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ls Lucy in völliger Dunkelheit draußen vor den fest verschlossenen Türen der Northern Lights Lodge stand, erwachten ihre Ängste wieder zum Leben. Die Kälte kroch in ihre Glieder, und ihr Atem bildete weiße Wolken. Was für eine dumme Idee. Wieso hatte sie bloß auf diese dreiste Personalvermittlerin gehört, die nur ihre Prozente im Auge hatte? Wieso war sie nicht bei Daisy in Bath geblieben?
Vor lauter Hysterie musste sie beinahe laut lachen. Weil du verzweifelt warst. Du wusstest, dass es eine dämliche Idee war, und du hattest recht. Hättest du bloß auf dein Bauchgefühl gehört.
Sie blinzelte heftig. Tränen würden ihr auch nicht weiterhelfen. Stattdessen hämmerte sie zum dritten Mal gegen die Tür und verschränkte dann die Finger, toi, toi toi – als würde das irgendetwas nützen. Hoffentlich öffnete endlich jemand. Wieso hatte sie sich vom Taxifahrer unten an der Auffahrt absetzen lassen? Sie hätte ihn warten lassen sollen, aber das Taxi war davongefahren, die Rücklichter waren in der Ferne verschwunden, und nun stand sie hier ganz allein. Auf der Fahrt hierher hatte sie nur zwei Autos gesehen. Zwei! Und beide waren ihnen entgegengekommen.
Sie hätte die Nacht in Reykjavik verbringen sollen.
Zitternd blickte Lucy sich in der Finsternis um. Das einzige Licht kam von ihrem Handy. Nirgendwo ein Lebenszeichen. Als sie nach einer zweistündigen Fahrt in strömendem Regen aus dem Taxi gestiegen war – seit ihrer Ankunft vor drei Stunden regnete es durchgängig –, hatte sie ein tiefes Knurren zu ihrer Linken gehört, und als sie den Schein ihrer Handy-Taschenlampe hinübergeschwenkt hatte, hatte sie in ein Paar gelbe Augen geblickt. Gab es auf Island etwa Wölfe? Der ärmliche Strahl der Taschenlampe hatte den Schemen eines Schwanzes eingefangen, als das Tier davongehuscht war, während sie selbst die Auffahrt hinaufgetapst war und ihren Koffer dabei über die Steine hinter sich hergezogen hatte.
Nun stand sie also da und spähte durch die schmalen Scheiben neben der Holztür. Innen war es vollkommen dunkel. Über sich hörte sie das Rascheln von Gras, das auf dem Dach wuchs – oder waren da noch mehr Tiere? Zu viele Bilder aus Der Herr der Ringe
spukten in ihrem Kopf herum. Bevor sie die Energie ganz verlassen würde, packte Lucy die verzierte Metallklinke und hoffte, dass sie sich entgegen aller Vernunft einfach nur geirrt hatte und die Tür die ganze Zeit offen gewesen war. Es stimmte also nicht, dass die Leute auf Island ihre Türen immer unverschlossen ließen, wie sie es irgendwo gelesen hatte. Noch einmal schlug sie mit der Faust gegen die Tür, dann starrte sie auf ihr Handy und die rapide schwindende Akkuladung. Sie hockte sich auf die Türschwelle, zog ihre Handschuhe aus, die ihr in dieser Kälte nicht viel von Nutzen sein würden, und wählte die einzige Nummer, die sie hatte:
Hotelbesitzer Pedersen, zurzeit in Finnland, hatte ihr die Nummer einer der Hotelangestellten gegeben. Ihr Anruf wurde sofort zur Mailbox umgeleitet, und Lucy lauschte mit wachsender Verzweiflung der offenbar isländischen Ansage bis zum Ende, einem Rauschen von harten Silben und gutturalen Lauten.
