Kapitel 8
A ls Lucy aufwachte, lag sie eine Weile im Bett und schaute aus dem Fenster. Obwohl es noch dunkel war, wurde der wolkenverhangene Himmel von einem seltsamen Licht erhellt. Vielleicht sollte sie heute einfach im Bett bleiben, die Wolken betrachten und der Schwere ihres eigenen Körpers nachgeben. Ihre Sorgen holten sie ein. Nach beinahe zwei Wochen hier brauchte sie morgens immer noch eine Weile, um in Schwung zu kommen. Der ständige Wechsel der vorigen Hotelmanager hatte zur Folge, dass vieles liegengeblieben war. Und an diesem Morgen schien selbst das Zurückschlagen der Bettdecke anstrengend. Minuten verstrichen, zehn, dann zwanzig. Sie blinzelte durch das Fenster – war das eine Schneeflocke?
Sahen die Wolken deshalb heute so anders aus, weil sie voller Schnee waren? Sie schaute den vereinzelten Schneeflocken bei ihrem sanften Fall zur Erde zu. Kindliche Aufregung stieg in ihr auf, und sie zuckte zusammen. Früher hätte sie beim ersten Anblick von Schnee ihre Stiefel angezogen, sich dick eingemummelt und wäre so schnell wie möglich nach draußen gelaufen; doch der dunkle Schneematsch in der Stadt hatte die Magie für sie zerstört.
Seufzend zwang sie ihren steifen Körper dazu, auf die Seite zu rollen; sie schwang die Beine aus dem Bett und setzte sich auf. Sie musste aufstehen. Sie brauchte diesen Job. Es war doch albern – die Filmcrew hatte sicherlich kein Interesse an ihr. Sie würden die hübsche Aussicht filmen und das Hotel als Basis nutzen. Sie war wirklich albern. Sie wiederholte die Worte wieder und wieder, wie eine Litanei, und schleppte sich in die Dusche.
Nachdem sie angezogen war, verließ sie ihr Zimmer, und als sie den Gemeinschaftsbereich des Personals durchquerte, brachte sie ein lauter Ruf zum Stehen.
«Lucy! Lucy!», rief Hekla mit ihrer üblichen stürmischen Begeisterung.
«Morgen», antwortete sie steif, als ihr die strahlende Haut und die glänzenden Augen der jungen Frau auffielen, die in starkem Kontrast zu ihrer eigenen müden Erscheinung standen.
«Kommen Sie.» Hekla schob den Arm durch den von Lucy. «Ich möchte Ihnen zeigen, was ich hier am liebsten mag. Na ja», fügte sie dann hinzu, «nicht, was ich am liebsten mag, aber was ich auch sehr gernhab.» Und damit zog sie Lucy wie einen Bernhardiner auf Rettungsmission mit sich in Richtung Hauptgebäude des Hotels.
Lucy, die dieser Begeisterung nichts entgegenzusetzen hatte, ließ sich widerstandslos zum langen Glaskorridor schleppen, der die beiden Gebäude verband.
Hekla blieb stehen, legte den Kopf zurück und breitete die Arme aus, sodass ihre Finger beinahe die Fenster zu beiden Seiten berührten. «Es fühlt sich an, als wäre man draußen, aber man ist es nicht.» Sie grinste Lucy mit kindlicher Freude an, während sie die Arme wie ein Schnee-Engel auf und ab bewegte. «Schauen Sie.»
Draußen hatte der Schnee, der den dämmerigen Himmel erhellte, ernsthaft zu fallen begonnen, riesige Flocken segelten wie Federn herab. Sie tanzten wie bei einem langsamen Walzer, segelten um die gläserne Konstruktion, landeten beinahe auf dem Glas, sausten jedoch in der letzten Sekunde davon, als wollten sie ihrem Tod ein Schnippchen schlagen. Wie verzaubert schaute Lucy hinauf zu der Glasdecke, schwindelig vom Anblick der in einem unendlichen Strom herabfallenden Schneeflocken.
Es war, als stünde man in einer umgekehrten Schneekugel, dachte sie. Die Flocken, die auf das Glas trafen, machten kleine Geräusche beim Aufprall der Eiskristalle auf der gläsernen Oberfläche.
«Ich habe noch niemals solche großen Schneeflocken gesehen», staunte Lucy, während sie einer, die ungefähr die Größe ihrer Hand hatte, beim Fallen zusah.
«Hundslappadrifa.» Hekla strahlte. «Wir haben einen Namen für diese Art von Schnee. Übersetzt bedeutet das Hundepfotenschnee.»
