«E
rik hat sich das Bein gebrochen!» Hekla rauschte atemlos ins Büro, wie eine Figur aus einem Zeichentrickfilm. Beinahe erwartete Lucy, Bremsspuren im Holzfußboden zu sehen. Brynja folgte Hekla wie ein besorgter Wachhund.
Auch wenn Hekla schlechte Neuigkeiten brachte, war es eine Erleichterung, dass sie wieder mit Lucy sprach. In den letzten Tagen hatte sie sich verdrückt, wenn Lucy einen Raum betrat, und war ihr bei jeder Gelegenheit ausgewichen.
«Was? Wie ist das denn passiert?»
Hekla räusperte sich. «Es war ein Unfall. Der Besen ist umgefallen, und der Stiel lag zwischen zwei Schränken …» Heklas Stimme erstarb. Lucy funkelte sie an. Nach dem Vorfall mit den Autoreifen hatte sie sehr klargestellt, dass jeder, der das Wort Huldufólk auch nur in den Mund nahm, einen Monat lang die miesesten Schichten übernehmen durfte.
Es war bereits vier Uhr nachmittags. «Was ist mit Kristjan?» Das war Eriks Ersatzmann, der aussah, als wäre er erst zwölf Jahre alt, und daher nicht allzu viel Vorschusslorbeeren genoss.
«Er hat heute frei, habe ihn schon angerufen. Er geht nicht ran. Er ist vermutlich mit dem Boot draußen, er angelt gern», sagte Brynja.
Lucy überschlug im Kopf ein paar Möglichkeiten. Verdammt. Keine ihrer Ideen funktionierte. «Und wie viele Gäste haben wir heute Abend zum Essen?», fragte sie erschöpft und hätte am liebsten den Kopf auf den Schreibtisch gelegt. Kaum hatte sie ein Problem gelöst, tauchte das nächste auf. Dass es in den letzten zwölf Monaten zehn Manager gegeben hatte, wunderte sie kein bisschen, vielmehr erstaunte es sie, dass es nicht achtundvierzig gewesen waren.
«Heute Abend ist es ruhig. Es sind nur dreiundzwanzig Gäste.»
«Mist.» Lucy erhob sich. Mitten im Nirgendwo zu sein, brachte das Problem mit sich, dass man die Gäste nirgendwo anders hinschicken konnte.
«Brynja, Sie bleiben hier und versuchen es weiter bei Kristjan.»
Mit Hekla ging sie in die Küche, nur um irgendetwas zu tun. Doch ein Blick auf die Speisekarte von heute Abend, die am Vortag ausgedruckt und an der Holztafel draußen vor dem Speisesaal aufgehängt worden war, ließen all ihre Hoffnungen, die Situation retten zu können, in null Komma nichts fahren.
Gegrilltes Heilbuttsteak mit Kreuzdorn und glasierten Minikarotten
Langustensalat mit Schellfisch-Sauce
Gegrilltes Lammfilet mit karamellisiertem Topinambur-Püree, Sauerkraut und Pilzglasur
Veganes Erdnuss-Steak
«Ich weiß nicht mal, was Kreuzdorn ist, und von einem Erdnuss-Steak habe ich in meinem Leben noch nicht gehört», seufzte Lucy und schaute sich um, als würde ihr vielleicht von irgendwoher eine Idee entgegenspringen.
«Lucy!», begrüßte sie Clives Stimme, und als sie sich umdrehte, kam die ganze Crew den Flur herunter. Sie vermied es bewusst, Bob anzusehen, die Gänsehaut auf ihrem Rücken sagte ihr genug.
«Hab gehört, es gibt ein Problem. Ihr Koch ist ins Krankenhaus geflogen worden?»
Wie zur Hölle hatte er davon erfahren? Lucy und Hekla tauschten einen erschrockenen Blick.
«Ja, aber das ist kein Problem», sagte Lucy mit glatter, sicherer Stimme, als wäre das eine ganz alltägliche Angelegenheit, und sie würde sich nicht innerlich die Haare raufen oder unter Bobs ekelhaften Blicken würgen müssen. «Wir haben schon Ersatz. Kristjan, unser Souschef.» Hinter ihrem Rücken kreuzte sie die Finger und hoffte, dass Clive nicht gehört hatte, wie Hekla bei dieser dreisten Lüge keuchte.