Dann holte sie tief Luft und hoffte, dass sie nicht allzu panisch klang: «Hi, hier ist Lucy Smart aus England. Es ist 23 Uhr, und ich bin an der Lodge angekommen, aber offenbar ist niemand hier.» Sie hatte eine E-Mail mit ihren Ankunftszeiten geschickt und eine Bestätigung von jemandem namens Hekla Gunnesdóttir erhalten. Ihre Hand zitterte, so fest umklammerte sie ihr Handy. «Es wäre nett, wenn Sie mich zurückrufen könnten», sagte sie höflich, während sie am liebsten gebrüllt hätte: Wo zum Henker sind alle?
Natürlich musste sie höflich bleiben, dachte sie grimmig, immerhin sollte sie mit diesen Leuten hier arbeiten. Ein guter erster Eindruck war wichtig. Mehr als das: Sie musste die Leute dazu bewegen, sie über die zwei Monate hinweg zu behalten. Sie musste mindestens ein Jahr überstehen, um ihren Lebenslauf wieder aufzupeppen. Und außerdem wusste sie nicht, wo sie sonst hinsollte.
Zehn Minuten später, in denen Lucy ängstlich auf ihr Handy gestarrt hatte und dabei hin und her gelaufen war, um sich warm zu halten, war der Akku leer. Aber immerhin hatte der Regen aufgehört, das war ein kleiner Trost. Lucy wog die wenigen Möglichkeiten ab, die sie hatte. Erstens: Sie konnte zur Straße zurückgehen und schauen, ob
sie irgendeine andere Behausung fand, auch wenn in der Nachbarschaft keinerlei Licht zu sehen war. Zweitens: Sie konnte hierbleiben und hoffen, dass jemand ihre Nachricht abhörte; oder drittens: Sie konnte einfach einbrechen.
Wolken zogen über den nächtlichen Himmel und gaben hier und da Teile eines sternenübersäten Universums frei. Die Menge an winzigen Lichtern war erstaunlich. Hier gab es keine Lichtverschmutzung. So viele Sterne hatte Lucy noch nie zuvor gesehen, in einer der Wolkenlücken meinte sie sogar eine Sternschnuppe zu erkennen – aber möglicherweise halluzinierte sie schon, so kalt, wie ihr war.
Nun, wo ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und die Kälte langsam ihre Finger und Zehen betäubte, beschloss sie, um das Gebäude herumzugehen. Vielleicht konnte sie eine unverschlossene Tür finden. Zitternd vor Kälte ging sie die Vorderseite des Hauses entlang. Nicht mehr lange, und sie würde mit einem Stein eines dieser herrlichen deckenhohen Fenster einschlagen.
Als sie um die Ecke bog, senkte sich der Boden steil ab, und sie stolperte, doch hinter der nächsten Hausecke konnte sie einen schwachen Schein erkennen, als wäre dort ein Licht.
Langsam tastete Lucy sich den steilen Weg hinab und rutschte auf dem losen Kies aus. Jeder knirschende Schritt und jeder rollende Stein tönte laut in der Stille und machte sie nervös und orientierungslos. Immer wieder blieb sie stehen und meinte, Wasser plätschern zu hören, doch das Geräusch sprang in der Dunkelheit hierhin und dorthin und war nicht zu lokalisieren. Sie legte den Kopf zur Seite, lauschte angestrengt und machte dann noch ein paar
Schritte. Ah, ein Holzfußboden. Sie schien auf einer Art Veranda zu sein. Und dann trat sie ins Leere.
Als sie mit rudernden Armen und dem Gesicht voran nach vorn fiel, erkannte sie das Glitzern von Wasser und wappnete sich gegen den Kälteschock.
Ohne das Gewicht ihrer Kleider und den Schrecken, mit dem Kopf zuerst in schultertiefes Wasser zu stürzen, wäre das warme, nein, heiße Wasser vielleicht sogar recht angenehm gewesen – abgesehen davon, dass ein ganzer Schwung davon in Lucys Nase gelangt war und sie einen tiefen Schluck genommen hatte. Keuchend und spuckend tauchte Lucy wieder auf. Wie unangenehm. Ihr Kopf fühlte sich im Vergleich zu diesem warmen Kokon halsabwärts noch kälter an. Die Wärme umströmte Lucys Finger und Ohren wie feine Nadeln so schmerzhaft, als der Schein einer Taschenlampe um die Ecke hüpfte und dann weiter über den Kiesweg, bis ihr das Licht voll ins Gesicht schien und sie blendete.
