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lex setzte sich auf eine kantige Felsnase, ließ eine Hand auf seinem Oberschenkel ruhen und betrachtete das Handy in seiner anderen Hand mit der Begeisterung eines Mannes, der gleich einen wütenden Boss anrufen muss. Die frische, kalte Luft, die nach Schnee roch, kniff in seine Wangen. Es war schön, draußen zu sein, nachdem es gestern den ganzen Tag geregnet hatte; allerdings hatte er in den letzten zwei Wochen gelernt, dass man sich hier nicht auf das Wetter verlassen konnte. In der einen Minute regnete es aus tiefschwarzen Wolken, dann blies der Wind plötzlich alles fort, und ein strahlend blauer Himmel mit Sonnenschein kam zum Vorschein. Er hatte den Wetterumschwung genutzt, um sich an diesem trockenen Tag ein wenig Erholung zu gönnen. Auch wenn die gleich schwinden würde.
Seufzend schaute er hinaus über die aufgewühlte See. Er genoss das laute Getöse der Wellen, die sich an den Felsen brachen, und wünschte, er könnte die saubere, frische Luft noch ein wenig länger genießen, ohne sie mit Business-Talk zu vergiften und mit einer Unterhaltung, die ihm Übelkeit verursachte. Er hatte schon den ganzen Morgen mit seinem Gewissen gekämpft, und eigentlich hätte das nicht lange dauern sollen, aber sein bescheuertes Nettigkeits
-Gen kam ihm ständig in die Quere. Er betrachtete den Horizont, wo sich der Himmel mit der
Wasseroberfläche vereinigte, und drückte dann die Wähltaste auf seinem Handy.
Murphys Gesetz folgend, war die Verbindung nach Paris störungsfrei. «Hey, Alex, das wird aber auch Zeit. Ich habe dich schon vor zwei Stunden angerufen.»
«Manche von uns müssen arbeiten, Quentin.»
«Arbeiten! Was zur Hölle soll das? Du sollst für mich
arbeiten. Als wir das letzte Mal gesprochen haben, hast du davon nichts gesagt.»
«Da war der neue Hotelmanager ja auch noch nicht da. Was hast du denn geglaubt, was ich hier mache? Soll ich zwei Monate lang in einem der Gästezimmer abhängen? Außerdem habe ich so eine bessere Ausrede, wenn ich schnüffel, und ich kann dir einen anständigen Bericht schreiben. Ich habe Zugang zu allen Bereichen, was als Gast etwas schwierig gewesen wäre.»
«Lieber Gott, bitte sag mir nicht, dass du der Hilfskellner bist.»
«Nein … hier gibt es gar keinen. Ich bin Barmann und Oberkellner.»
«Ehrlich, McLaughlin, was soll das? Hättest du nicht Schriftsteller spielen können oder wenigstens zumindest einen verdammten Ornithologen?»
«Da ich von beiden Berufen keine Ahnung habe, wäre es ein wenig schwierig gewesen, die Rolle zu spielen», erwiderte Alex trocken. «Außerdem muss ich was tun. Nichtstun macht mich wahnsinnig, und ich finde es auch nicht schlimm, mir die Hände schmutzig zu machen. Niemand achtet auf mich. Ich kann so ziemlich machen, was ich will.»
«Na wart’s ab, bis der neue Manager angekommen ist. Pedersen hat mir gesagt, dass er jemanden eingestellt hat.»
«Er ist eine Sie, und sie ist angekommen. Sie ist definitiv angekommen.» Alex dachte an seine erste Begegnung mit Lucy Smart, als sie wie eine ramponierte Meerjungfrau aus dem heißen Becken aufgetaucht war; wie ihr die langen Haare am Gesicht geklebt hatten, und wie sie seine Hilfe nur zögernd angenommen hatte. Er hatte immer noch nicht verstanden, wieso sie darauf beharrt hatte, dass die Eingangstür verschlossen gewesen war, selbst als sie in die Eingangshalle zurückgekehrt waren und die Tür eindeutig offen war.