Lucy klatschte begeistert in die Hände. Das war die perfekte Beschreibung. «Das gefällt mir. Auch wenn wir bei dem Wetter wohl nicht nach Hvolsvöllur kommen werden.» Der Schnee hatte sich inzwischen zu einer gut zweieinhalb Zentimeter dicken Decke aufgetürmt, die bereits auf den Zäunen und Dächern lag. Lucy hatte sich darauf gefreut, aus dem Hotel zu kommen und ein bisschen von Island zu sehen, selbst wenn es nur der nächstgelegene Ort war, der etwa zwanzig Minuten entfernt lag.
«Natürlich tun wir das», erwiderte Hekla. «Wir lassen uns hier nicht von Schnee aufhalten. Petta reddast. »
«Was bedeutet das?»
Hekla grinste. «Das sage ich Ihnen, wenn wir im Jeep sitzen.»
Nachdem sie sich im warmen Inneren des Autos angeschnallt hatten, fuhren sie auf der geraden Straße in Richtung der Lichter der Stadt, die in der Ferne wie ein Leuchtfeuer glänzten.
«Wird das wirklich klappen?» Lucy zweifelte beim Anblick der Schneedecke, die immer dichter wurde.
«Aber ja.» Hekla war voller Zuversicht und tätschelte das Steuerrad. «Dieses Baby wird uns ohne Probleme hin- und zurückbringen.»
«Bei mir zu Hause würde jetzt alles zum Stillstand kommen.» Lucy dachte an den letzten Winter und die vielen Reisenden, die im Hotel in Manchester gestrandet waren.
«Ha, das hier ist Island. Wir sind aus stärkerem Holz geschnitzt. Wie gesagt, petta reddast. Alles wird gut. Wir glauben, dass wir alles schaffen. Es gibt immer etwas, mit dem wir klarkommen müssen. Mit Stürmen, Überschwemmungen, Schnee, Eis und Vulkanen. Es ist das Land aus Feuer und Eis, aber wir Isländer können Großes schaffen. Wir glauben an uns. Denken Sie an unsere Fußballmannschaft.» Sie drehte sich mit einem hinterhältigen Grinsen zu Lucy. «Wir haben die Engländer geschlagen, mit einer Mannschaft aus einem Land mit 340000 Einwohnern. Und der Trainer ist Zahnarzt.»
«Ich erinnere mich», erwiderte Lucy trocken und dachte an die abfällige, siegesgewisse Haltung von Chris vor dem Spiel und an sein wütendes Gebrüll während des Spiels, als Island mit 2:1 gegen England gewonnen hatte.
«Das liegt an unserer positiven Einstellung.» Hekla deutete mit dem Arm auf die Landschaft. «Es ist nicht leicht, hier zu wohnen, und man muss ja irgendwie überleben. Die Wikinger, die hierherkamen, musste sich ihr Leben erst mühsam aufbauen. Es macht einen hart, aber es fördert auch den Teamgeist. Zusammen können wir Dinge bewegen. Elin zum Beispiel glaubt fest daran, dass sie ihr Buch schreiben und veröffentlichen wird. Freya wird irgendwann einmal eine große Schauspielerin sein, und Brynja trainiert für den Marathon. Alle glauben daran, dass sie es schaffen werden.»
«Und was ist mit Ihnen?», fragte Lucy.
«Ich werde eines Tages reisen. Als Kind bin ich mit meinen Eltern viel rumgekommen, aber ich möchte gern das machen, was Sie getan haben – in einem anderen Land in einem guten Hotel arbeiten.» Hekla grinste. «Aber davor will ich die Northern Lights Lodge zum besten Hotel machen. Ich habe schon an vielen Orten gelebt, aber hier fühlt es sich wie zu Hause an. Ich möchte, dass die Gäste sehen, wie wundervoll mein Land ist. Ich möchte, dass sie ihren Aufenthalt hier nie vergessen.»
«Das möchte ich auch», sagte Lucy. «Ich hoffe, Sie haben nicht vor, allzu bald zu gehen.»
Hekla zuckte die Schultern. «Das hängt von den neuen Eigentümern ab.»
«Den neuen Eigentümern?» Die Worte kamen krächzend aus Lucys Kehle, so erschrocken war sie. «Was meinen Sie damit?»
Hekla sah sie überrascht an. «Sie wissen doch, dass das Hotel verkauft wird, oder?»
«Verkauft?» Panik ergriff Lucy und drückte ihr den Magen zusammen. Wenn Eigentümer wechselten, bedeutete das meist, dass das Management ausgetauscht wurde. «Jetzt?»
