Schauen Sie sich, wenn Sie können, Helen Franklin an. Es ist früh am Morgen. Sie liegt zusammengekrümmt auf dem Bett und hat das Gesicht der Wand zugekehrt. Seit Rusalka vor ein paar scheinbar endlos langen Tagen den bemalten Mond ansang, hat Helen an Gewicht verloren; unter dem dünnen Nachthemd zeichnen sich die Knochen ihrer Wirbelsäule so deutlich ab wie die Rippen eines Trilobiten. Der Winter ist ungnädig geworden, sie zittert. Albína Horáková ist weiterhin anwesend – in den Spinnen, die in den getrockneten Blumensträußen hocken, in den Spitzendeckchen und den nutzlosen, hässlichen Objekten auf dem Kaminsims. Sie ist präsent im Geruch abgestandenen Weihrauchs, schaler Getränke und verdorbener Lebensmittel. Nachts hört Helen sie über den Teppichboden schlurfen; dann wacht sie auf und erwartet, die alte Frau in der Tür zu sehen, aber da ist nur ihre Gehhilfe, die im Flur schief wie ein Betrunkener an der Wand lehnt. Helen erinnert sich an die Szene – mit himmelwärts gekehrtem Gesicht und herausgeputzt wie eine Braut wurde Albína, einer Herzogin gleich, in einer Sänfte am Prager Opernpublikum vorbeigetragen, das sich peinlich berührt an den feinen Kleidern herumzupfte –, trotzdem hat sie immer noch das Gefühl, die Alte könnte jeden Augenblick mit einem Teller in der Hand hereinkommen. Am Boden neben Helens Bett liegt ein Handy. Manchmal leuchtet das Display auf, ein Läuten ertönt und verstummt wieder; das Gerät wird ignoriert.

Das Zeugnis von Namenlos und seinem Bruder Hassan liegt auf dem Teppich verstreut. Helen hat es dreimal gelesen. Im Traum sieht sie die nassen Jutesäcke am Schwarzmeerstrand. Sie wagt es nicht, sich umzudrehen, bestimmt ist sie nicht allein. Da ist der zitternde Hassan in durchnässter Kleidung. Daneben Namenlos, und auch Josef Hoffmann; sie haben einander viel zu sagen. Freddie Bayer ist auch da, sie ringt um Atem, aber niemand beachtet sie, denn keiner kann ihr helfen. Da ist Rosa, sie sitzt hinter Helen auf dem Bett und lacht auf ihre heisere, wortlose Art über etwas, das Helen nicht gehört hat. An der Wand klebt ein Schatten, Helen wendet die Augen ab. Der Schatten ist dicht und dunkel, manchmal pulsiert er. Helen zieht die Knie an, um sich so klein und unsichtbar wie möglich zu machen.

Sie ist, Sie haben es wohl schon vermutet, ein gebrochener Mensch. Ist das Manuskript der Grund? Oder der Stolperstein, die Völlerei, die unverdienten Annehmlichkeiten? Liegt es an der dunklen Gestalt, die jetzt in diesem Moment, während Helen zitternd auf dem Bett liegt, unten auf dem Gehweg im grellen, kalten Morgenlicht steht und unablässig zum Fenster hinaufsieht? Liegt es an Rosa, hat sie sich womöglich gegen die tödliche Dosis gewehrt, war es am Ende kein Akt der Gnade, sondern ein heimtückisches Verbrechen? Oder ist es Melmoth, ist es immer Melmoth gewesen? Waren ihre glasigen, kalten, sehnsüchtigen Augen keine Erfindung, sondern immer schon auf Helen gerichtet? Oder ist es Arnel Suarez (wahrscheinlich halten Sie auch das für wahrscheinlich), großer Bruder, den sie so lange in einem Verlies versteckt und nun aus dem Gefängnis der Erinnerung freigelassen hat? So viele Hände haben sich am Abbau der Barrikaden beteiligt, hinter denen Helen Franklin sich sicher wähnte, dass es am Ende ein Kinderspiel war, und nun ist Helen der Angst und der Freude gleichermaßen ausgeliefert. Ihr beengtes Leben, ihr nobles Leid, ihre Buße belaufen sich auf nichts. Sie fühlt sich schutzloser als am Tag ihrer Geburt, denn da ist niemand, der sie trösten könnte.

Schon wieder klingelt das lästige Handy. Das blaue Licht des Displays flackert über die Wand. Der Hunger treibt Helen aus dem Bett. Sie hebt den Kopf vom Kissen, und langsam – sehr langsam, wie ein Tier, das einen Angriff erwartet – dreht sie sich um (Rosa schlägt sich die Hände vors Gesicht und rollt zur Seite). Helen steht auf, schwankt, ihr ist schwindlig und übel. Sie stützt sich mit einer Hand an der Wand ab, der Schatten verdunkelt sich kurz, zerfließt, verblasst. Das Handy klingelt. Helen schaut verständnislos nach unten: Thea ruft an, nicht zum ersten Mal übrigens, und hat auch schon viele Nachrichten hinterlassen. Es ist heute!, steht da. Helen nimmt das Handy, geht durchs Zimmer (Josef Hoffmann bietet ihr seinen Arm an) und zieht den Morgenmantel vom Haken an der Tür. Sie tut das alles sehr langsam und zögerlich, als könnte Melmoth die Zeugin hinter den weichen, rosa Falten lauern, geduldig wie immer, aufmerksam wie immer.

Im Kühlschrank ist noch etwas zu essen, ein Teller mit kleinen, glasierten Küchlein, auf denen die ungeschickte Albína ihre Fingerabdrücke hinterlassen hat. Daneben steht ein verdorbener Bratenrest, dessen Geruch sich mit dem Duft der welken Gewächshauslilien in der Vase mischt. Helen isst in kleinen, widerwilligen Happen: trockenes Brot, Käse mit dünner Schimmelschicht, eine säuerliche Tomate (Franz Bayer sitzt am Tisch und isst Kartoffelschalen). Es ist heute!, hat Thea geschrieben. Helen trinkt Leitungswasser aus einer schmutzigen Tasse. Draußen vor dem Haus fängt jemand zu singen an. Helen betrachtet ihr Handy. Sie erinnert sich – es schmerzt wie eine Muskelbewegung – an Thea in einem Café unweit der Karlsbrücke, sie sitzt im Rollstuhl, trägt schwarzen Kaschmir und schwarzes Leinen, die rotblonden Haare sind ordentlich gescheitelt und gekämmt. »Ich meine nicht unbedingt eine Totenwache«, hatte sie mit einem nüchternen Stirnrunzeln gesagt, »das nicht. Aber es kann nicht sein, dass jemand so unbemerkt aus der Welt scheidet. Helen, du bist doch nicht etwa eingeschlafen?«

Adaya war auch dabei gewesen, Helen erinnert sich an ihre zurückhaltende Gelassenheit, die klobigen Schuhe, das Novizinnengesicht. Sanft hatte sie gesagt: »Das sind wohl immer noch ihre Schuldgefühle. Die wiegen schwer. Sind Sie müde, Helen?« Sie hatte sich flüchtig eine Hand an das goldene Kreuz auf ihrer Brust gelegt. »Sie sehen krank aus. Sie müssen nichts essen, aber ein Tee wäre gut für Sie.«

»Lassen Sie sie in Ruhe!« Helen erinnert sich an Theas bösen Blick. »Lassen Sie sie endlich in Ruhe. Unsere Freundin ist gestorben. Sie trauert!«

Helen sagte: »Ich konnte sie nicht leiden.« Sie vermisst diesen Hass und seine Wärme mehr, als sie Karels Spott oder die nervöse Zuneigung ihres Vaters vermisst.