«Und?»
Alex runzelte beim Gedanken an Lucy und ihren Einhorn-Zauber die Stirn, stand vom Felsen auf und ging am Ufer entlang.
«Sie hat auf jeden Fall einen unorthodoxen Angang, wenn es darum geht, Probleme zu lösen.»
«Von unorthodox halte ich nichts», knurrte Quentin, was nicht ganz glaubwürdig war, wenn man bedachte, dass er selbst den Markt mit ungewöhnlichen Mitteln für sich gewann. «Hat sie den Laden im Griff?»
«Sie ist erst gestern angekommen», sagte Alex ausweichend. Wenn es nach ihm ging, hätten die Angestellten eine klarere Ansage gebraucht. Sie musste doch wohl erkennen, dass sie mit dieser Elfengeschichte nur veräppelt wurde. Eine gute Hotelmanagerin hätte das Thema sofort beendet und klargestellt, dass sie sich mit solchem Unsinn nicht abgeben würde. Sie würde sich nur Ärger einhandeln,
auch wenn er zugeben musste, dass ihre spontane Lösung ziemlich clever gewesen war.
«Ich dachte, sie sollte erst nächste Woche kommen.»
«Irgendeine Verwechslung.» Alex wand sich. Das war wirklich seltsam. Er war dabei gewesen, als Hekla den Anruf erhielt. Warum sollte jemand anders anrufen und das Ankunftsdatum ändern? Lucy musste sich umentschieden haben, hatte jemanden an ihrer Stelle anrufen lassen und dann wieder anderes beschlossen – was gab es sonst für eine Erklärung?
«Na, das beruhigt mich nicht gerade. Glaubst du, sie ist gut genug? Ich will eine ehrliche Antwort, kein Ausweichmanöver.»
Alex schürzte die Lippen und kickte einen kleinen Stein zur Seite. Er hüpfte über die anderen grauen Steine auf dem Kiesstrand. Quentin wartete, Stille breitete sich aus. Alex kannte die Taktik seines Chefs. Quentin wäre ohne seine Cleverness nicht zum multimillionenschweren Besitzer der Oliver Group geworden, die eine Kette von Boutiquehotels besaß. Er wollte eine ehrliche Einschätzung des Hotelpotenzials – was getan werden musste, um es den Standards der Oliver Group anzupassen, und ob Lucy und die jetzigen Angestellten dafür die richtigen Leute waren. Und wenn Alex ehrlich war, dann war er momentan noch nicht davon überzeugt.
Irgendetwas an Lucys abgehetztem Verhalten beunruhigte ihn. Und gestern Nacht war sie so brüsk und abweisend gewesen, so unwillig, irgendwelche Hilfe anzunehmen. Offenbar war sie eine Einzelgängerin, und sie wirkte nicht robust genug für diesen Job. Die Arbeitszeiten waren
lang, und der Beruf verlangte Marketing, Budgetierung, das Management des Gebäudes und der Angestellten. Ganz zu schweigen davon, dass eine gute Hoteldirektorin die ganze Zeit ansprechbar sein musste, und zwar sowohl für die Angestellten als auch für die Gäste. Aber sollte er Quentin von seinen Zweifeln berichten? Er bückte sich, hob einen flachen Stein auf und flitschte ihn übers Wasser. Er sprang dreimal über die Oberfläche – soll ich? Soll ich nicht? Soll ich?
Beim vierten Aufprall versank der Stein und entschied die Sache.
«Das kann man noch nicht sagen», antwortete er zugeknöpft. Und das stimmte ja auch.
«Glaubst du, sie hat das Zeug dazu?», bedrängte Quentin ihn.
Nein
, dachte Alex, aber stattdessen krauste er die Nase und war froh, dass Quentin ihn nicht sehen konnte. «Ich weiß es noch nicht.»