«Die Thermalbecken sind nach 21 Uhr geschlossen», rief eine tiefe Stimme amüsiert, während der Lichtschein und daneben ein weiterer näher und näher kamen. Lucy fühlte sich unangenehm unterlegen. Sie wäre am liebsten im Wasser versunken.
Ihr durchweichter Parka zog an ihr wie eine mit Steinen gefüllte Bettdecke, ihre halbhohen Stiefel schwammen bei jedem Schritt beinahe davon, und ihre Jeans würgte ihre Oberschenkel, während sie auf den Rand des Beckens zuwanderte.
«Hier sind Stufen», sagte eine zweite, sehr melodische
Stimme und deutete Lucy mit Hilfe einer weiteren Taschenlampe den Weg zu den Stufen, die aus dem Wasser führten.
Lucy straffte die Schultern und watete mit so viel Würde, wie es ihr trotz nasser Kleidung und aufsteigender Tränen möglich war, durch das Wasser auf das hölzerne Geländer zu.
Plötzlich gingen in der Umgebung die Lichter an und beleuchteten den ganzen Bereich. Lucy befand sich in einem Heißwasserbecken von der Größe eines kleinen Swimmingpools, eingerahmt von Holzplanken und zwei Treppen, die ins Wasser hineinführten. Über ihr am Rand standen zwei Personen, warm eingepackt gegen die kalte Nachtluft.
«Geht es Ihnen gut?», fragte der Mann. Er kam herüber und streckte Lucy eine Hand entgegen. Dann griff er nach ihrem Arm und half ihr, das Gewicht des tonnenschweren Mantels zu tragen.
Nette Augen
, dachte Lucy, als sie in das besorgte Gesicht über dem karierten Wollschal sah, und ließ sich die Stufen hinaufziehen.
«Wir bringen Sie schnell rein, bevor Sie abkühlen. Die Wärme hält sich nicht lange.»
Und was für eine nette Stimme! Der sanft rollende schottische Akzent war ein schöner Gegensatz zu dem festen Griff, mit dem der Mann mit den schönen braunen Augen Lucy hochzog und sie über die Holzplanken führte.
«Danke», sage sie und befreite sich aus der Umklammerung, obwohl sie das aus irgendeinem Grund gar nicht wollte. In letzter Zeit war sie ein wenig zu kurz gekommen,
was Nettigkeiten anging. «Mir geht’s gut», fügte sie etwas bissig hinzu. Nach allem, was sie dieses Jahr durchgemacht hatte, würde sie nie wieder irgendetwas für bare Münze nehmen. Schon gar nicht Nettigkeit.
«Ich heiße Alex.» Der Mann hielt immer noch seinen Arm an ihrer Seite, als wolle er sie auffangen, falls sie stolperte. «Und das ist Hekla. Es tut mir sehr leid, dass niemand an der Rezeption war. Wir haben heute gar nicht mit Gästen gerechnet.»
«Nein, das ist wirklich merkwürdig. Haben Sie gebucht?», fragte Hekla mit ihrer schönen Stimme.
«Ich bin kein Gast. Ich …» Lucy schluckte. Nicht weinen.
Es war schlimm genug, dass sie von Kopf bis Fuß tropfte. «Ich bin die neue Managerin, Lucy Smart.» Sie streckte automatisch die Hand aus, ließ sie aber sofort wieder fallen, als ihr klar wurde, wie lächerlich das wirken musste, wo ihr das Wasser aus den Ärmeln tropfte.
«Oh!», rief die Frau überrascht. «Wir haben Sie erst nächste Woche erwartet.»
«Es wurde alles per E-Mail bestätigt», sagte Lucy scharf. Sie wollte nicht den Eindruck vermitteln, unorganisiert zu sein oder verwirrt.
«Wir erhielten gestern einen Anruf, dass Ihre Pläne sich geändert haben und Sie erst nächste Woche kommen.»
«Nun, um mich ging es dabei sicher nicht», erwiderte Lucy.