»Wie dem auch sei.« Unbeholfen schob Thea ihr eine Kaffeetasse zu. »Dann also keine Totenwache, aber nächste Woche treffen wir uns nach der Einäscherung und stoßen mit Sekt auf sie an … Oh ja, sie war furchtbar, ich weiß, aber hatte sie nicht ein schönes Ende? Der gute Wein, die verstreuten Perlen … im Schlaf, in der Oper, an ihrem Geburtstag …?«

Zögerlich hatte Helen gefragt: »Fandest du das alles normal? Ich meine, die Vögel auf der Bühne, und diese Hexe?«

»Ob die Vögel wohl ausgestopft waren?« Die Tür zum Café öffnete sich, Helen schlug die Augen nieder. »Diese fette Alte mit den Laufmaschen in den Strümpfen! Wenn ich ins Theater gehe«, sagte Thea, »will ich die Tricks durchschauen. Ich will herausfinden, wer die Fäden zieht.«

Helen beißt in das harte Brot. Der kalte Küchenboden macht ihre Füße steif. Ihr fällt wieder ein, dass sie sich bereit erklärt hat, auf Albína Horáková anzustoßen. Übrigens ist Albína die einzige Verstorbene, die nicht hier durch die Wohnung geistert. Helen beschließt, hinzugehen. Warum auch nicht? Vor den Straßen, Wegen und Gassen der Stadt hat sie keine Angst mehr – wieso könnten sie die Schritte des Verfolgers noch beunruhigen, wo sie sich ohnehin verflucht weiß? Sie stellt die schmutzige Tasse hin, lässt das Brot sinken. Draußen auf der Straße ist jetzt alles still, die Luft ist beißend kalt, der Schnee glatt überfroren. Nirgendwo spielende Kinder. Wieder singt irgendjemand (… im goldenen Saal, Vasallen und Diener um mich), aber Helen zuckt nicht einmal mit der Wimper, sie macht sich nicht länger die Mühe, ihre Erinnerungen von der Gegenwart zu trennen. Sie ist jetzt gefügig, sie akzeptiert ihre Strafe. Das Handy auf dem Tisch klingelt. Thea wird langsam ungeduldig. Helen schreibt zurück: Ich komme.

Die Stadt hat den Winter über. Wo auf dem Altstädter Ring noch vor vier Wochen der Weihnachtsbaum stand und Strauss ertönte, gähnt eine von Eis überzogene Leere. Gestern Abend ist jemand darauf ausgerutscht und hat sich zwei Mittelfußknochen gebrochen. Meister Jan Hus scheint tiefer in seiner Robe zu versinken, womöglich würde er die Flammen des Scheiterhaufens dem schneidenden Winterwind jetzt sogar vorziehen. Auf den dicht gedrängten Gräbern des Jüdischen Friedhofs sind die zusammengefalteten Zettelchen, Botschaften des Mitleids und der Reue, an den Grabsteinen festgefroren; nun wird niemand sie mehr lesen. Niemand sitzt vor den Cafés und Restaurants, alle Stühle sind an der Wand aufgestapelt. Die Kälte lässt weiche Kinderlippen aufplatzen, und alte Männer liegen mit Lungenentzündung im Bett. Die Ränder der Moldau sind gefroren, jeden Morgen muss ein Schwan aus dem Eis befreit werden. Es ist eine Minute vor zwölf, Helen steht am Ufer. Am blassen Himmel hängt gefrorener Dunst, dahinter steht die Wintersonne wie eine Papierscheibe. Helen trägt keine Handschuhe, ihre Finger sind knallrot und schmerzen. Eine Minute später steigt ein gespenstisches Geräusch vom Ostufer, dann vom Westufer auf, von hinter dem Nationaltheater mit der goldenen Krone, aus Ticketständen und Pizzabuden, von den Schwarzlichttheatern und aus der Bibliothek des Clementinums, wo der Student auf Platz 209 gerade eine Lehrbuchseite umblättert. Der Ton ist tief und melancholisch und hallt von Kopfsteinpflaster und Fassaden wider. Die Dohlen fallen vor Schreck von den Simsen und balgen sich in den nackten schwarzen Ästen der Linden. Das tiefe Heulen steigt an, aber kaum jemand schenkt ihm Beachtung. Einige wenige Touristen, die der Kälte getrotzt haben, bleiben stehen und heben den Zeigefinger; doch alles in allem wird es ignoriert. Helen erreicht die Brücke der Legionen, sie ist menschenleer. Die Sirenen haben das eigene Heulen satt und mäßigen sich zu einem tiefen Brummen, das zuletzt von einer verzerrten Männerstimme unterbrochen wird. In undeutlichem Tschechisch plärrt sie aus einem Lautsprecher, der drei Meter über Helens Kopf an einem Eisenmast hängt. Die Stille danach ist bedrückend – man stellt sich vor, wie die Stadt innehält, sich kurz an das Rattern der Panzer auf der Brücke erinnert und in den Alltag zurücksinkt (hören Sie genau hin: Mitten in der bedrückenden Stille singt jemand). Helen bleibt am Rinnstein stehen und lässt eine Tram mit einem einzigen Fahrgast vorbeizuckeln, einer älteren Frau, die gar nicht daran denkt, sich durch das Wetter von ihren Pflichten abhalten zu lassen. Sie fährt vorüber, auf dem gegenüberliegenden Gehweg steht ein Mann. Er trägt eine schwarze Hose und eine gefütterte Jacke und zittert. Die schwarze Kapuze ist ihm in den Nacken gerutscht, er hat eine sehr hohe Stirn und kaum noch Haare auf dem Kopf, nur über den Ohren sprießen schüttere, schwarze Büschel. Eines der Gläser seiner billigen Brille ist gesprungen, seine Haut ist fahl und hängt ihm lose von den Kieferknochen. Wenn er den Mund zum Sprechen öffnet, sieht man schwarze Zahnlücken. Er hebt die rechte Hand, hält etwas in der linken. »Arnel«, sagt Helen. Sie ist kein bisschen überrascht, ihn dort stehen zu sehen, denn er ist nicht allein; schräg hinter ihm steht Josef Hoffmann als Fünfzehnjähriger, Sir David Ellerby an der Bordsteinkante ringt die Hände. »Großer Bruder«, sagt Helen, aber sie reagiert weder auf seine Geste noch auf sein Rufen. Wie benommen überquert sie die Brücke der Legionen und geht über den Smetana-Damm an der gefrorenen Moldau entlang. Der Mann mit der kaputten Brille folgt ihr, und auch seine Begleiter.

Thea wartet wie vereinbart im Café, seit der verabredeten Uhrzeit schon. Grüne Lampenschirme aus Glas erzeugen ein diffuses Licht, man fühlt sich wie in einem Wald im Morgengrauen. In den Fenstern und an der Tür hängen grüne Samtvorhänge, auf allen Tischen stehen Aschenbecher aus grünem Glas. Helen erinnert sich dunkel, schon einmal hier gesessen zu haben, an diesem Tisch und in diesem grünen Licht; viele Jahre scheint es her zu sein, dass Karel Pražan zu ihr sagte: »Kannst du sie sehen? Ist sie gekommen?« In gespielter Strenge deutet Thea auf die tickende Uhr an der holzverkleideten Wand. Sie sieht tatsächlich besser aus, als hätten die Trennung, der Todesfall und die schriftlichen Begegnungen mit Melmoth der Zeugin ihr neue Kraft eingeflößt. Das Haar fällt ihr fransig in die Stirn, und ihre Wangen leuchten vor Gesundheit und weil sie golden schimmernden Glitzerpuder aufgetragen hat. Ihre Kleidung ist dem Anlass entsprechend schwarz, aber die Hose, die Bluse, die Lackschuhe haben nichts Melancholisches. Der scharlachrote Lippenstift ist sorgfältig aufgetragen. Neben der verhärmten Helen wirkt Theas Vitalität beinahe boshaft. Sie ist nicht im Rollstuhl hereingeschoben worden, sondern an Krücken gelaufen, die nun an der Tischkante lehnen. Falls der Weg anstrengend war, ist ihr das nicht mehr anzumerken. Das Café ist fast leer, die Kellner lehnen gelangweilt am Tresen. Neben Thea sind zwei Plätze frei.