«Super, der Souschef muss es also richten.» Clive sprach es genüsslich aus, schlug die Hände zusammen und rieb sie mit unverhohlener Freude. «Eine perfekte Story. Bob, bau deine Sachen in der Küche auf. Wir filmen, wie dieser Crispi …, na, wenn der eben kommt und man ihm erzählt, dass er sich gleich an die Arbeit machen darf. Sein entsetztes Gesicht will ich auf jeden Fall in der Kamera haben. Und dann rüber zu Luce, wie sie ihm sagt, dass er das bestimmt hinkriegt.» Er schwang seinen Arm durch die Luft, als wolle er sagen, hurra, die Doku ist gerettet! «Und dann
filmen wir ihn, wie er eine Katastrophe nach der anderen hinlegt. Ich kann es schon vor mir sehen. Und am Ende wird doch noch alles gut.» Clives Gesicht glänzte, und seine Augen waren vor Begeisterung so weit aufgerissen, dass er Lucy an einen aufgeregten Ochsenfrosch erinnerte. Er hätte derjenige vor der Kamera sein sollen.
Über seine Schulter hinweg sah Lucy Alex kommen, als hätte er gewusst, dass sie Verstärkung brauchte. Allein sein Anblick ließ sie das Kinn heben, und sie setzte ein mitfühlendes, aber festes Lächeln auf. «Ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Wir können weder Kameras noch die Crew während der Arbeit in der Küche erlauben. Die Gesundheitsbehörde würde das Haus sofort dichtmachen.»
«Lucy, Lucy, wir sind doch meilenweit weg von allem. Wie groß sind die Chancen, dass das passiert? Meinen Sie wirklich, diese Gesundheitsinspektoren wollen den ganzen Weg hierherkommen und Ihnen einen Überraschungsbesuch abstatten?» Clives Augen blitzten, und sein Kopf wackelte wie eine verrückte Kobra. «Riskieren Sie mal was. Tanz auf dem Vulkan.» Lucys Blick huschte zu Bob, voller Sorge, dass Clive eingeweiht war, doch Bob wich ihrem Blick aus.
«Ich habe keine Angst vor einer Inspektion.» Das stand noch nicht mal auf ihrer Liste von Dingen, um die sie sich Sorgen machte. «Ich will nur nicht, dass Sie verletzt werden. Dass Sie gegen den heißen Ofen kommen oder eine Pfanne mit kochendem Fett umstoßen. Oder mit dem falschen Ende eines scharfen Messers in Berührung kommen.» Sie sah, wie Alex und Hekla bei ihrem honigsüßen Lächeln ein Lachen unterdrücken mussten. «Oder dass ein
Teil Ihrer Ausrüstung kaputtgeht. Der Fußboden in der Küche kann sehr rutschig werden durch Feuchtigkeit und Fett. Und Sie würden nur im Weg stehen. Es wäre doch schade, wenn eine Pfanne die Kameralinse zerschlägt», log sie. Obwohl das eigentlich eine gute Idee war.
Clive zog die Augenbrauen zusammen, dann nickte er. «Hmmm.» Er drehte sich zu Bob um und strich sich über seinen albernen Ziegenbart. «Was meinst du?»
Bob warf Lucy einen nachdenklichen Blick zu, dann schüttelte er den Kopf. «Wenn wir die Ausrüstung ruinieren, können wir einpacken.»
Clive stimmte unwillig zu.
«Dann hoffen wir mal, dass die Polarlichter heute Abend mitspielen. Gestern war ja wieder Ebbe. Auch wenn diese Jane eine tolle Type ist. So kamerageil, wie die neulich war. Wenn sie bloß irgendeine lebensbedrohliche Krankheit hätte, dann wäre sie beste Primetime-Ware.»
«Was für ein Wichser», fauchte Lucy zu Alex’ Belustigung, als Clive und Bob davongeschlurft waren. Er stimmte ihrer Einschätzung von Clives Charakter von Herzen zu. Allerdings hatte er seine eigenen Probleme.
Als Clive den Namen Jane erwähnte, war bei ihm auf einmal der Groschen gefallen. Paris. Daher kannte er Jane und Peter. Er kannte sie sogar gut. Sie hatten Nina in der Patisserie geholfen. Sie waren bei der Eröffnung gewesen. Verdammter Mist, wie konnte so etwas passieren? Als er sie an der Rezeption gesehen hatte, war er sich nicht ganz sicher gewesen.