«Ja, es gibt einen Interessenten. Sie verhandeln noch, aber Herr Pedersen geht davon aus, dass die Verträge im Dezember unterschrieben werden.»
Lucy schluckte. Dezember. Ihr Vertrag endete im Dezember. Hekla schaute sie mitfühlend an.
«Keine Sorge, Sie werden trotzdem eine Hotelmanagerin brauchen.»
«Ja, aber …» Nicht unbedingt mich. Jetzt ergab der Zwei-Monats-Vertrag natürlich Sinn, stellte sie wehmütig fest. Es war gar keine Probezeit, wie sie gehofft hatte, weil sie sie ohne besondere Nachweise angestellt hatten; es war einfach nur ein Vertrag über einen kurzen Zeitraum, weil sie sie danach nicht mehr brauchten.
«Petta reddast» , erinnerte Hekla sanft. «Alles wird gut. Ich glaube, Sie haben gute Ideen. Sie bringen viel Erfahrung mit, oder?»
Lucy nickte. Sie hatte allerdings viel Erfahrung. Sie könnte den Laden richtig in Schwung bringen. Vielleicht musste sie mehr an sich glauben, so wie sie es früher getan hatte. Alles war gut gewesen, bevor dieses verdammte Video im Netz gelandet war, bevor sie gefeuert worden war, bevor Chris sie derartig hintergangen hatte.
Hvolsvöllur war noch kleiner, als Lucy erwartet hatte. Die Stadt lag in einem flachen Tal und hatte nur wenige Straßen, die von Häusern mit roten Dächern gesäumt wurden. Beim Durchfahren zeigte Hekla Lucy, wo ihre Cousinen wohnten, ihr Onkel, die Mutter einer Schulfreundin. Es schien, als würde Hekla jeden einzelnen Bewohner der Stadt persönlich kennen. Sie wusste genau, wo sie die Kaffeemaschine fanden, ihr eigentlicher Grund für diesen Ausflug, und nach einer halben Stunde waren sie fertig.
«Haben Sie Lust auf einen Abstecher in den Souvenirladen, UNA Local?», fragte sie. «Die haben ein paar schöne Sachen.»
«Ja, das wäre nett», sagte Lucy finster. «Vielleicht muss ich ein paar Weihnachtsgeschenke mitbringen.» Etwas für Daisy, die in diesem Jahr so nett zu ihr gewesen war, und für ihre Eltern, die glaubten, dass dies hier ein tolles Abenteuer für sie war und nicht ahnten, was sie zu diesem radikalen Wechseln in ihrer Karriere bewogen hatte.
Hekla schüttelte den Kopf. «Petta reddast. Sie sind jetzt Isländerin. Es wird sich eine Lösung finden.»
«Das hoffe ich», murmelte Lucy, die bis jetzt absichtlich nicht weitergedacht hatte als bis Mitte Dezember.
«Ganz bestimmt», sagte Hekla mit der Gleichmut einer Wikingerprinzessin.
Von außen wirkte der Laden nicht gerade besonders ansprechend – die Gebäude sahen mehr aus wie drei Flughafen-Hangars, die rot, gelb und blau angemalt worden waren. Das Bild eines großen Papageientauchers schmückte die Eingangstür. Doch innen drin war der luftige Raum vollgestopft mit traditionell isländischem Kunsthandwerk und Geschenkartikeln, die auf kleinen Holztischen hübsch ausgestellt worden waren. Lichterketten baumelten an der Decke, außerdem zu Lucys Erstaunen ein Fahrrad, von dessen Speichen verschiedene Ornamente baumelten. An den Wänden hingen schwere Strickpullover an Haken oder Bügeln, deren Rollkragen mit den bekannten skandinavischen Mustern verziert waren. Außerdem gab es Wollponchos, Schals und Mützen, hübsche Aquarelle von Papageientauchern, Fotografien der stämmigen Islandponys, Wichtel aus Pappmaché, bedruckte Kissen und farbenfrohe Geschirrhandtücher. Alles war hübsch, wenn auch fürchterlich teuer, und Lucy hätte ein Vermögen ausgeben können. In einer Ecke stand eine Wikingerfigur aus Schafwolle mit einem gestrickten Helm, um die ein paar Touristen standen und lachend Selfies machten. Selbst Lucy musste beim Anblick der großen, breitfüßigen Figur grinsen.
Hekla hatte bereits ein Gespräch mit der Verkäuferin begonnen, während Lucy im Geschäft herumschlenderte. Wieder blieb sie neben einigen der Aquarelle mit Papageientauchern stehen. Einfach, aber effektiv, dachte sie. Sie würden perfekt in der Gästelounge aussehen. Sie nahm eines der Bilder und trug es zu Hekla.
