Kapitel 23
«G uten Morgen.» Hekla kam ins Zimmer, und mit ihr ein köstlicher Duft nach gebratenem Schinken. «Frühstück.»
Lucy versuchte, sich aufzurichten, doch als sie mit dem Arm das Kissen hochschob, protestierte ihre Schulter schmerzhaft. Ihr ganzer Körper tat weh.
«Wie geht es Ihnen?»
«Ich fühle mich matschig. Als wäre ein Laster über mich gefahren, und dann gleich noch mal rückwärts», stöhnte sie.
«Autsch.» Hekla stellte das Tablett ab und setzte sich auf das Bett – auf dieselbe Stelle wie Alex gestern Nacht. Lucy hatte gar nicht mitbekommen, dass er heute Morgen gegangen war.
«Sie müssen heute im Bett bleiben, hat Alex gesagt.» Heklas Augen funkelten vor lauter Mutmaßungen, und ihr Blick fiel auf den Körperabdruck in Decke und Kissen neben Lucy.
«Hat er das?»
«Er ist sehr um Sie besorgt», neckte Hekla mit wissendem Blick.
Lucy verdrehte die Augen. «Er ist auch ziemlich bestimmend.»
«Ich auch, und darum müssen Sie heute wirklich im Bett bleiben.»
«Ehrlich, ich fühle mich schon viel besser. Mein Kopf tut gar nicht mehr weh. Meine Mum hat immer gesagt, ich hätte einen Dickschädel. Ich glaube, sie hat recht.»
«Es ist trotzdem besser, wenn Sie sich noch ausruhen.»
Lucy verzog das Gesicht. «Aber es ist noch so viel zu tun. Wir müssen das Bankett organisieren. Hätte ich bloß nichts davon erzählt. Clive hat sich gleich in das Thema verbissen und erwartet jetzt Szenen aus Die Wikinger. Zum Glück hat er seine Polarlichter im Kasten – ich hatte gehofft, das würde ihn endlich zufriedenstellen, aber nein, er verhält sich wie ein Kleinkind. Ich war gerade dabei, mir ein isländisches Menü zu überlegen.» Sie sah Hekla prüfend an. «Sie haben mir nicht vielleicht mein Notizbuch und einen Stift aus dem Büro mitgebracht?»
«Lucy.»
«Kein Stress, hat der Arzt gesagt. Aber wenn ich nicht anfange zu planen, dann werde ich gestresst.»
Hekla kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und gab ein Geräusch von sich, das an ein kleines Pony erinnerte; doch eine Viertelstunde später kehrte sie mit Brynja zurück, die sofort anbot, das Speisezimmer für das Bankett zu dekorieren.
«Die Tischdekoration könnte das Motto Natur haben. Mit Birkenzweigen und so», schlug sie vor. «Sie werden es lieben.»
«Das hört sich toll an», sagte Lucy, die in so etwas gar nicht gut war.
«Wir könnten auch Geschichten erzählen», schlug Hekla vor, als sie über den Verlauf des Abends brainstormten. «Isländische Märchen. Freya könnte das machen. Sie ist die geborene Schauspielerin. Sie könnte den Leuten Geschichten über das Huldufólk erzählen.» Sie zwinkerte Lucy zu.
«Ich denke, davon haben wir schon genug gehört», meinte Lucy. In letzter Zeit war es allerdings ruhig geblieben. Keine Katastrophen mehr. Sie hoffte, dass derjenige, der hinter diesen dummen Streichen steckte, endlich aufgegeben hatte. Sie wechselte einen Blick mit Brynja, die mit ihren zusammengekniffenen Lippen aussah wie eine weise Eule.
«Haben Sie irgendeine Ahnung, wer das sein könnte?», fragte Brynja dann leise.
Lucy wand sich. Sie wollte nicht gern ihren Verdacht äußern.
«Es muss doch jemand von uns sein, oder?», beantwortete Brynja ihre eigene Frage bitter.
Mit traurigem Nicken meinte Lucy: «Ich fürchte schon.»
«Das macht mich so wütend», fauchte Brynja. «Warum macht jemand so was?»
«Wenn ich das wüsste, dann könnten wir ihn aufhalten», sagte Lucy.
«Das ist unfair», platzte Brynja heraus. «Wir haben so hart gearbeitet. Das Hotel hat sich noch nie so gut gemacht wie jetzt, alles läuft super, aber … innerlich warte ich immer auf die nächste Katastrophe. Und dieser grässliche Bob … der wartet auch. Ich habe gesehen, wie er Sie beobachtet.»
Gerührt von ihrem Ausbruch, beugte Lucy sich vor und drückte ihr die Hand. «Und wir werden weiter hart arbeiten. Wir sind ein Team. Ohne Sie alle hätte ich das nicht geschafft. Wir werden dieses Bankett zu einem großen Erfolg machen.»
«Ja», sagte Hekla heftig, und in ihren Augen brannte das Wikingerfeuer. «Clive wird sich vor Begeisterung nass machen.»
Lucy und Brynja brachen in lautes Gelächter aus. «Oh, Hekla, ich liebe Sie», rief Lucy.
Als die beiden gingen, war Lucys Notizbuch bereits voll mit Ideen. Der Abschiedsabend von Clive und seiner Filmcrew würde spektakulär werden, und wenn es das Letzte war, das sie in diesem Hotel tun würde – und genauso würde es wohl sein, dachte sie. Ihr Vertrag lief aus, es waren nur noch drei Wochen, und immer noch gab es keine Informationen, ob der Verkauf des Hotels abgeschlossen war und ob es neue Inhaber gab.