Er hatte sich damals lange mit ihr und Peter
unterhalten, ihrem frischvermählten Mann, während sie bei Nina ihre leckeren anglofranzösischen Kuchen gegessen hatten. Jetzt fiel ihm alles wieder ein. Nina liebte die beiden, und selbst der ewig misstrauische und miesepetrige Sebastian schien Jane zu mögen. Sie konnten sehr leicht verraten, wer Alex wirklich war – mit Sicherheit kein Barmann.
Angespannt folgte er Lucy in die hell erleuchtete Küche, wo diverse große Kühlschränke leise zwischen makellosen Edelstahlflächen und -regalen brummten.
Am besten hielt er sich die nächsten Tage bedeckt und ging beiden aus dem Weg – und Lucy ebenso. Schuldgefühle nagten an ihm. Er musste im Blick behalten, dass er für Quentin arbeitete, und sein Boss hatte gute Gründe dafür, dass er inkognito blieb. Wie Quentin ihm so freundlich erklärt hatte: Mit Nettsein kommt man nicht weit.
Hier ging es nur um den Job.
Ohne zu zögern, hatte Lucy die begehbare Speisekammer geöffnet und hineingespäht, bevor sie die Tür wieder zuschlug. «Ich schätze, wir können niemandem weismachen, dass Bohnen auf Toast eine isländische Spezialität ist, oder?»
Hekla sah sie verständnislos an, aber Alex zwang sich zu einem Lachen, auch wenn er sich gar nicht danach fühlte.
«Nette Idee. Aber ich fürchte, das wird nicht klappen. Schade, mir schmeckt es.»
«Wirklich?»
«Ja, besonders mit Haggis.»
«Wenn Sie das sagen. Kochen können Sie wohl nicht zufällig?»
Alex verzog das Gesicht. Er hatte viel Zeit in
Hotelküchen verbracht, wo immer etwas zu essen herumstand. Er beherrschte die Grundlagen, und was Geschmackskombinationen anging, wusste er eine Menge, aber gekocht hatte er nie besonders viel. «Leider nein. Das musste ich nie wirklich tun.»
«Was ist mit Ihnen?», fragte Lucy und wendete sich Hekla zu, die jedoch entsetzt die Hände hob. «Irrrrr!»
«Das soll wohl Nein bedeuten», seufzte Lucy. Alex sah, wie sie ihre Schultern fallen ließ. Sie öffnete ein paar Schränke und zog einen großen Beutel mit Pasta heraus.
Wo sollten sie in so kurzer Zeit einen Ersatzkoch herbekommen, dachte er. Er hätte längst in Reykjavik angerufen und versucht, über eine Personalagentur einen Koch aufzutreiben. Er schaute auf seine Uhr.
Lucy sah ihn an. «Reykjavik ist eineinhalb Stunden von hier entfernt, selbst wenn ich in so kurzer Zeit einen Koch finden würde. Ich habe bereits zwei Agenturen angerufen.»
«Oh!» Konnte sie Gedanken lesen?
«Sie hatten diesen wenig begeisterten Gesichtsausdruck», sagte sie, was ihn nur noch mehr davon überzeugte, dass sie das Zweite Gesicht besaß. «Sie erinnern mich an einen alten Chef von mir. Der mich ständig bei einem Fehler erwischen wollte.»
Alex dachte, dass dies genau die Sorte von Szenario war, von der er Quentin berichten sollte: wie sie mit Problemen umging, wie sie eine Krise löste und wie sie ihr Personal im Griff hatte.
Er musste wegschauen und öffnete den Kühlschrank, der gut gefüllt war. Manchmal war Lucy beinahe
unheimlich aufmerksam. Sein schlechtes Gewissen brachte seinen Magen zum Rumoren. Sie nicht direkt anzulügen, machte seinen Verrat um nichts besser. Aber Quentin war nun mal sein Boss, und er hatte darauf bestanden, dass keiner erfahren durfte, wer Alex wirklich war. Ein falsches Wort von Jane und Peter, und das Spiel wäre aus.
«Sie wollen aber doch wohl nicht selbst kochen», sagte er und hob eine Augenbraue. Das wäre ja wohl zu verrückt.
«Was schlagen Sie denn vor?», fragte sie liebenswürdig.
«Snacks aus der Bar. Sandwiches. Was vom Grill. Pizza.»