«Komm schon.» Quentin stöhnte. «Jetzt lass mich nicht zappeln. Du bist ein guter Menschenkenner. Red nicht um den heißen Brei rum. Wie ist dein erster Eindruck?»
Alex seufzte. Er schuldete Quentin viel. Sein Chef war ein großes Risiko eingegangen, als er Alex sein erstes großes Hotel übergeben hatte, obwohl Alex der jüngste und unerfahrenste Kandidat gewesen war. Heute waren sie praktisch – nein sie waren
eine Familie. Er nahm einen zweiten Stein auf und ließ ihn über die Wasseroberfläche hüpfen. «Es gibt ein paar Themen – ich muss erst sehen, wie sie die angeht.» Allerdings hatte Lucy ihren ersten Tag
nur im Büro verbracht und war die Papiere durchgegangen. Wenn Alex der Manager wäre, dann würde er sich als Erstes um die kleinen Veränderungen kümmern, die die Gäste – die immerhin ihre Gehälter bezahlten – sofort merkten. Er würde mehr Personal fürs Frühstück abstellen, damit die Gäste morgens schneller aus dem Hotel kamen; würde dafür sorgen, dass die Zimmer bis zum Mittag gemacht waren, dass die Feuer in den Gemeinschaftsräumen am Nachmittag brannten, wenn die Gäste zurückkehrten, und er würde den Gästen bei der Ankunft einen Drink auf Kosten des Hauses spendieren, um sie zu ermuntern, am Abend die Bar zu besuchen. Aber vielleicht brauchte sie dafür noch etwas Zeit.
«Was würdest du denn tun, wenn du der Manager wärst? Als Allererstes.»
Erleichtert vom Richtungswechsel des Gesprächs, runzelte Alex nachdenklich die Stirn. Mit Nettsein kommt man nicht weit.
Der Wind riss an seinen Haaren und blies sie ihm in die Augen, als er den Kopf zurückdrehte, um das Gebäude oben auf dem Berg zu betrachten. Die Lodge könnte so großartig sein. «Die Personalführung ist ein Problem. Niemand kümmert sich um die Dienstpläne. Alles geschieht auf den letzten Drücker. Darum würde ich mich kümmern. Und ich würde eine Liste der fälligen Schönheitsreparaturen machen, denn das Gebäude sieht nicht besonders ansprechend aus. Und damit hätte ich schon gestern angefangen. Ich würde sagen, die neue Managerin hat es noch nicht erfasst.»
«Hast du dir die letzten TripAdvisor-Bewertungen
angesehen?», fragte Quentin und wechselte wieder das Thema, wie es so seine Art war.
«Nein.» Das war auch nicht nötig – er sah die Reaktionen der Gäste auch so. Sie waren nicht gerade begeistert.
«Nicht besonders toll. Nicht schlecht, aber bla, bla, bla. Wenn sie wenigstens richtig schlecht wären, dann könnte man damit arbeiten. Mittelmaß ist das Schlimmste. Wann, glaubst du, kannst du mir einen detaillierten Bericht schicken? Ich bereue langsam, dass ich das Hotel gekauft habe.»
«Der Kauf ist doch noch nicht abgeschlossen, oder?»
«Nein, aber bald. Pedersen ist ein ausgefuchster Mistkerl, und ich kann immer noch zurücktreten, aber … was meinst du? Es hat Potenzial, oder? Ich dachte, Island würde unser Portfolio in eine neue Richtung ausweiten.»
«Es hat großes Potenzial. Es muss nur ordentlich geführt werden», antwortete Alex. «Warum wartest du nicht, bis ich ein bisschen mehr gesehen habe?», schlug er vor, auch wenn er es nicht besonders genoss herumzuschnüffeln. Er hasste diese Heimlichtuereien, aber in diesem Fall musste es sein. Er wusste, dass direkte Fragen das Personal in die Defensive bringen konnten, wodurch Dinge verheimlicht wurden und man kein authentisches Bild bekam. Und wenn jemand herausbekam, dass die Oliver Group Interesse daran hatte, das Hotel zu kaufen, dann würde das unter den Wettbewerbern zu Spekulationen führen, und viele würden versuchen mitzubieten und den Preis damit nach oben treiben. «Ich schicke dir meinen Bericht in den nächsten Wochen. Ich muss noch mehr darüber herausfinden, was mit dem Housekeeping los ist.»