«Dann war es wohl das Huldufólk. Sucht Ärger.» Hekla machte ein ernstes Gesicht und nickte. «Aber jetzt sind Sie hier, und wir sollten Sie schnell ins Haus bringen.» Dann fügte sie mit schelmischem Zwinkern hinzu, das Lucy in
einem früheren Leben vielleicht bezaubernd gefunden hätte: «Denn die heißen Quellen besucht man am besten bei Tageslicht.»
«Ich hatte bereits eine halbe Stunde darauf gewartet, dass mir jemand aufmacht», murmelte Lucy, während sie über die Veranda platschte. Das Wasser quoll aus ihren Lieblingsstiefeln, und dicke Dampfwolken stiegen aus ihren durchweichten Kleidern auf. Ganz toll. Diese Leute waren offensichtlich ihre neuen Kollegen. Das war es dann wohl mit dem guten ersten Eindruck.
«Aber die Tür steht offen», sagte Hekla. «Sie ist immer offen.» Ihre Äußerung ließ Lucy noch mehr an sich zweifeln. Die Tür war definitiv abgeschlossen gewesen, oder etwa nicht? Sie war ganz sicher. Sie hatte alles versucht.
«Nun, heute aber nicht», knurrte Lucy mürrisch. «Warum sollte ich wohl sonst im Stockdunkeln herumwandern und einen anderen Weg ins Hotel suchen?»
Die Tür war definitiv verschlossen gewesen. Aber ihre scharfe Entgegnung blieb ohne jede Wirkung, da sie gleich darauf auf dem Holz ausrutschte. Sie biss sich auf die Lippen und senkte den Kopf, als würde sie sich auf den Weg konzentrieren und nicht darauf, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.
«Hey, nehmen Sie meine Hand», sagte Alex sanft. Sie schaute kurz zu ihm hoch. In seinen freundlichen Augen lag Wärme und Mitgefühl, als er ihren Ellenbogen nahm. Er sah sie ernst an, ein wenig zu lange, als könne er direkt durch sie hindurchsehen bis zu dem Elend tief in ihrer Brust. Als er ihr aufmunternd zulächelte, hatte sie das Gefühl, ein kleiner Fisch würde in ihrem Bauch herumspringen.
So gern sie Alex’ sanften Griff um ihren Arm aus lauter Selbsterhaltungstrieb abgeschüttelt hatte, so sehr hatte sie dieser Blick berührt. Lucy ließ sich von Alex den Weg zum Hotel hinaufführen und versuchte, es nicht allzu sehr zu genießen, dass sich zur Abwechslung mal jemand um sie kümmerte.
Atemlos riss sich Lucy ihre durchweichten Sachen vom Leib, während sie sich in ihrem gemütlichen Apartment umsah. Sie bohrte ihre Zehen in einen der weichen Teppiche aus Schafwolle, die auf dem honigfarbenen Dielenboden lagen. Was für eine schöne Personalwohnung.
Hekla, die mit ihren flachsblonden Haaren offensichtlich aus einer königlichen Wikingerfamilie stammte, hatte Lucy durch das Hotel zu ihrer Unterkunft geführt. Hängengeblieben waren flüchtige Eindrücke von Holzbalken, luftigen öffentlichen Bereichen und großen Glasfenstern. Ihre neue Kollegin hatte alle möglichen Informationen heruntergerattert, von denen Lucy sich nur einige merken konnte. Alex arbeitete als Barmann. Hekla als stellvertretende Hotelmanagerin. Sie nannte noch weitere Namen, von denen manche direkt aus der isländischen Mythologie zu stammen schienen: Brynja, Olafur, Gunnar, Erik, Kristjan, Elin und Freya – sie alle arbeiteten im Hotel, das nur zur Hälfte belegt war. Aber bald würde die Zeit der Polarlichter beginnen, dann hätten sie wieder mehr zu tun.
Lucy ging in ihr herrlich warmes Badezimmer. Es war zum Niederknien und hatte ein ausgesprochen luxuriöses Design mit dem rustikalen Holzwaschtisch, in den ein rundes Waschbecken eingelassen war, den schwarzen
Bodenfliesen und der großen, viereckigen ebenerdigen Dusche mit Wasserfall-Duschkopf, wie sie erfreut feststellte, als sie die Armatur bediente.