Lucy sah ihn abschätzig an. «Die Leute sind hier im Urlaub. Sie erwarten ein anständiges Abendessen, keine Kleinigkeiten von der Bar.»
«Sie wollen wirklich kochen?», fragte er und versuchte, nicht allzu ungläubig zu klingen. Sie war doch
verrückt.
Mit blitzenden Augen sah sie ihn an. Sie zog das Haargummi aus ihrem lockeren Pferdeschwanz, den sie tief in den Nacken gebunden hatte, und nahm ihre Haare auf. Einen Moment lang war Alex wie gebannt von der glatten weißen Haut ihres schmalen Halses. Er konnte den Blick nicht abwenden, während sie ihre Haare mit schnellen Griffen zu einem hohen Pferdeschwanz zusammenfasste und das Gummiband mit einer Ich-meine-es-ganz-ernst-Bewegung festband. Die Frisur betonte ihr Profil, die hohen Wangenknochen und die vollen Lippen. Lippen? Wieso schaute er auf ihre Lippen? Er hätte sie neulich Abend nicht küssen dürfen. Verdammt, er hätte danach
auch nicht mit ihr Kaffee trinken sollen, aber Hekla hatte die Sache irgendwie eingefädelt und behauptet, sein Auto sei das einzig freie und Lucy müsse an genau diesem Tag die Bilder abholen.
Verdammt. Sich für sein Zielobjekt zu interessieren, gehörte nicht zur Jobbeschreibung. Und wieso Zielobjekt? War er jetzt Jason Bourne, oder was?
«Haben Sie einen anderen Vorschlag?» Ihre klare Stimme drang durch seine Gedanken. Lucy wandte sich an Hekla. «Können Sie meinen Laptop holen?» Sie lächelte grimmig. «Wir müssen die Speisekarte etwas vereinfachen. Und Dinge anbieten, die man vorbereiten kann und später nur noch erwärmen muss. Ich muss ein paar Rezeptideen googeln.»
«Lucy, meinen Sie nicht …» Beim Anblick ihres entschlossen hochgereckten Kinns brach Alex ab. Seufzend zog er sein Handy aus der Tasche. «Ich habe was Besseres als das Internet. Ich habe einen Sebastian.»
«Ist das wie eine Alexa?», fragte Lucy und nagte besorgt an ihrer Lippe, was ihre feste Stimme Lügen strafte.
Ohne nachzudenken, hob er einen Finger und drückte ihn sanft gegen ihre Unterlippe. «Sie tun es schon wieder. Es wird nur wieder wund.» Aus irgendeinem verrückten Grund strich er über ihre Unterlippe, als könnte er so den Schmerz wegstreichen. Sie erstarrte, und ihre Lippen öffneten sich, und als er ihren schnellen, heißen Atem spürte, wurde es in seiner Leistengegend eng. Er musste aufhören, sie zu berühren. Auch neulich war er zu weit gegangen, als er ihr über die Stirnfalte gestrichen hatte.
«Es ist schon wund», erwiderte sie und schaute ihn
mit leicht geweiteten Augen an, dann kehrten ihre Zähne wieder an dieselbe Stelle zurück und berührten dabei seinen Finger. Er zog ihn schnell weg, als hätte er sich verbrannt.
«Entschuldigung.» Sie rieb sich den Mund und senkte den Kopf. «Schlechte Angewohnheit. Ich kann es irgendwie nicht lassen. Bitte sagen Sie mir, dass Ihr Sebastian teleportieren kann und in fünf Minuten hier ist.»
Alex lachte erleichtert.
«Das nicht, aber er ist ein Freund, und vor allem ist er ein Koch.»
«Wollen Sie Ihren Laptop immer noch?», fragte Hekla, die dem Gespräch gefolgt war wie eine Zuschauerin dem Tennismatch.
«Ja, das wäre toll. Wir müssen eine neue Speisekarte zusammenstellen. Mit einem festen Menü. Alex, würden Sie Ihren Freund anrufen, während ich eine Inventarliste mache?» Plötzlich war sie in Fahrt und schob Alex Notizblock und Stift zu, während er Sebastian anrief.
Im Gespräch stimmte er sich immer wieder mit Lucy ab. Irgendwann sagte er: «Sebastian denkt, wir sollten den Langustensalat machen. Er schlägt aber Spargel, Erbsen und dicke Bohnen mit Croûtons vor. Und er fragt, ob wir Erbsensprossen haben?»