»Du kommst zu spät! Das hätte ich niemals gedacht. Aber Helen, Liebes, bist du krank? Hast du dich erkältet? Gott weiß kein Wunder bei dem Wetter. Komm, setz dich. Was ist denn, was ist passiert? Hast du irgendwas?«

Helen kehrt Arnel Suarez und Alice Benet, die geduldig draußen warten, den Rücken zu und nimmt gehorsam Platz. Sie legt eine Hand an den leeren Stuhl. Sollte sie Thea beichten, dass der Schleier zwischen der Wirklichkeit und dem Unwirklichen zerrissen wurde? Dass sie benommen ist und nicht weiß, auf welcher Seite sie sich gerade befindet?

»Ist es wegen Melmoth?«, fragt Thea ganz ohne die Häme, mit der sie den Namen früher immer ausgesprochen hat. Helen begreift, dass Thea mit dem Thema abgeschlossen hat; indem sie die Manuskripte weitergab, hat sie sich reingewaschen. Ihr Joch drückt nicht mehr, die Last ist von ihr abgefallen.

»Es ist wegen allem«, sagt Helen. Eine junge Frau in weißer Bluse bringt drei Gläser und eine tropfnasse Sektflasche. »Melmoth«, zählt Helen auf, »Namenlos, Hassan, Josef Hoffmann … Sie begleiten mich seit Tagen.« In der Wärme ist Helen das Blut in die Hände geschossen, ihre Fingerspitzen pochen.

»Würdest du das Einschenken übernehmen? Bei mir geht alles daneben«, sagt Thea. Ganz offensichtlich ist sie der Meinung, dass Helen übertreibt. »Adaya hat fest zugesagt. Seltsam, wie schnell aus einer Fremden eine Freundin werden kann, nicht wahr? So schnell, und wie nebenbei.«

»Gestern Abend«, fährt Helen fort, »lag Rosa in meinem Bett.«

»Also schön. Ich mache es selbst, aber wenn etwas danebengeht, ist es deine Schuld. Hattest du Fieber und Wahnvorstellungen? Du armes Mäuschen. Vielleicht können sie dir einen Grog mixen, wie in einem englischen Pub? Warte, ich frage mal …«

»Und da war eine Stelle an der Wand, wo der Schatten so dunkel und dreidimensional erschien, dass ich dachte: Wenn ich hineinfasse, wird meine Hand darin verschwinden …«

»Ich glaube, du brauchst viel Zitronensaft, wegen der Vitamine, und mindestens zwei Fingerbreit Whisky.«

»Ich fürchte, sie hat mich die ganze Zeit beobachtet. Inzwischen glaube ich sogar, dass ich es niemals gewagt hätte, wenn ich nicht ihren Blick in meinem …«

»Und zieh endlich den Mantel aus. Sonst hast du nichts von der Wärme, wie meine Mutter zu sagen pflegte.«

»Dann wiederum kam es so in keiner der Geschichten vor. Niemand hat gesagt: Ich wusste, dass sie zuschaut, ich wusste, dass sie mich auserwählt hatte, nur deswegen habe ich getan, was ich tat …« Helen überlegt, und mit einem köstlichen Trotz auf der Zunge sagt sie: »Ich bin überrascht zu hören, dass du dich erinnerst, was deine Mutter gesagt hat, geschweige denn es ernst nimmst.«

»Sieh mal, Helen, da kommt dein heißer Whisky mit Zitrone. Nun halte mal kurz den Mund und trink. Du bist nicht gerade höflich.«

»Niemand hat gesagt: Es war ihre Schuld … Dabei war es ihre Schuld! Ohne sie hätte ich das nicht tun können …«

»Wie merkwürdig, da steht einer draußen vor dem Fenster. Bei der Kälte …« Thea hat etwas Sekt vergossen.

»Oh ja!«, sagt Helen lächelnd. »Ich habe es dir doch erzählt! Hoffmann, Alice, Arnel – sogar Sir David Ellerby ist dabei, in äußerst unpassender Kleidung.« Melmoth erwähnt sie nicht, das wäre zu viel des Guten und gleichzeitig zu schrecklich. (Fragen Sie sich, was Helen antworten würde, wenn Melmoth die Zeugin ihr jetzt die Hand anbieten würde? Oh, ich auch – ich auch!)

»Trink, bevor es kalt wird. Da steht ein Mann in einer schwarzen Jacke mit schwarzer Kapuze. Er sieht absolut elend aus. Seine Brille ist zerbrochen. Anscheinend ist er krank.«

Helens Blut wallt auf wie eine vom Mond bewegte Flut. Sie bringt keinen Ton heraus.

»Der Ärmste sollte einfach reinkommen. Er zittert ja!«

»Du kannst ihn sehen?« In Helens Flüstern schwingen Hoffnung, Furcht, Ungläubigkeit mit.

»Selbstverständlich kann ich ihn sehen. Ich mag ein Wrack sein, Helen, aber meine Augen funktionieren noch ganz prima. Na, so was, er schaut in deine Richtung.« Thea runzelt die Stirn und sieht aus wie eine Anwältin, die es mit fragwürdigen Beweisen zu tun hat. Hält sie es für denkbar, dass Arnel Suarez durch Zeit und Raum gereist und vor einem Prager Café gelandet ist, wo die Untersetzer auf dem Tisch die Karlsbrücke bei Nacht zeigen? Möglicherweise. So oder so lässt ihre gute Laune ein wenig nach.

»Ist er allein?«, fragt Helen.

»Ja. Seltsam, wie ruhig es heute ist.«

Helen dreht sich um. Ihr Körper widersetzt sich der Anweisung, die Bewegung fällt ihr schwer. Das Café hat drei hohe, breite Fenster, die auf die Straße hinausgehen. Helen sieht einen schwarzen Laternenmast mit angekettetem Fahrrad, ein Schaufenster voller Moser-Glas, einen mit Werbung zugekleisterten Aufsteller (klassische Musik in entweihten Kirchen). Keine Passanten, keine Kinder in Winterjacken, keine Touristen mit Pappbechern voll Honigwein in der Hand. Im mittleren Fenster, genau in der Mitte davon, als hätte ein Künstler ihn so auf die Leinwand gesetzt, steht der Mann in der Kapuzenjacke. Er befindet sich dicht vor der Scheibe, sein Atem lässt das Glas beschlagen. Das Licht bricht sich im gesprungenen Brillenglas und lässt ihn blind und orientierungslos erscheinen. Seine Lippen bewegen sich, er singt oder spricht, aber das Glas ist dick, und Helen kann nichts hören. Er hebt den Arm, legt eine Hand an die Scheibe.

Helen Franklin steht auf. Sie erschaudert und stößt mit der Hüfte gegen den Tisch. Theas Glas fällt zu Boden und zerbricht.

»Kennst du ihn?«, fragt sie. »Helen, was ist denn? Du machst mir Angst.« Sie greift nach den Krücken an der Tischkante.

»Er ist hier«, flüstert Helen. »Er ist wirklich hier.« Ihre Stimme ist krächzend, als läge da eine kalte Hand an ihrer Kehle. Panisch sieht sie sich nach den anderen Begleitern um, nach Hoffmann, Alice, Namenlos und seinem Bruder – wenn sie hier sind, kann es nicht Arnel sein. Aber nein – da steht nur eine einzige Gestalt und wartet geduldig.