Sie trat unter den Wasserstrahl und senkte den Kopf, um das heiße Wasser über ihre Haare strömen zu lassen. Ganz toll, Lucy. Du hast einen großartigen Eindruck auf deine neuen Kollegen gemacht.
Wieso hatten sie geglaubt, sie würde erst nächste Woche kommen? Sie mussten sie für völlig verplant halten. Aber sie hatte sich doch nicht wirklich im Datum geirrt, oder? Zugegeben, in letzter Zeit war sie ziemlich neben der Spur gewesen, und ihr ehemals berühmtes Organisationstalent hatte ganz schön gelitten; aber sich so im Datum zu irren? Nein, unmöglich. Und die Tür war definitiv verschlossen gewesen.
Nachdem sie ausgiebig geduscht und sich mit dem dicken, weichen Handtuch abgerubbelt hatte, fühlte Lucy sich schon viel besser. Auch wenn der Anblick des Büschels im Abfluss mal wieder deprimierend war.
Sie föhnte ihre Haare vorsichtig trocken, aus Angst, noch mehr zu verlieren, und vermied den Blick in den Spiegel, denn sie wusste, ihr würde ein Schreckgespenst entgegensehen. In den letzten Monaten hatten sich tiefe Schatten in ihr Gesicht gegraben, die ihre Wangenknochen hervortreten ließen, und die dunklen Ringe um ihre Augen gaben ihr das Aussehen eines unheimlichen Pandas. Dazu kam leichte Übelkeit, die sie ständig begleitete.
Ihre ausgehöhlten Züge schienen den Scherbenhaufen ihres Lebens widerzuspiegeln, in dem sie sich gerade befand. Sie legte den Föhn zur Seite und schaute durch die
Badezimmertür auf die pure Versuchung in Form eines Doppelbettes, das sie mit seiner dicken weißen Baumwollbettdecke und dem hellblauen Wollplaid zu sich zu rufen schien.
Doch bevor sie ihrer Schläfrigkeit nachgab, schaute sie sich ihr neues Zuhause an. Trotz ihrer Niedergeschlagenheit hob sich ihre Stimmung. Gegenüber dem Doppelbett mit seinem schönen Holzrahmen befand sich ein offener Kamin, der von Panoramafenstern eingerahmt wurde – so etwas hatte sie noch nie gesehen. Vielleicht war das typisch isländisch? Der eindrucksvolle Kamin war aus rustikalen Steinen gebaut, und der Sims zog sich bis ganz nach oben zur dreieckigen Spitze der abfallenden Holzdecke hinauf. Der Raum wirkte dadurch hoch und luftig, doch das honigfarbene Holz an Wänden und Decken sowie die weichen Teppiche und bunten Wollstoffe, die an den Wänden hingen, vermittelten Wärme und Gemütlichkeit.
Rechts befand sich eine kleine Sitzecke mit einem Sofa, auf dem eine weiche Kaschmirdecke lag, in die man sich herrlich einkuscheln konnte, wenn es draußen kalt war; dazu zwei Sessel vor dem Kamin, und dahinter ein kompakter Küchenbereich mit Tresen und zwei Hockern.
Müde lächelnd gab Lucy sich selbst das Versprechen, sich an ihrem ersten freien Tag in diese Kaschmirdecke einzukuscheln, ein Feuer zu machen (was sie erst noch lernen musste) und den Flammen zuzusehen.