Lucy machte ein abfälliges Geräusch. «Das soll wohl ein Witz sein. Weiß er nicht, dass wir auf Island sind? Der nächste Supermarkt ist über eine Stunde entfernt, und ich würde mich nicht wundern, wenn man trotzdem noch zwei Tage auf Erbsensprossen warten müsste.»
Sie stellte sich zu Alex’ Überraschung direkt vor ihn.
«Darf ich mal?»
Ohne auf Antwort zu warten, nahm sie ihm das Handy aus der Hand. «Sebastian? Hi, hier ist Lucy Smart.»
Während er ihrem Gespräch lauschte, merkte Alex, dass Lucy offensichtlich ein bisschen mehr von Kochen verstand, als er angenommen hatte. Aber er hatte genügend Folgen von Chef’s Table
gesehen, um zu wissen, dass es ein Riesenunterschied war, ob man zu Hause kochte oder professionell.
Sie legte auf, drückte Alex das Handy in die Hand und kritzelte, vor sich hinmurmelnd, ein paar Notizen auf ein Blatt Papier. Dazwischen gab sie Alex und Hekla, die mit dem Laptop zurückgekehrt war, Anweisungen. «Alex, können Sie bitte nachsehen, wie viele Langusten wir haben?» – «Hekla, können Sie das Lammfleisch abwiegen?» – «Kann jemand bitte die Möhren zählen?» – «Haben wir mehr als einen Sack Reis?» – «Kann jemand alle Zwiebeln zusammensuchen?»
«Gut», sagte sie und erhob sich wie ein General kurz vor der Schlacht. «Ich hab’s. Wir werden den Leuten eine Auswahl an Vorspeisen anbieten: traditionelle isländische Fischsuppe mit Roggenbrot oder gebackenen, in Walnuss gerollten Schafskäse mit Blaubeercoulis. Danach gibt es einen herzhaften Lamm- oder Fischeintopf mit gebackenen Karotten und Steckrüben und Kartoffelgratin. Und als Dessert Skyr mit Früchten oder Käse mit Gebäck. Bis auf den gebackenen Schafskäse kann alles vorbereitet werden. Wir werden die Vorspeisen am Tisch servieren. Wenn Sie das beide übernehmen können? Und ich kümmere mich um die Küche.» Lucy grinste kurz. «Ich glaube, das wird
funktionieren.» Und dann fügte sie mit fester Stimme hinzu: «Es muss.»
Die nächsten zwei Stunden vergingen mit Schneiden, Braten und Abwaschen. Alex, Hekla und Dagur, der dazugerufen worden war, übernahmen diese Aufgaben nach den Anweisungen von Lucy. Alex schwor sich, dass er in seinem Leben keine dieser Langusten mehr anfassen würde, die sich furchtbar schwer schälen ließen, doch er musste zugeben, dass die Brühe, die auf dem Herd vor sich hin köchelte, einfach köstlich duftete. Lucy hatte zunächst den Lammeintopf im Ofen vorbereitet und arbeitete hochkonzentriert und methodisch, wobei sie gleichzeitig seine und Heklas Fortschritte überprüfte, hier probierte und dort rührte, ganz wie eine professionelle Köchin.
«Nein, schneiden Sie die Zwiebeln kleiner.» – «Die Kartoffelscheiben müssen dünner sein.» – «Ein bisschen mehr Zitronensaft.»
Schließlich briet das Lamm im Ofen, und die Zutaten für den Fischeintopf, der nicht halb so lange brauchen würde, waren vorbereitet und klein geschnitten.
«Puh», sagte Lucy und wischte sich die feuchten Strähnen aus dem Gesicht. «Wir sind fast fertig. Wollen Sie eine kleine Pause einlegen und sich dann zum Servieren umziehen?»
«Was ist mit Ihnen?», fragte Alex. Sie musste zum Umfallen müde sein. Von ihrem Engagement war er beeindruckt.
«Ich muss die Vorspeisen einmal durchspielen, ob ich sie auch präsentabel zubereiten kann. Außerdem sollte mich lieber keiner so sehen.» Sie warf ihren
Schweißflecken unter den Achseln einen kurzen Blick zu und meinte dann besorgt: «Und Sie müssen sich mit den Gästen befassen. Wenn ich Zeit habe, ziehe ich mir schnell ein frisches T-Shirt an.»