»Wer ist das? Du siehst erschrocken aus.«

»Ich bin erschrocken! Ich habe Angst!« Helen bricht der Schweiß aus, plötzlich wird ihr so heiß wie an einem schwülen Sommertag in Manila kurz vor der Regenzeit. Der Schweiß bricht ihr im Gesicht und am ganzen Körper aus, brennt ihr in den Augen. Sie schaut zu Boden und sieht harte, grüne Krankenhauskacheln, darauf einen blutigen Fußabdruck. Zwanzig Jahre fallen von ihr ab wie eine tote Schlangenhaut; sie ist wieder einundzwanzig und voller Inbrunst, sie hält sich für erwählt, gnädig und gerecht. Sie ist wieder zweiundzwanzig und liegt zitternd und voller Selbstekel im selben Bett, in dem sie als Kind geschlafen hat. Sie weiß, sie ist verflucht.

»Der war das also!« Thea klammert sich an der Tischkante fest und versucht, aufzustehen. »Der hat dich die ganze Zeit verfolgt!«

»Was will er von mir?« Helen hört sich mit hoher, nörgelnder Stimme sprechen und verachtet sich dafür. »Will er mich bestrafen? Sicher hasst er mich … Was soll ich denn jetzt tun? Was soll ich sagen?« Mit letzter Kraft hebt sie den Kopf. Das mittlere Fenster ist leer, er ist weg. Ganz kurz ist sie erleichtert, fast schon froh, aber im nächsten Moment sieht sie ihn in der Tür. Er hat die Kapuze abgestreift. Unter der schlaffen, bleichen Haut, den von der Gefangenschaft ausgemergelten Wangen und der hohen Stirn, in die keine schwarze Locke mehr fällt, kann sie fast Arnel Suarez erkennen. Arnel Suarez, der ihren schmerzenden Arm sanft in diese und jene Richtung drehte, der mit ihr am Schlund eines Vulkans stand, der sie küsste und ihr auf der Straße entgegentänzelte, der am Krankenbett seines Bruders saß und sich die ganze Nacht sorgte, dass der Arme die Schmerzen nicht ertragen könnte. »Ich war das«, sagt sie. »Ich habe das getan.« Denn es war nicht nur die Zeit, die Arnel zermürbt, ihm das Fleisch von den Knochen genagt und ihm die Zähne aus dem Kiefer geschlagen hat. Er steht jetzt auf der Schwelle, eine Plastiktüte in der Hand. Die Griffe sind gerissen, sie rutscht ihm aus den Fingern und wird umständlich wieder eingefangen. Die Luft im Raum ist schwül und scheint elektrisch aufgeladen. Die Kellner lehnen träge an der Theke, wie niedergedrückt von der schweren Luft. Thea stützt sich auf die Tischplatte, kommt zittrig auf die schwachen Beine und sagt: »Du wirst dich erklären müssen, Helen. Es tut mir leid, es gibt keinen anderen Weg.« Sie wirkt gar nicht mehr spöttisch. »Ehrlich gesagt«, fügt sie an, »wäre mir Melmoth fast lieber als das hier.«

»Wie hat er das geschafft? Wie hat er mich gefunden? Wie konnte er den ganzen langen Weg …«

»Heutzutage ist jeder Mensch auffindbar. Es gibt keine Verstecke mehr, das war einmal.« Die Tür fällt ins Schloss, der Samtvorhang schaukelt und hängt dann glatt herunter. Helen hört sich schneller atmen, jeder Zug ist ein Winseln. Der Vorhang teilt sich, und da steht er, der Mann, der sie vom Pasig an die Moldau verfolgt hat, der in der Straße für sie gesungen hat, den sie durch ihren Stolz und ihre Feigheit zu einer Art Tod verurteilte. Er stellt die Tüte hin und nimmt sich die Brille ab, die Gläser sind weiß beschlagen. Er nimmt einen Hemdzipfel, putzt die Brille vorsichtig, setzt sie sich ebenso vorsichtig wieder auf. Er bückt sich nach der Tüte, drückt sie sich an die Brust. Seine Bewegungen sind langsam und bedächtig, aber seine Hände zittern. Im grünen Licht wirkt seine Haut noch fahler. Er tritt einen Schritt vor. Helen stellt fest, dass ihr Verstand und ihre Muskeln gleichermaßen erstarrt sind. Sie kann sich nicht bewegen, sie kann kaum denken, sie taumelt zwischen Todesangst und Erwartung, zwischen Mitleid und Furcht, und fühlt sich wie betäubt. Er ist keine drei Meter mehr von ihr entfernt. Er bleibt stehen und sagt: »Helen? Kleine Schwester?« Seine Stimme ist brüchig. »Kleine Schwester?«, fragt er, und im selben Moment erfolgt ein lauter Knall. Die Frauen werden aus ihrer Trance gerissen, der Mann zuckt zusammen und lässt die Plastiktüte sinken. Alle drehen sich zum Fenster um. Im kalten, dünnen Licht ist hoch oben in der mittleren Scheibe der Abdruck eines Vogelkörpers deutlich zu erkennen. Gespreizte Flügel und eine glatte, rundliche Brust schimmern auf dem Glas. Der Schreck hat Helen den letzten Rest von Ungläubigkeit ausgetrieben. Sie sieht den Mann an, der händeringend vor ihr steht. Da ist nichts, was ihr noch Angst machen würde, nichts, was erklären könnte, warum sie tagelang zitternd im Bett lag. Er hat den scheuen, schüchternen Blick eines Menschen, der Verachtung und Ablehnung erwartet und sich damit abfinden wird. Er ist kleiner, als sie ihn in Erinnerung hatte – viel kleiner, als wären seine Knochen geschrumpft. Er sagt: »Ich habe eine lange Reise hinter mir und bin sehr müde. Darf ich mich setzen?« Die letzte Farbe ist aus seinen Wangen gewichen. Er steht noch, aber er schwankt. Thea findet nach und nach zur gewohnten Fassung zurück und sagt: »Selbstverständlich! Bitte sehr. Sie müssen etwas essen! Und Sie brauchen etwas Heißes zu trinken.« Ein Schweigen entsteht, und wenn Sie gut aufpassen, können Sie sehen, wie Theas Angst mit Theas guten Manieren ringt. Am Ende gewinnen die Manieren. Sie streckt die Hand aus. »Ich bin Thea«, sagt sie, »eine Freundin von Helen.« Der Mann betrachtet verwirrt die ausgestreckte Hand (da ist wieder die fleißige Biene auf dem silbernen Totenschädel), dann greift er mit beiden Händen zu und lässt nicht mehr los. »Madam, vielen Dank«, sagt er. »Ich danke Ihnen. Mein Name ist Arnel Suarez.«

»Das habe ich mir schon gedacht. Helen, setz dich hin. Mr Suarez, geben Sie mir bitte meine Hand zurück.«

Aber Helen kann sich nicht hinsetzen. Wie könnte sie an diesem höflichen Theater teilnehmen? An dieser absurden Vorstellungsrunde mit Sekt und Knabbereien? Gedankenverloren reibt sie sich den Unterarm, immer fester, als wäre die Narbe an allem schuld; als wäre alles – Rosa nachts im Bett, Karels Flucht, der dreidimensionale Schatten an der Wand, Melmoth mit dem unerbittlichen Blick – das Werk einer kleinen Kakerlakennymphe, die eines Nachts Hunger bekam.

