ich glaub, das geht gleich eher um Berührung. Er steckt sich sein T-Shirt in die Hose, dafür bin ich zu betrunken.

Samir neben uns schweigt und starrt auf seine Hände, ich sehe zu David, den ich unterschätzt habe. Er hebt keinen Zeigefinger, um etwas zu erklären. Er bleibt nur in der Mitte und hält den Raum für alle, die jetzt langsam atmen. Doch, sage ich, ich mach’s, und streife mir mein Shirt über den Kopf, wo soll ich mich hinlegen.

Hier ist noch Platz, sagt Jara und schiebt mir ein Sofakissen unter den Kopf, während ich meinen Oberkörper vorsichtig nach hinten ablege. Ich spüre den rauen Sofastoff unter meiner Haut und sehe zur Decke.

Der Partner oder die Partnerin darf sich jetzt hinlegen und einfach mal spüren, was da so hochkommt, höre ich David sagen, welche Berührung fühlt sich jetzt gut an?

Samir berührt meinen Arm, wie fühlt sich das an, Anna, fragt er vorsichtig, jetzt gerade? Er fährt so sanft über meinen Unterarm, als würde ihn das ehrlich interessieren.

Seinen verletzten Arm lässt er im Schoß ruhen, auch mit ihm ist er geduldiger geworden, fast so, als hätte er sich an das Pochen gewöhnt. Samirs Berührung fühlt sich fürsorglich an. Ich warte, dass mein inneres Kind darauf anspringt, das sich endlich, endlich behütet und gesehen fühlt. Aber innen ist nichts, das innere Kind ist ausgezogen oder spielt irgendwo Playstation mit Kopfhörern im Hinterzimmer.

Gib mir noch eine Minute, sage ich und schiebe Samirs Hand von meinem Arm.

Vielleicht hält euch noch etwas zurück, weshalb ihr euch noch nicht ganz auf die Berührung einlassen könnt, höre ich Davids Stimme von der Raummitte aus sagen, sie klingt weit entfernt.

Fede hat sich neben mich gelegt, ich höre ihn tief und gleichmäßig atmen, so, als wäre er in Wirklichkeit kurz vor dem Einschlafen.

Hier, flüstert Samir schließlich, friemelt seinen Kieselstein aus der Hosentasche und schiebt ihn mir in die Hand, ich hab das ernst gemeint, den möchte ich loswerden.

Der Stein wiegt schwer in meinem Handteller. Ich will den nicht, sage ich, ich habe gerade meine weggegeben.

Lies doch mal, was draufsteht, sagt Samir und schließt seine Hand um meine.

Kann ich euch irgendwie helfen, höre ich die Stimme der Brownie-Frau. Während ich den Kopf in ihre Richtung drehe, kniet sie sich neben uns an die Sofaecke.

Lukas’ Steine liegen hier, sagt Jara und deutet neben sich auf die Lehne, könntest du die mitnehmen, sonst ist er morgen so traurig.

Das sind Sachen, die wir loswerden wollten, sage ich und drücke ihr auch Samirs Stein in die geöffnete Handfläche. Die Brownie-Frau umschließt die Steine sofort, als würde sie sich mit fremden Steinen auskennen, wie sie sich anfühlen, wie schwer sie sind und wie lange man sie tragen kann.

Kein Problem, sagt die Frau. Ich blinzle ihr zu, um uns herum beginnen die Paare sich unter Davids Anweisung zu berühren und zu verharren, mit einer Hand am Brustkorb und einer auf dem Bauch.

Wirklich nicht, frage ich, ich glaube, die sind magisch, Lukas hat da einen Workshop gemacht.

Kein Problem, wiederholt sie.

Sobald sie sich mit den Steinen in der Hand entfernt, beginnt Lukas, erst leise und dann immer lauter zu weinen.

Pssst, sagt Jara neben mir, doch Lukas weint noch lauter.

Ich lache, aber als Samir frustriert seufzt, lenke ich ein, okay, sage ich, probiere es noch mal.

Samir macht es so vorsichtig, so, wie sich ein erstes Mal in Filmen anfühlen muss, in denen der Junge konzentriert das Gesicht des Mädchens im Auge behält.

Als Alex zum ersten Mal mit mir schlief, hatte er mich genau so angesehen, tu ich dir weh, hatte er gefragt, nein, hatte ich gesagt, ich liebe dich, das ist unser erstes Mal, sagte er, und dann musste ich lachen, weil ich an Joni und den Acker dachte, und dann fing ich an, zu weinen, uff, sorry, meinte er, ich geh wieder raus, wir probieren es ein anderes Mal. Nein, sagte ich, du musst nur härter, aber da ging es schon nicht mehr, sein Penis saß klein vor mir, der konnte gar nichts hart, der konnte nur, wenn man ihn davor in die Hand nahm und sagte, ich liebe dich auch.

So, fragt Samir, wie fühlt sich die Berührung für dich an? Sein Finger streicht leicht über meine Ellbeuge.

Gut, sage ich.

Spür mal hin, sagt er, wie möchtest du berührt werden?

Kannst du mich nicht stärker anfassen, frage ich.

Nein, sagt Samir, fühl mal hinein. Sein Finger fährt weiter in Zeitlupe über meinen Bauch, es macht mich nervös.

Lukas wimmert immer lauter neben mir.

Ja super, sage ich schließlich, aber es klingt genau so, wie sie es in den Filmen immer sagen, Ekstase habe ich nirgendwo anders beigebracht bekommen.

Lukas schafft das mit der Hemmungslosigkeit, er presst das tränennasse Gesicht ungeniert in Jaras Bauchnabel, während ich nicht in meinen Körper komme, ich bleibe mit den Gedanken direkt hinter den Augenlidern, die ich zusammengepresst halte und hinter denen ich mir derweil den Raum um uns herum vorstelle.

Ich hab doch noch Schlösser aufgehängt, sage ich und öffne die Augen. Ziemlich viele. Ich starre auf Samirs Brandblase, die langsam zur Landkarte wird und aufzeigt, wo genau hineingeglüht wurde, bevor Marie die Flaschen und Holzstäbe vom Boden aufsammelte, aus denen man, mit etwas Geschick und Seidenpapier, wieder Drachen basteln könnte.

Samir sagt dazu nichts, obwohl er weiß, wie oft ich Heimweh umformuliere. Er fährt einfach weiter in Slow Motion mit der weichen Handfläche über meinen Brustkorb.

Einfach nur wahrnehmen, sagt David von weit weg, nicht werten, nur wahrnehmen.

Auf einmal werde ich sehr müde, ich wünsche mir Zigaretten und einen Balkon, Ruhelage und einen Innenhof.

So, fragt Samir nach einer Weile und bleibt mit seiner Hand auf meiner Bauchmitte liegen, aber ich kann auch aufhören, wenn es dir gar nicht gefällt.

Nein, sage ich, es ist nicht schlimm, ich fühle nur nichts. Lukas wimmert müde, Jara murmelt beruhigende Laute, und Fede neben mir ist mit dem Handy in der Hand eingeschlafen. Was auch immer ihr fühlt oder nicht fühlt, höre ich David sagen, das ist auch in Ordnung, vielleicht ist da gerade eine Erschöpfung. Die darf da sein und auch da bleiben. Ich spüre nicht Samirs Hand, sondern meine Bauchdecke und etwas darunter. Noch ein bisschen zurück, sage ich schließlich, bleib da. Samir bleibt an der Stelle, bis ich anfange, zu weinen, und selbst dann hört er nicht auf.