Selbst mit den Strähnen, die ihr ins Gesicht hingen, den Schweißtropfen auf der Stirn und der Bluse, die an ihrem schmalen Körper klebte, strahlte sie eine knisternde Energie aus, die Alex nervös machte. Er musste unbedingt etwas tun, griff nach einem Geschirrtuch, wendete sich ab und wischte einen Wasserfleck weg. Damit versuchte er, den Drang zu beherrschen, Lucy ins nächste Bett zu zerren und sie von oben bis unten abzuküssen. Wo zur Hölle kam das jetzt her? Das war bestimmt eine Art Stockholm-Syndrom – sie hatten gemeinsam eine Krise bewältigt, und jetzt trat dieses typische, posttraumatische Verhalten auf.
Lucy stieß eine Salve von Flüchen aus und presste die Hand gegen die Stirn. Das würde niemals klappen. Das Coulis war eine absolute Katastrophe, die zweite Fuhre Blaubeeren köchelte schon auf dem Herd, und es hatte ewig gedauert, diese kleine Menge an Walnüssen für ihren Probelauf zu hacken.
Das war der Preis für ihre Sturheit. Wer konnte aber auch ahnen, dass es so kompliziert werden würde, diese Schafskäserollen zu grillen? Sie konnte sie noch nicht mal gleichmäßig schneiden, und die Walnüsse wollten einfach nicht daran kleben bleiben. Ihr dritter Versuch, den sie aus dem Ofen zog, hatte sich zu einer Art Babybrei aufgelöst. Niemals würde sie das servieren können.
Sie ließ sich gegen den Edelstahltresen fallen, holte ein
paar Mal tief Luft und schaute sich verzweifelt nach einer Inspiration um. Lieber Gott, was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Alex hatte recht gehabt, wie verdammt noch mal immer. Sie hätte sich an Bohnen auf Toast halten sollen. Sie war einfach keine Köchin.
«Kann ich helfen?»
Sie wirbelte herum, und da in der Tür stand Kristjan, der Souschef. Sein Kindergesicht strahlte amüsiert beim Anblick der Verwüstung. Schmutziges Geschirr stapelte sich am Spülbecken, Walnussstückchen lagen auf dem Boden verstreut, und ein verbrannter Geruch hing in der Luft.
«Oh, Scheiße!» Lucy sprang zum Topf mit den eingekochten Blaubeeren, die schon beinahe schwarz geworden waren.
«Ich habe Brynjas Nachrichten bekommen und bin gleich hergefahren.»
«Oh, Kristjan, ich bin so froh, dass Sie da sind. Erik hatte einen Unfall und …» Sie deutete auf die Teller mit Schafskäse.
«Sie lassen ihn zu lange im Ofen, bei zu großer Hitze. Und die Scheiben müssen dicker sein», sagte er, ging zum Ofen und drehte die Temperatur herunter. «Und Sie sollten erst den ganzen Käse in den Nüssen wälzen, bevor Sie ihn schneiden. Das geht schneller.» Er lächelte sie an. «Ist auch praktischer.»
Innerhalb weniger Minuten hatte er alles im Griff, hackte die Walnüsse, rollte den Käse darin und schnitt ihn dann in ordentliche, gleichmäßige Scheiben, während sie auf die Blaubeeren aufpasste. Bei ihm sah alles so einfach aus, aber schließlich war er ja auch Koch.
Eine halbe Stunde, nachdem sie ihm die Speisekarte erklärt hatte, war das Coulis fertig, und er hatte mehrere Teller mit perfektem, in Walnuss gebackenem Schafskäse vorbereitet. Lucy hatte währenddessen den Abwasch gemacht und die Küche aufgeräumt.
Als er ihren Lammeintopf probierte, runzelte er die Stirn und warf eine Handvoll Rosmarin und Lorbeerblätter dazu. Den Fischeintopf tauschte er gegen gebratenen Fisch mit Jakobsmuscheln aus, die er aus dem Tiefkühlschrank holte.
«Okay, was ist mit dem Dessert?»
«Wir wollten Skyr anbieten und Käse mit Gebäck», antwortete Lucy schüchtern.
Beim Anblick seines schmerzverzerrten Gesichts musste sie lachen. «Ich tue alles, was Sie sagen.»