»Bist du es wirklich?«, fragt sie. Sie hat immer noch Zweifel, und wie auch nicht; was an diesem kleinen, gebeugten, hageren alten Mann mit der kaputten Brille und der zerfledderten Plastiktüte erinnert noch an den Geliebten von damals? Er kann ihr nicht in die Augen sehen, hat sie bis jetzt noch nicht direkt angeblickt. »Wie hast du mich gefunden?« Die Angst macht sie ungeduldig. »Wie kannst du es wagen?«, fragt sie. »Wie kannst du es wagen, mich zu verfolgen?«

Er kramt in der Tüte und holt ein Schulheft heraus. Es ist fleckig, die Ecken sind eingerollt und zerknickt. »Ich wusste nicht, wo du lebst«, sagt er, »ich wusste nicht, ob du fortgegangen bist. Ich konnte dich weder anrufen noch dir schreiben. Deswegen habe ich alles aufgemalt, all die Jahre lang. Sieh mal.« Vorsichtig schlägt er das Heft auf. »Das ist für dich«, sagt er. »Tut mir leid, dass es nicht schöner geworden ist. Ich wollte dir zeigen, wie es war. Du solltest wissen, was ich für dich getan habe.«

»Aber was willst du von mir?«, fragt Helen. »Was soll ich tun? Was soll ich sagen?«

»Am Tag meiner Entlassung bin ich zu der Stiftung gegangen. Meine Mutter war längst gestorben, und mein Bruder, du erinnerst dich, ist Anwalt. Ich mache ihm Schande. Ich ging also zur Stiftung, schrieb an die alte Adresse deiner Familie und fragte, wo du bist. Es tut mir leid. Ich wollte nur, dass du es siehst.« Schüchtern schiebt er das Heft über den Tisch. Helen weigert sich zunächst, es anzusehen, aber dann kommt ihr sein Haaransatz irgendwie vertraut vor, und wie er sich die Brille zurechtrückt. Helen hört ihre eigene Stimme wie ein um viele Jahre verzögertes Echo, es ist ein zärtliches Lachen: »Großer Bruder, ich habe Durst, hol mir was zu trinken.« Tief in ihrem Unterleib, wo vor langer Zeit das Feuer ausgetrampelt wurde, glimmt ein Funke auf. Sie sieht die Muttermale über Arnels abgewetztem Hemdkragen und erkennt jedes einzelne davon wieder. Sie sind gewachsen, das Alter und die Sonne haben sie anschwellen lassen. Sie sind wirklich abstoßend, am liebsten würde Helen sie berühren.

»Zeigen Sie her.« Thea kann ihre Neugier nicht verbergen. Sie zieht das Heft zu sich heran und blättert mit linkischen Bewegungen um. Das Ganze sieht aus wie der Skizzenblock eines Kunststudenten, da sind Zeichnungen in Tinte und Bleistift, daneben Anmerkungen. Vieles ist ausradiert und übermalt worden. Genau genommen sieht es aus wie ein Skizzenblock, an dem viele Kunststudenten gemeinsam gearbeitet haben. Auf einer Seite Bougainvillearanken so filigran, dass die Blütenblätter sich auf dem Papier zu kräuseln scheinen; auf der nächsten ein Mann, der mit erhobenem Kopf an einer Wand kauert, wie willkürlich und mit groben Strichen gezeichnet. Über eine ganze Doppelseite zieht sich ein Bild hin, das zunächst an Insekten bei der Arbeit erinnert, aber es sind (Thea kommt ein wenig näher heran, Helen kann nicht anders, als endlich hinzuschauen) keine Insekten, sondern aus der Vogelperspektive betrachtete Männer; zu Dutzenden liegen sie nebeneinander und übereinander in einem Käfig.

»Neunzehn Jahre«, sagt Arnel Suarez. »Ich habe meine Unschuld beteuert, aber bis zum Gerichtsprozess dauerte es viel zu lange. Ein Jahr. Ich habe die Hoffnung verloren, irgendwann war mir alles egal.«

»Da«, sagt Thea. Nicht, dass sie kein Mitleid mit ihm hätte, aber sie ist mit den Gedanken woanders. Sie zeigt auf eine Seite, blättert um, zeigt abermals auf die vage Andeutung einer Gestalt in Schwarz. Mal steht sie vor einem vergitterten Fenster, mal wacht sie in der Ecke eines ummauerten Hofes. »Die Frau dort, am Rand … Und da, am Fußende des Betts …«

»Ja, Madam.« Arnel nimmt sich die Brille ab und schiebt sie in die Brusttasche seines Hemdes. Die Geste versetzt Helen einen Stich, sie greift sich in die Taille. »Wir haben sie gesehen. Nicht alle von uns, nur manche, meistens dann, wenn es am schlimmsten wurde. Wissen Sie, wir waren einfach zu viele. Es gab nicht genug zu essen, und was man uns überließ, war oft verdorben. Im Sommer hat es fürchterlich gestunken. Unsere Haut entzündete sich, wir wurden krank. Und da haben wir sie gesehen. Sie hat einfach nur zugeschaut. Wir haben sie gefragt: Können Sie uns bitte helfen? Können Sie bitte jemandem schildern, wie wir hier leben? Aber sie hat nur zugeschaut. Einige der Männer haben sie Saksi genannt und waren überzeugt, sie würde immer wiederkommen. Saksi«, erklärt er, »bedeutet ›Zeugin‹.«

»Was willst du?«, fragt Helen. Ihre gefalteten Hände liegen auf dem Tisch. Auf die linke ist direkt neben dem Daumen ein schwarzes Kreuz eintätowiert, und die Knöchel der rechten sind schwielig und vernarbt, als hätte sie lange auf etwas eingedroschen. »Ich will nichts von dir«, sagt Arnel schüchtern, »kein Geld. Ich will nur wissen, dass ich das Richtige getan habe. Dass es für etwas gut war. Nur deswegen konnte ich es all die Jahre ertragen; ich wusste, du bist frei.« Er sieht sie an. Seine Augen sind blutunterlaufen, eine abklingende Entzündung rötet die Lider. »Kuya«, sagt Helen, »großer Bruder …«

Hören Sie! Etwas schlägt ans Fenster, wieder und noch einmal. Es sind Vögel – majestätische, blauäugige, aufmerksame Dohlen, sie kommen von den Regenrinnen und Mauersimsen des gegenüberliegenden Gebäudes herunter, von der Moldau, von den Schultern des heiligen Jakobus und des heiligen Johannes; sie kommen aus dem Glockenturm der Bibliothek und aus den Falten von Jan Hus’ Robe. Sie kommen in solchen Scharen, dass die Wintersonne dahinter verschwindet. Im Café wird es dunkel, die Lichter hinter den grünen Glaskugeln glühen umso heller. Ein weiterer Schlag; die Kellner sind aufgewacht, laufen aufgeregt rufend hin und her und stellen sich zu Helen und Thea an den Tisch. An allen Fenstern sind nun die schmierigen Abdrücke von gebrochenen Flügeln zu sehen. Die erste Scheibe bekommt Risse. »Sie ist es«, sagt Thea ganz ohne Erstaunen oder Entsetzen in der Stimme, »sie kommt.«

»Oh …« Helen ist erschüttert, sie rückt an den Mann heran, scheint in ihrer Angst und ihrem Entsetzen instinktiv seine Nähe zu suchen. Arnel erhebt sich. »Adaya«, sagt Thea, auch sie ist aufgestanden. Und tatsächlich: Adaya tritt von links ins Bild und steht im Strudeln und Wirbeln der Dohlen vor dem Fenster. Ihr dichtes, helles Haar kräuselt sich über dem Kragen, das goldene Kreuz hängt über dem dicken, ärmlichen Wintermantel. Sie lächelt auf ihre typische, zögerliche Weise, ihr junges Gesicht ist von der Kälte gerötet. Sie verschwindet und taucht gleich darauf im mittleren Fenster auf, wo Arnel eben noch eine Hand ans Glas gelegt hat; auf einmal wirkt sie sehr groß, ihr Lächeln ist verschmitzt, und ihre Wangen leuchten rot, ihr langes, dunkles Haar weht im Wind. Schauen Sie: Wieder ist sie verschwunden, und wieder kehrt sie zurück, im dritten Fenster, dem letzten neben der Tür. Sie ist Adaya und doch nicht Adaya, offenbar trägt sie jetzt ein schwarzes Gewand aus einem dünnen, vielschichtigen, schwarzen Gewebe, das hinter ihr flattert wie ein Schatten, nach den panischen Dohlen schnappt, wie schwarze Tinte in den Rinnstein fließt. Sie ist monströs groß, vermutlich muss sie sich bücken, um durch die Tür zu passen. Schemen fliegen über ihr hageres Gesicht, sie lacht.