Sie kletterte in die kühlen hellen Laken und sank in die weiche Umarmung der Matratze. Als ihr Kopf in die Federkissen fiel und die Decke sich um sie legte, stieß sie einen
tiefen Seufzer aus. Hör auf zu denken
, befahl sie sich. Wie üblich weigerte sich ihr Hirn mitzuspielen und quälte sie stattdessen mit Bildern: wie sie einem begossenen Pudel gleich aus dem heißen Becken stieg. Wieder seufzte sie und drehte sich auf die Seite, genoss das herrlich weiche Bett und spürte, wie sie in den Schlaf sank. Was mussten Hekla und Alex wohl von ihrer neuen Chefin denken? Schlimmstenfalls hielten sie sie für einen ungeschickten, verwirrten Tollpatsch. Sie hatten keine Ahnung von Lucys Vergangenheit … noch nicht. Unter der Bettdecke kreuzte sie die Finger. Hoffentlich würden sie nie davon erfahren. Sie schluckte die Tränen hinunter, die wie aus dem Nichts aufgestiegen waren. Würde Alex sie ebenso freundlich ansehen, wenn er dieses verdammte Video je zu Gesicht bekam? Würde Heklas Lächeln sich in einen Ausdruck von Ekel verwandeln, wenn sie Lucys Namen googelte? Lucy presste die Augen zu und drückte sich noch tiefer in die Matratze. Und schließlich fiel sie im weichen Kokon ihres Bettes in einen tiefen Schlaf.
Etwas hatte sie geweckt. Verwirrt lag Lucy in ihrem Bett, während sich das Gewicht der Stille auf sie legte. Sie brauchte ein paar Sekunden, bevor sie sich daran erinnerte, wo sie war. Island. Mitten im Nirgendwo. Stirnrunzelnd schob sie die hellgrüne Decke zur Seite, deren Wärme sie jetzt zu ersticken drohte. Moment – die Bettdecke war grün? Verwirrt sah sie sich in ihrem Zimmer um, das von einem sanften, grünlichen, überirdisch scheinenden Licht erfüllt war. Sie brauchte einen weiteren Augenblick, um zu begreifen. Auf ihre Ellenbogen gestützt, schaute sie
schläfrig aus den Fenstern. Wow! Hellwach setzte sie sich auf. Kühle Luft strich über ihre Schultern.
Eine stumme Symphonie aus pulsierendem grünen Licht erhellte den dunklen Himmel und wirbelte in leichten Wellen darüber hinweg. Lucy sprang aus dem Bett, nahm die Wolldecke vom Sofa, wickelte sie sich um die Schultern und tapste zum Fenster. Gebannt von dem Schauspiel da draußen, legte sie eine Hand auf das eiskalte Fensterglas, als könne sie den Pfad der tanzenden Lichter mit den Fingern nachfahren. Ihr Herz weitete sich, während sie gebannt verfolgte, was sich am Himmel abspielte.
Das magische Licht beleuchtete eine schattige Landschaft, in der das Meer in einem Bogen auf das Land traf, und tauchte die Klippen in kühle Farben. Lucy zog die Decke fester um sich und sank auf den Boden, wie verzaubert von dem Spektakel.
Wie Seide, die im Wind flattert, tanzten die Lichter. Allein vom Zuschauen bekam Lucy Gänsehaut. Der Anblick erfüllte sie mit einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit. Alle Sorgen und Ängste der letzten Monate schienen auf einmal belanglos und klein vor diesem Naturschauspiel. Wie viele Tausende von Jahren trat die berühmte Aurora borealis wohl schon auf und wie hatten die alten Völker sie wohl gedeutet? War es Magie für sie gewesen? Hatten sie sie als göttliches Zeichen interpretiert? Lucy hob den Kopf, sie fühlte sich auf einmal gestärkt von der kosmischen Energie. Da draußen lag ein ganzes Universum, und sie war nichts weiter als ein winziger Fleck im großen Ganzen. In diesem Moment war sie nichts und gleichzeitig alles, ein Teil im Kreislauf der Natur.
Sie ballte die Faust. Anstatt ihre Anwesenheit auf Island als Strafe zu betrachten, würde sie etwas für sich daraus machen. Es war ihre zweite Chance. Sie würde sich nicht von ihren Fehlern beeinflussen lassen. Dies hier war ein Zeichen, da war sie sich sicher. Sie würde die Herausforderung annehmen und all ihr Können und ihre Erfahrungen dafür nutzen, dass die Menschen, die in die Northern Lights Lodge kamen, einen unvergesslichen Aufenthalt erlebten.