«Offenbar nicht viel, wenn man sich die Bewertungen ansieht. Ich hätte dir den Job geben sollen», sagte Quentin.
«Das wäre ein bisschen schwierig geworden, so lange dir das Hotel nicht gehört. Und außerdem wartet ein hübsches 5-Sterne-Hotel in Paris auf mich. Wie läuft es da? Irgendein Fortschritt?»
«Nichts, und davon kriege ich noch Magengeschwüre. Diese Bürokraten! Sie wollen einfach keine Ausnahme machen. Sie sind sich immer noch nicht über das Alter des Skeletts im Klaren. Alle Arbeiten mussten gestoppt werden. Es wird noch dauern, bis der Fußboden gelegt und trocken genug ist, um das Hotel zu eröffnen.»
«Na, zumindest kann ich mir währenddessen hier die Polarlichter anschauen.»
«Ich brauche dich demnächst wieder hier, um alles zu beaufsichtigen. Mach es dir da oben nicht zu gemütlich.»
«Keine Sorge.»
«Gut.» Und damit beendete Quentin das Gespräch.
Alex schaute zurück zum Hotel, das am Rand der kleinen Klippe über dem Meer hockte. Es war ihm zuvor nie in den Sinn gekommen, doch eines Tages könnte er vielleicht an einem solchen Ort leben. Es war nicht sein Hotel-Typ, aber es lagen ein gewisser rustikaler Charme und eine überirdische Magie darin, die ihn faszinierten. In Paris zu arbeiten, war eine Herausforderung und sicherlich nicht langweilig, aber er merkte, dass das neue Hotel eigentlich nur eine Wiederholung sein würde. Glatte Eleganz. Nichts Unerwartetes. Kein Abenteuer. Er war weit gekommen, wenn man bedachte, dass er als Barmann im familieneigenen
Hotel angefangen hatte – einem kleinen, aber anspruchsvollen ehemaligen Burghotel am Rande von Edinburgh, das ihm eines Tages gehören würde. Er träumte davon, ein Hotel daraus zu machen, das dem berühmten Gleneagles Konkurrenz machen würde. Bis er das Hotel von seiner Mutter übernahm, irgendwann in weiter Zukunft, würde er die besten Erfahrungen sammeln.
Wie ein Schlag traf ihn auf einmal die Erkenntnis, dass er die scharfe, frische Luft vermisste, das Geschrei der Möwen über seinem Kopf, den Geruch vom Meer. Sein Zuhause, selbst nach Jahren in Frankreich, der Schweiz und Italien, war immer noch das Leith-Ufer in Edinburgh, wo das Geräusch der Wellen in seinen Ohren dröhnte. Als er hier auf dem feuchten Felsen auf Island saß, vermittelte ihm der bekannte Klang des Meeres ein heimatliches Gefühl. Er vermisste den Rhythmus der Wellen, den böigen Wind und den weiten Himmel. In der Stadt vermisste er die Hügel, und die felsigen Klippen hinter ihm erinnerten ihn an den Berg Arthur’s Seat in Schottland. Es überraschte ihn, wie wenig er Paris vermisste und wie schnell ihm die herrliche Landschaft und die rustikale Lodge ein Gefühl von Zuhause vermittelten … Das war wirklich völlig albern, immerhin hatte er einen großartigen Job, der in einer der schönsten Städte der Welt auf ihn wartete. In einem Hotel wie diesem hier zu arbeiten, wäre ein totaler Rückschritt. Niemals würde er das auch nur in Erwägung ziehen.