Helen Franklin ist weder ängstlich noch überrascht. Sie erinnert sich an Adayas sanfte Stimme und an ihre Frage: »Glauben Sie, dass Sie bestraft wurden?« Sie denkt an Adaya im Restaurant gegenüber dem Nationaltheater, wie sie eine Perle in die Höhe hält und sagt: »Das war wirklich böse von Ihnen.«

Und da ist sie nun, sie tritt über die Schwelle und zerteilt den Vorhang: Melmoth die Zeugin, die Reisende, die Verdammte. Sie ist unerträglich einsam und sehr gerissen, sie hat sich verkleidet und sich nützlich gemacht, sie hat sich um Albína, Thea und Helen gekümmert, ihre kleinen Verletzungen versorgt und ihnen die Beichte abgenommen. Sie lächelt, ihre nackten Füße bluten.

»Ich bin gekommen«, sagt sie. »Helen, meine Freundin – wusstest du, dass ich es bin? Ich wollte, dass du es erfährst, ich hatte es gehofft, ich habe dir sogar meinen Namen verraten, den ich seit dem Tag meines Sündenfalls nicht mehr ausgesprochen habe!«

»Adaya«, sagt Helen, und alle Lampen werden dunkler.

»Meine eigene Mutter hat mich die Zeugin getauft; hat sie den Fluch in der Stunde meiner Geburt vorhergesehen? Oh Helen, meine Liebe, der ich meinen Namen preisgab – du hast lange genug auf mich gewartet!«

Helen schaut sich um und merkt, dass alles ringsum wie eingefroren ist. Die Kellner stehen am Fenster und bestaunen eine Dohle, die sich ans Glas wirft. Thea ist auf ihren Platz zurückgesunken und schlägt sich in erstaunter Bestürzung die rechte Hand vor den Mund. Arnel steht da und streckt den Arm von sich, wie um etwas abzuwehren, das er nicht sehen kann. Und die ganze Zeit kämpft die Dohle, während die Kellner staunen; die ganze Zeit atmet Thea schwer in ihre Hand; die ganze Zeit steht Arnel schwankend da. Seine erhobene Hand zittert.

»Ach, die interessieren mich nicht«, sagt Melmoth verächtlich über Thea, Arnel, die Kellner am Fenster. Sie kommt näher, die Knochen in ihren Füßen haben die Haut durchbohrt. »Nur deinetwegen bin ich hier!«

»Ich wusste es.« Helen kann den Blick nicht von der Zeugin abwenden, Melmoths Augen halten ihm unerbittlich und ohne zu blinzeln stand. »Immer schon … Ich habe dich gefühlt … nachts in meinem Zimmer, als ich noch ein Kind war und nicht schlafen konnte …«

»Ja! Ja.«

»Warst du das, in Rosas Zimmer? An der Tür, auf dem Stuhl …«

»Den Stuhl hatte man nur meinetwegen dort hingestellt.«

»Hast du mich gesehen? Hast du gesehen, wie ich neben ihr auf dem Bett lag …«

»Ich habe euch gesehen. Ich habe dich singen hören.«

»Dann weißt du, was ich bin! Du weißt, was ich getan habe!«

Sie ist jetzt sehr nah, ihr Blick ist bohrend, ihre Augen in dem dunklen, hageren Gesicht schillern wie Öl auf Wasser. Sie streckt eine Hand aus und berührt ganz sacht Helens Schulter; die Handfläche ist warm und weich, und Helen, die sich so lange alles versagt hat, spürt ein starkes Verlangen. »Meine Liebe« – die Hand streichelt sie –, »ich weiß, was du bist. Ich habe es immer gewusst. Wie wolltest du mir, die dich nie aus den Augen gelassen hat, etwas vormachen?«

»In den vergangenen Tagen war ich dem Wahnsinn nah … Ich habe sie alle gesehen … Sie lagen in meinem Bett und saßen an meinem Tisch.« Helen wird schwach. Sie wankt, schlägt sich die Hände vors Gesicht. »Ich glaube es nicht, ich kann nicht glauben, dass du gekommen bist. Ich bin krank, mein Kopf tut weh, ich weiß nicht mehr, was ich sehe …« Wie ist das möglich? Es ist aberwitzig. Wahrscheinlich hat sie zu viel gelesen, zu wenig geschlafen, zu lange mit der Schuld gelebt; wahrscheinlich ist es nur ein Schatten an der Wand. Lilienduft breitet sich aus, schwer und widerlich, und da ist noch etwas, die Süße der Fäulnis.

»Du glaubst nicht, dass ich hier bin? Oh Helen, meine Freundin, meine Liebe! Du bist müde. Komm, leg deinen Kopf an meine Schulter.« Und Helen sinkt in die Arme, die sie umschlingen wie ein großes, in sich verdrehtes Laken. Sie kann sich nicht mehr bewegen – sie will sich nicht mehr bewegen; sie hört Melmoths uraltes Herz schlagen, schnell und stark, und hört ihr Murmeln: »Sieh, was du getan hast.« Halb im Traum sieht Helen eine Gefängniszelle, kaum größer als ihr Schlafzimmer, aber darin sind zwanzig Menschen. Sie liegen auf dem nassen Betonboden, der Monsunregen fällt durch die vergitterten Oberlichter ein. Die Männer sind schwach und dünn, ihre wunde Haut ist von Läsionen und Ekzemen bedeckt. Der gelbe Klo-Eimer ist bis an den Rand gefüllt. Da hockt der junge Arnel, das Gesicht in den Händen vergraben. Der Junge neben ihm ist keine sechzehn Jahre alt, er hält sich den Bauch und weint nach seiner Mutter. Arnel streichelt seine Hand, sein Haar und sagt, er würde helfen, wenn er nur könnte. Da ist Arnel noch einmal, er ist jetzt älter und blind vor Verzweiflung, er schlägt gegen die Wand, bis seine Fingerknöchel aufplatzen, doch er fühlt es nicht, und Helen weiß ohne jeden Zweifel, er denkt an sie. Und noch einmal Arnel, er liegt auf einer Art Pritsche, trinkt Brühe und spart sich die paar Nudeln, die wenigen Stücke Fleisch für später auf, weil er fürchtet, dass es nichts anderes mehr geben wird. Von ihm ist jetzt nichts mehr übrig – keine Wut, kein Mitgefühl, keine Verzweiflung, nichts. Er ist leer und hohl.

»Siehst du?«, murmelt Melmoth mit sehr sanfter, sehr süßer Stimme. Es ist die Stimme einer Geliebten. »Siehst du, was du getan hast? Es wäre besser gewesen für ihn, für seine Mutter, für alle, die ihn liebten, wenn du nie geboren worden wärst. Wer will dich jetzt noch? Wer könnte deinen Anblick ertragen? Wenn sie nur wüssten, was ich weiß … Wenn sie gesehen hätten, was ich gesehen habe …«

»Ich weiß. Ich weiß.« Helen wird demütig. Der Dohlenschnabel zerbricht an der Scheibe.