«Wollen Sie ein Bild kaufen?», fragte diese.
Lucy schüttelte den Kopf. «Ich würde gern ein paar davon im Hotel ausstellen. Dann könnten wir die Gäste hierherschicken, wenn sie welche kaufen wollen.» Sie wandte sich an die Verkäuferin, mit der Hekla gesprochen hatte. «Falls Sie daran interessiert wären.»
Das war sie allerdings, und zwar sehr. Und es dauerte nicht lange, bis sie ein für alle angemessenes Angebot ausgehandelt hatten. Lucy summte vor sich hin, während sie drei Bilder zum Auto trugen, mit dem Versprechen der Verkäuferin in der Tasche, dass in ein paar Tagen noch mehr zu haben waren.
«Gut gemacht», sagte Hekla. «Das ist eine schöne Idee.»
Lucy war zufrieden und grinste. «Unsere Wände werden auf diese Weise ganz umsonst verschönert. Die Gästelounge ist hübsch, aber da fehlt einfach noch was. Wir haben Eyrun nie danach gefragt, was mit all den anderen Dingen passiert ist.»
«Nein, haben wir nicht.»
Lucy musste über Heklas ausweichende Antwort kichern.
«Sie fürchten sich auch vor ihr.»
Hekla versuchte, ein unschuldiges Gesicht zu machen, doch dann musste auch sie kichern. Sie nickte.
«Sie macht mir Angst. Darum sind Sie ja der Boss. Sie müssen sie das fragen.» Hekla warf ihr einen herausfordernden Blick zu. «Zwei Shots. Morgen Abend.»
«Wie bitte?»
«Morgen. Wir spielen in der Personallounge Karten. Und machen Trinkspiele.» Hekla sah sie verschlagen an. «Ich fordere Sie heraus. Wenn Sie Eyrun nicht fragen, dann müssen sie zwei Shots trinken.»
Lucy lachte. «Und wenn ich sie frage, was dann?»
Hekla zuckte die Schultern. «Ich schätze, dann muss ich zwei Shots trinken?»
«Machen Sie so was öfter?»
«Die Abende sind lang und dunkel, wir sitzen gern zusammen. Die Kartenspiele waren Elins Idee. Sie und Brynja und Freya sind wirklich lustig. Und Brynjas Freund Dagur und Gunnar ebenfalls. Olafur ist manchmal ein bisschen muffelig, aber dann vergisst er es wieder und ist nett. Und Alex, der Neue, ist auch lustig und außerdem ganz hübsch anzusehen.»
Auf der Rückfahrt zum Hotel erinnerte Hekla Lucy noch einmal an ihre Wette. Lucy zuckte die Schultern. Sie hatte sich noch nie vor einer Herausforderung gedrückt, auch wenn sie sich für eine weitere Begegnung mit Eyrun wappnen musste.
«Eyrun?», rief Lucy und war wütend auf sich selbst, weil sie so ängstlich war. Sie war hier der Boss, verdammt noch mal. Aber abgesehen vom rhythmischen Geräusch der rotierenden Handtücher im riesigen Trockner gab es keine Spur der Hausdame. Lucy seufzte erleichtert.
Dieses monotone Dröhnen hatte etwas Beruhigendes. Es war kein Wunder, dass Eyrun ihre kleine Höhle nur ungern verließ. Von der warmen, trockenen Luft fühlte Lucy sich ganz entspannt und schläfrig … sie schloss einen Moment die Augen. Heklas positive Haltung und ihr Gerede über petta reddast heute Morgen hatten Lucy nachdenklich gemacht. Sie war immer organisiert gewesen und hatte durch Fleiß und Sorgfalt Erfolg gehabt, doch sie hatte früher auch nie besonders viele Widrigkeiten bestehen müssen.
All die wütenden Bienen, die schon so lange in ihrem Kopf herumsummten und sie nachts mit ihrem Hätte-Wäre-Wenn wach hielten, flogen davon und hinterließen in ihrem Kopf eine wohlige Leere. Das ständige Gedankenkarussell des letzten Jahres stand endlich einmal still, und die Angst, alles falsch zu machen, war verschwunden, und nachdem Heklas Worte sich gesetzt hatten, beschloss Lucy, mehr Widerstand an den Tag zu legen. Und Chris nicht gewinnen zu lassen. Sie musste das Heft in die Hand nehmen und sich durchsetzen, nicht nur bei Eyrun.
Als der Trockner seine Runden endlich beendet hatte, dröhnte die Stille der Lodge in Lucys Ohren. Es war so still, dass sie beinahe hören konnte, wie die Staub- und Fusselteilchen sich senkten.