Kristjan warf einen Blick auf seine Uhr. «Ich kann Baisers machen und mit dem Eigelb Vanilletörtchen.» Er grinste. «Sie müssen mir allerdings Ihre Erlaubnis dafür geben. Erik hat seine speziellen Vanillestangen aus Madagaskar bisher nicht rausgerückt.»
«Sie haben meine Erlaubnis, alles zu kochen, was Sie nur wollen.»
«Ich habe eine Menge Ideen …» Er sah frustriert aus. «Erik experimentiert nicht so gern. Die Speisekarte hat sich in den letzten fünf Jahren nicht verändert.»
«Kochen Sie, wie Sie meinen, solange nur die Gäste versorgt werden. Heute haben Sie völlig freie Hand.»
Er strahlte sie an und rieb sich freudig die Hände.
«Dann werden die Gäste der Northern Lights Lodge heute Abend das beste Dessert auf dieser Seite von Reykjavik essen.»
Lucy zog die Augenbrauen hoch. Trotz seiner großspurigen Ankündigung sah Kristjan ganz bescheiden aus.
«Vertrauen Sie mir.»
Alex trug den letzten Teller in die Küche. Dies war einer der besten Abende als Kellner gewesen, die er seit seiner Ankunft erlebt hatte, wenn man bedachte, dass er eigentlich die Bar leiten sollte. Und gerade jetzt wäre es dringend angebracht, sich zur Bar zu begeben. Zu seiner Überraschung wirbelte Lucy immer noch in der Küche herum, füllte mit breitem Grinsen Teller in den Geschirrspüler und neckte einen verschwitzten, aber glücklichen Kristjan. Sobald Alex die Teller abgestellt hatte, hielt sie ihm die Hand zum Abschlagen hin.
«Wir haben es geschafft. Ich glaube, den Gästen hat es gefallen.» Sie seufzte und ließ sich vornüber auf die Arbeitsfläche fallen. «Und ich will das niemals wieder tun müssen. Das ist ja Wahnsinn.»
«Sie waren phantastisch.»
«Nein, Kristjan war phantastisch. Unglaublich. Auch wenn ich in meinem ganzen Leben keinen Schafskäse mehr sehen kann.»
Kristjan lachte. «Noch ein paar Stunden, und Sie hätten es rausgehabt.» Er zwinkerte ihr zu. «Obwohl uns langsam die Blaubeeren ausgegangen wären, so viele, wie Sie haben anbrennen lassen.»
«Erinnern Sie mich nicht daran. Aber danke, dass Sie Ihren freien Tag geopfert haben. Ohne Sie hätten wir es nicht geschafft.»
«Ich bin also befördert?», fragte Kristjan plötzlich ernst.
Und auf einmal schauten alle Lucy an.
Sie öffnete den Mund und klappte ihn gleich wieder zu. Es gefiel ihr nicht, so in die Enge getrieben zu werden, aber welche Wahl hatte sie? Erik würde mindestens sechs Wochen ausfallen. Sie brauchte einen Koch.
«Nun … heute Abend haben wir es geschafft, aber ich muss schon …» Er war so jung, und sie hatte bereits gemerkt, wie gern er experimentieren wollte. Welche Erfahrungen besaß er schon?
«Es ist bei den Gästen richtig gut angekommen, oder, Alex?», meinte Hekla und warf Kristjan einen ungewöhnlich schüchternen Blick zu.
«Das stimmt. Es gab viele Komplimente.» Alex nickte begeistert.
Lucys Magen zog sich zusammen. Ein einziger Abend hieß nicht, dass Kristjan eine Küche leiten konnte, geschweige denn die Speisekarte der nächsten Wochen. Ein Koch zu sein, bedeutete sehr viel mehr als zu kochen, und sie hatte keine Zeit, ihn zu beaufsichtigen. Sie seufzte – sie würde sich die Zeit wohl nehmen müssen.
«Fürs Erste ja», sagte sie zögernd, «aber wir belassen die Speisekarte so, wie sie ist.»
Kristjans Mund zuckte vor Enttäuschung.
«Ich bin gut.» Er stellte sich breitbeinig hin.
Ja, er war gut, und es war nicht seine Schuld, dass es ihr schwerfiel, Menschen zu vertrauen. Vielleicht sollte sie das Risiko einfach eingehen.
«Okay, Kristjan.» Sie lächelte. «Wir treffen uns morgen früh, und dann können Sie mir erzählen, was Sie alles vorhaben.»