»Dann komm mit mir! Was erwartet dich hier außer Scham und Schande? Komm mir mir, kleine Helen, sei meine Freundin und Begleiterin! Hast du denn kein Mitleid mit mir? Komm, nimm meine Hand – ich war so einsam!«

Das uralte Herz schlägt an Helens Wange, der Blumenduft ist schwer und betörend. Sie ist müde. Es wäre so schön und so einfach, sich zu ergeben.

»Gibt es keine Hoffnung?«

»Nein – woher? Aber eine liebevolle Begleiterin, die dich in deiner Verzweiflung nicht allein lässt.«

Es gibt also keine Hoffnung mehr, denkt Helen, aber ohne es recht zu glauben. Etwas in ihr, flatterhaft und schwach, macht auf sich aufmerksam. Sie muss an die Kiste unter ihrem Bett denken, an die Reliquien aus einer Zeit, in der sie vollkommen lebendig war. Sie denkt an eine andere Kiste und eine andere Frau – hebt man den Deckel ab, wird die Bosheit der Welt losgelassen. Doch etwas war ihr immer geblieben, eine Hoffnung, so klein und schwach wie eine weiße Motte auf der Suche nach einer Flamme. Helen legt sich eine Hand an den Bauch und glaubt, ein Ziehen zu spüren, es ist weder stechend noch überwältigend, doch es zieht sie zum Licht empor. Sie denkt an Karel Pražan und seine Entscheidung. Letztendlich hat Melmoth ihn lediglich davon überzeugt, dass er Verantwortung übernehmen muss; sie ließ ihn nicht verzagen und verzweifeln, sondern machte ihn stärker und freier.

Helen senkt den Blick, auf dem Tisch liegt Arnels Zeichenheft. Die aufgeschlagene Seite zeigt einen Garten. Der Garten liegt in einem Tal, dahinter erhebt sich ein Berg, dessen Gipfel von Wolken verdeckt wird. Im Vordergrund blühen Blumen auf dem Papier, Geißblatt und Bougainvillea, da sind auch Minzblätter. Tief im Tal stehen zwei Gestalten, kaum mehr als Striche eines Bleistiftstummels, dicht nebeneinander. In der Zeichnung entdeckt Helen etwas, das sie längst verloren glaubte – die Aussicht auf Erlösung, die sich einstellt, wenn zwei Hoffende einander begegnen.

Sie sagt: »Nein.«

»Nein?« Der Dohlenschnabel knackt.

»Ich gehe nicht mit dir.«

Helen wird aus Melmoths Armen gerissen, die Augen in dem hageren Gesicht glühen blau. »Du weist mich zurück? Du, die feige Mörderin? Du willst mich dem Kummer und der Einsamkeit überlassen?«

»Es tut mir leid« – es ist die Wahrheit, beim Blick auf die blutigen Füße auf dem Teppichboden fühlt Helen nichts als Mitleid –, »aber ich habe noch Hoffnung, ich fühle sie hier wie einen Schmerz! Ich muss es einfach versuchen. Ich muss!«

Melmoth verändert sich. Sie, die eben noch ganz weich war und eine verlockende Wärme ausstrahlte, die sich etwas von der zögerlichen jungen Frau bewahrt hatte, die sie kurz gewesen war, verhärtet sich. Ihr Gesicht wird so hart wie eine steinerne Fratze hoch oben an einer Burgmauer. Sie steht gebeugt unter der niedrigen, dunklen Decke, um ihren Kopf heben und senken sich die Haare in schmierigen Kringeln. Sie grinst, ihr Mund ist breit und rot. »Idiotin!«, sagt sie und lacht schrill. Es klingt hilflos und böse. »Du Idiotin«, sagt sie, »ich werde dich hier zurücklassen, damit du dich in deiner Schande suhlen kannst. Du glaubst an deine Rettung? Du glaubst, du hättest all diesen Jahren etwas entgegenzusetzen? Es gibt keine Erlösung, und auch keine Hoffnung, da ist nichts, was du in die Waagschale werfen könntest!« (Glauben Sie, dass sie allein aus Bosheit in diesem Ton mit Helen spricht? Aus Verachtung? Nein, so ist es nicht – sie ist einsam, sie ist verzweifelt!) Die Schatten an der Wand werden dunkler, sie pulsieren und nehmen Gestalt an. Helen erkennt Josef Hoffmann, der am Boden kniet, hinter ihm stehen Franz und Freddie Bayer und traktieren ihn mit Schlägen und Tritten. Namenlos und Hassan liegen zwischen den Jutesäcken am Schwarzmeerstrand, und da ist auch Rosa, sie reibt mit der Hand über das Laken und stöhnt vor Schmerz und vor Erleichterung. Die Glühbirnen hinter den grünen Glasschirmen erlöschen eine nach der anderen, im Fenster bewegt sich etwas; zu Hunderten flattern die panischen Dohlen durch die Gasse, werfen sich in blinder Wut an die Fensterscheibe. Melmoth kreischt, aber Helen kann die Worte nicht verstehen, zu laut ist der Tumult der kleinen Leiber, die von außen gegen die Scheibe knallen, der splitternden Schnäbel und der knackenden Flügel, und dann zerbirst das Glas, und sie sind überall, schlagen hilflos auf dem Teppich mit den Flügeln und reißen den Schnabel auf: Was? Warum? Wie? Warum?

Und dann wird es plötzlich wieder hell, ein grünes Waldleuchten, als würde eine tief stehende Sonne durch ein Blätterdach scheinen; es wird hell, Thea sagt: »Sie kommt«, und erhebt sich halb von ihrem Platz. Die Kellner stehen am Fenster, sie rufen und staunen, das Glas ist gesprungen, da ist der Abdruck eines Vogels zu sehen.

»Oh.« Thea runzelt die Stirn. »Ich dachte, ich hätte Adaya gesehen, draußen auf der Straße.« Sie lässt sich wieder auf ihren Platz sinken und merkt nicht, wie weiß Helen ist oder dass sie sich auf Arnel stützt.

»Seltsam«, sagt Thea, »wie ruhig es heute ist.«

»Sie war hier«, sagt Helen. Die grünen Wandleuchten strahlen. »Sie war hier, und jetzt ist sie wieder weg.«

»Helen«, sagt Arnel leise und schüchtern. »Kleine Schwester«, sagt er. »Möchtest du dich nicht setzen? Wir könnten uns kurz hinsetzen. Ich will nichts von dir. Wollen wir uns kurz hinsetzen?«

»Ja«, sagt Thea, »setzt euch endlich hin, um Gottes willen.« Mit Menschen, die Schwäche zeigen, hatte sie noch nie besonders viel Geduld. »Ist es wegen des Vogels? Die Scheibe ist zu sauber, das ist alles. Die Dohlen glauben, sie könnten einfach durchfliegen.« Die Kellner betasten vorsichtig den Riss im Glas, ziehen die Vorhänge zu. Das weiche grüne Licht wird noch weicher und noch grüner. Die Kellner bringen Kerzen in grünen Glaskugeln und stellen sie auf den Tisch.