Einen Augenblick gab sie sich der ruhigen Atmosphäre hin. Sie lehnte sich gegen einen Wäschewagen und legte den Kopf gegen den Metallgriff.
Dabei sah sie einen Lichtschein, der von der Tür kam, langsam breiter werden. Jemand öffnete die Tür – sehr, sehr langsam.
Dann schlüpfte er herein und sah sich suchend um. Lucy in ihrer dunklen Ecke sah er nicht. Die männliche Figur bewegte sich in den anderen Raum, wo die riesigen Waschmaschinen sowie ein paar deckenhohe Schränke standen. Lucy beobachtete, wie der Mann die Tür hinter sich zuschob, bis sie nur noch einen Spalt offen stand.
Was hatte er vor? Und wer war das? Lucy war nicht wohl dabei, jemandem hinterherzuspionieren, aber weil im Hotel offenbar Streiche gespielt wurden, fühlte sie sich im Recht. Auch wenn es seit ihrer Ankunft keine toten Mäuse oder andere Witzchen mehr gegeben hatte. Würde sie den Schuldigen in flagranti erwischen? Sie nahm einige Laken von einem Wäschewagen, um ihre Anwesenheit irgendwie zu begründen, und schlich zur Tür des Wäscheraums. Vorsichtig spähte sie durch den Türspalt.
Alex! Was zur Hölle machte er da drin?
Einen Moment sah sie zu, wie er sich durch einen Stapel Bettdeckenbezüge wühlte, danach die Kopfkissenbezüge durchkramte, ein paar Schränke öffnete und sich dann hinhockte, um die Waschpulver und Weichspüler auf dem Regal in Augenschein zu nehmen.
Lucy stieß die Tür auf und machte dabei so viel Krach wie möglich.
Alex fuhr herum. Sein hübsches Gesicht war wie erstarrt.
Hübsch. Herrgott, Lucy, er sieht ganz nett aus, das ist aber auch alles. In ihrem Bauch spürte sie ein gewisses Flattern.
Einen langen Moment lang starrten sie sich beide an wie zwei Duellanten, die gleich ihre Pistolen ziehen würden.
«Alex!» Ihre Stimme klang ungefähr eine Oktave zu hoch. «Was machen Sie hier? Helfen Sie jetzt mit der Wäsche?»
«Nein, ich wollte …» Er sah sich um, als hoffte er, dass ihm irgendeine gute Ausrede ins Gesicht sprang.
«Suchen Sie etwas?», fragte sie und merkte, wie sehr sie wollte, dass er ehrlich zu ihr war.
«Äh, ja … ein paar Tücher. Für die … ähm … Küche. Geschirrtücher.»
Lucy kniff ihre Augen zusammen, dann blickte sie ins Zimmer hinter ihnen und zu den Regalen an der Tür, wo kleinere Tücher sowie Geschirrhandtücher in ordentlichen Stapeln lagen.
Alex wurde rot. «Sorry. Nicht nachgedacht. Ganz vergessen. Sie wissen ja, wie das ist, wenn man ständig irgendwo anders arbeitet. Man kommt ganz durcheinander.» Sein hastiges Nuscheln passte so gar nicht zu seinem sonst so coolen Auftreten, sodass er Lucy beinahe leidtat. Bis er plötzlich das Thema wechselte.
«Und wie läuft es bei Ihnen?», fragte er mit dieser autoritären und trotzdem charmanten Art, als wäre er derjenige, der hier das Sagen hatte. «Ich habe gehört, sie haben Elin befördert.»
«Ja», sagte sie steif und fragte sich, was ihn das eigentlich anging. «Sie ist jetzt stellvertretende Hausdame. Und macht einen tollen Job.»
«Gute Idee.»
«Danke», sagte sie mit leicht sarkastischem Ton. Hatte er vergessen, dass sie hier die Direktorin war?
Er zuckte die Schultern mit einem nichtssagenden Lächeln, das sie nur noch mehr ärgert.
Wieso schaffte er es immer, sie dumm dastehen zu lassen?
«Gibt es sonst noch etwas, das Sie hier brauchen?», fragte sie in dem verzweifelten Versuch, ihre Autorität zurückzuerlangen.
«Nein.» Er schaute auf seine Armbanduhr. «Ich muss los.» Und mit einem kurzen Lächeln schlenderte er davon, als hätte er alle Zeit der Welt.
«Sie haben Ihre Geschirrhandtücher vergessen», rief sie ihm triumphierend nach, doch er war bereits aus dem Zimmer. Sie runzelte die Stirn. So viel also zum Thema Autorität.