Helens Beine zittern. Ihr Herz schlägt so schnell wie das von Melmoth eben. Arnel legt eine Hand auf den freien Platz neben sich und wirft ihr einen flehentlichen Blick zu. Helen setzt sich und sagt: »Ich habe nur wenig zu erzählen.«

»Na also.« Thea betrachtet die beiden mit zufriedener Miene, als wäre das Wiedersehen – dieses unwahrscheinliche, unglaubliche Wiedersehen in diesem Lokal, an diesem Tisch – allein ihr Werk. »Na also. Arnel, bitte entschuldigen Sie, wir wollten gerade auf eine verstorbene Freundin anstoßen. Sie war alt und schrecklich, aber wir vermissen sie sehr.«

»Ja, wirklich!«, lacht Helen, und Arnels melancholisches, eingefallenes Gesicht hellt sich auf. »Weißt du, ich fand sie abscheulich«, sagt Helen in vertraulichem Ton und sieht zu Thea hinüber, die die Flasche mit beiden Händen hält und böhmischen Sekt ausschenkt. »Aber ich weiß nicht mehr genau, warum.«

»Madam, wenn ich fragen darf … Woran ist sie gestorben?«

»Am Leben, so wie alle Menschen.« Theas Haltung ist königlich, ihr Haar schimmert wie eine goldene Krone. »Auf sie!« Sie hebt ihr Glas. »Auf Albína Horáková, die niemals wirklich gestorben ist, solange Rusalka weitersingt.«

»Auf Albína Horáková«, sagt Helen Franklin. Das Glas in ihrer Hand fühlt sich kalt an. Sie hört Musik. Arnel neben ihr ist schon wieder dabei, seine Brille mit dem Hemdzipfel zu putzen, sie kennt den Ablauf genau. Er wirft ihr einen scheuen Blick zu, sie schaut weg. »Auf Albína Horáková«, wiederholt sie. Das Lampenlicht schimmert auf den grünen Vorhängen und den grünen Wänden, alles ist satt und warm, ein Wald in der Abendsonne. Helen schließt die Augen. Sie sieht sich auf einem Weg stehen, rechts und links davon ragen dunkle Baumstämme in die Höhe. Der Wald ist dicht und tief, es gibt kaum Licht. Der Weg wird schmaler und macht einen Knick, dahinter steht ein Haus zwischen den Bäumen. Eine Kerze im Fenster leuchtet in der Finsternis. Sie ist fast schon auf den rußschwarzen Docht abgebrannt; aber noch ist sie nicht erloschen, noch spendet sie Licht. Es fällt auf David Ellerby, der zu Gott betet und die Hand von Alice Benet hält; auf Josef Hoffmann, den traurigen Jungen mit der einzigen heldenhaften Tat. Es fällt auf Arnel Suarez, der auf einer schmalen Pritsche liegt und nicht aufgeben wird, und auf Hrant Hachikian, der sich über den Brief beugt und hofft, sein Name würde nicht in Vergessenheit geraten. Es fällt auf Rosa mit dem rosa Taschentuch, sie wartet auf eine Freundin.

Helen öffnet die Augen. Thea hat sich beflissen Arnel zugewandt; endlich ist sie nicht mehr die mit der schlimmsten Verletzung. Arnel sagt: »Der Schnee ist nicht so hart, wie ich ihn mir vorgestellt habe.« Die Kerze in der grünen Glaskugel brennt weiter. Helen hebt wieder und wieder das Glas und trinkt, schweigend und mit Tränen in den Augen. Sie trinkt auf Alice Benet mit dem heiligen Brandmal auf der Hand, auf Freddie Bayer und ihren Bruder, die in weißen Schnallenschuhen tanzen. Auf Rosa, die im Bett liegt und innerlich verbrennt. Auf den vorübergehend verreisten Karel Pražan; auf Sir David Ellerby und Josef Hoffmann, sogar auf Namenlos und Hassan; denn sind am Ende nicht diejenigen zur größten Vergebung fähig, denen am meisten vergeben wurde?

Die Flasche ist leer. Helen stellt das Glas hin. Jemand öffnet die Tür, der Nachmittag hat seine strenge Kälte verloren. Der Wind, der vom Fluss herüberkommt, wetzt sich nicht mehr an den Dachtraufen, sondern bläht sanft die Markisen der Cafés und Buden. »Wollen wir?«, fragt Helen und steht auf. Thea leert ihr Glas und legt einen Geldschein auf den Tisch. Arnel klappt das Heft zu und schiebt es in seinen Wintermantel.

Auf den Straßen sind viele Menschen unterwegs, aber niemand beachtet Helen. Die Dohlen auf den Fenstersimsen sind anderweitig beschäftigt, Meister Jan Hus spürt den Jahreszeitenwechsel und schüttelt seinen Mantel. Arnel rutscht immer wieder auf dem Kopfsteinpflaster aus, Thea auf den Krücken kommt kaum hinterher. »Hier«, sagt Helen und bietet beiden eine Hand an. Die Strömung trägt einen Touristendampfer vorbei, lässt ihn im Schatten unter einer funkelnden Brücke verschwinden. An Bord spielt Musik, sie weht ans Ufer herüber wie ein Duft. »Kommt«, sagt Helen.

Schau! Mitternacht auf der Moldau. Das Ufer ist weiß von schlafenden Schwänen, und von dem Eis, das sich langsam gen Westen schiebt. Der heilige Johannes von Nepomuk steht auf der Karlsbrücke und hat wenig Ablenkung, im Licht der blühenden Straßenlaternen auf den schwarzen Eisenstängeln sind keine Passanten und keine Liebespaare zu sehen, Kinder dürfen zu dieser späten Stunde sowieso nicht hinaus. Aber ganz menschenleer ist die Brücke nicht; eine einsame Gestalt lehnt an der steinernen Brüstung und schaut in ewiger und absoluter Einsamkeit auf den Fluss hinunter. Stell dir ein schwarzes Schiff in einer Flaute vor, oder den letzten Stern am leeren Himmel. Schlägt das Mitleid Funken in deinem Herzen? Sehnst du dich danach, ihr die Hand zu reichen?

Liebe Leserin, lieber Leser – du kennst sie, du hast sie erwartet. Sie ist die Zeugin, die Frau auf Wanderschaft. Die unerträglich einsame Büßerin, vor deren Augen sich die Niedertracht der Welt entfaltet. Mein Liebling – ich bin es, Melmoth, deren Stimme du nun stundenlang, tagelang gehört hast und die Hoffmanns Manuskript in deine Hände legte. Ich habe dich gebeten, es zu lesen und zu bezeugen – ich habe dir vor Augen geführt, wie verkommen wir sind und wie weit wir uns von allem entfernt haben, das gut und richtig ist. Hast du es denn nicht gewusst? Hast du es nicht geahnt?

Mein liebes Herz, so lange beobachte ich dich schon. Ich war bei dir, wenn du dich als Kind gefragt hast, wie sehr du geliebt wirst. Ich war bei dir, als du im Dunkeln im Bett lagst und dich gewundert hast, ob da am Fußende jemand steht. Keine Träne, die du je vergossen hast, die nicht auch meine Wangen genetzt hätte, keine Freude, die nicht auch mein Herz höherschlagen ließ!

Ach, und ich habe auch gesehen, was du an Verbotenem getan hast. Ich weiß, welche Gedanken dich quälen, wenn du deinen Verstand kaum noch beisammenhalten kannst. Ich weiß, was du nicht beichten willst, nicht einmal, wenn du allein wärst und deine Familie und deine Freunde weit weg. Ich weiß, wie betrügerisch und verlogen du bist, denn mir hast du nie etwas vorgemacht. Ich weiß, wie eitel du sein kannst, wie schwach und launisch und grausam! Was würden die anderen sagen, wenn sie davon wüssten?

Weißt du denn nicht, dass du geboren wurdest, um traurig zu sein? Es ist so sicher, wie Funken aus dem Feuer fliegen. Ich habe es jetzt schon gesehen, ich habe gesehen, wie der Kummer dir die Knochen brechen wird. Aber ich werde dich nicht im Stich lassen, mein Schatz. Auf blutigen Füßen bin ich zu dir gekommen – wer sonst würde dich so sehr wollen?

Mein Herz, mein Liebling – komm, nimm meine Hand. Ich war so einsam!