Sie schlief bis zum Mittag, dann erschien Alex mit einem Teller Suppe. Seine dunklen Augen strahlten zufrieden, als er zu ihr trat.
«Na, da sieht aber jemand schon viel besser aus.»
Lucy hatte sich schon lange nicht mehr so leicht gefühlt. Sie drehte sich um und schaute sich suchend um. «Wer?»
Alex lachte. «Ich habe der Kranken etwas Suppe gebracht.»
«Abgesehen von den blauen Flecken fühle ich mich prima. Allerdings auch ein bisschen faul, weil ich hier rumliege, während alle anderen arbeiten.» Sie schaute besorgt auf die dunklen Schatten unter seinen Augen. Letzte Nacht hatte er nicht viel Schlaf bekommen.
«Genieß es, wir hatten eine regelrechte Flut von Buchungen für nächste Woche und massenhaft Anfragen. Es gab ein paar positive Bewertungen auf TripAdvisor, dass man hier super Kaffeetrinken kann. Und eine tolle Bewertung auf irgendeinem Reiseblog. Sie fanden das Essen toll, das freundliche Personal und das huggulegt … was immer das sein soll.»
«Das ist die isländische Variante von Hygge», meinte Lucy und wackelte in ihrem kuscheligen Socken von Hekla mit den Zehen.
«Von was?»
«Hygge», wiederholte Lucy.
«Noch nie davon gehört», sagte Alex. «Hab ich da was verpasst?»
«Wenn du vorhast, in nördlichen Breiten zu wohnen, dann würde ich sagen, ja. In ganz Skandinavien gibt es verschiedene Versionen dieses Ausdrucks; es bedeutet ‹gemütlich›, aber es geht um viel mehr. Huggulegt zu sein, bedeutet, sich die Zeit zu nehmen, die einfachen Dinge des Lebens zu genießen und Gefühle von Wärme bei anderen hervorzurufen.»
Alex rümpfte die Nase. «Das klingt nach ziemlichem Modequatsch, wenn du mich fragst.»
Sie verdrehte die Augen und lachte. «Ich muss zugeben, das habe ich auch erst gedacht. Aber weißt du was? Seit ich hier bin und viel Zeit mit Hekla und den anderen verbringe, verstehe ich es. Das Wetter kann hier ganz schön gruselig sein.»
«Das ist ja wohl eine Untertreibung», sagte Alex und schaute hinaus auf die grauen Wolken und in den strömenden Regen, der an der Fensterscheibe hinablief.
«Ja, aber genau darum geht es – schau, wie gemütlich es hier drinnen ist.» Sie deutete auf den brennenden Kamin, auf das warme Licht der Lampen und auf die Wolldecke, die über ihren Knien lag. Dann zeigte sie auf den dampfenden Suppenteller auf dem Tablett, das auf ihrem Schoß stand.
«Die Leute müssen den langen Winter irgendwie überstehen, also machen sie es sich gemütlich und pflegen ihre Rituale. Es sind nur kleine Dinge, aber es geht um die Zeit, die man sich dafür nimmt. Zum Beispiel, sich ein Feuer anzuzünden, hübsche Kerzen anzumachen oder Lampen, ein gutes Buch zu lesen, dabei einen schönen Tee zu trinken, und zwar nicht irgendeinen, sondern einen besonders leckeren, und den trinkt man aus einer richtig schönen Porzellantasse, und dazu gibt es noch köstliche Schokoladenkekse …» Ihre Stimme klang ganz warm, als sie ihm diese Szene beschrieb.
Alex zog die Augenbrauen hoch, und sie stupste ihn an.
«Ehrlich, das funktioniert. Du solltest es auch mal probieren.»
«Hmmm.»
«Also, den Gästen gefällt es. Das Frühstück und der Nachmittagstee sind ausgebucht.»
«Das muss an den hübschen Porzellantassen liegen.» Er zwinkerte ihr zu.
«Lach nicht. Es macht wirklich was aus.»
«Dann tut es mir leid, dass die Suppe in einem ganz normalen Teller serviert wird, aber du solltest sie trotzdem essen, solange sie noch warm ist.»
«Hast du was gegessen?», fragte sie, nahm den Löffel und probierte von der köstlichen Lammbrühe.
Alex lächelte. «Wer hat denn wohl vorhin die Schinkensandwiches gemacht? Es ist unmöglich, Schinken für jemanden zu braten und nicht selbst welchen zu essen. Und später esse ich noch etwas Suppe.»
Er nahm ihr Buch zur Hand, das sie zur Seite gelegt hatte, las den Text auf der Rückseite, schlug es dann auf, während sie die Suppe aß.
Es fühlte sich merkwürdig vertraut an, wie er da neben ihr las, während sie die Suppe löffelte.
«Mm, das war köstlich, danke.» Sie hatte den Teller leer gegessen.
«Dein Appetit hat jedenfalls keinen Schaden genommen», sagte Alex. Er legte das Buch weg und nahm ihr das Tablett ab. «Wie geht es deiner Schulter?»
«Schmerzt», sagte Lucy.
«Lass mal sehen.»
Ohne nachzudenken, rollte sie sich auf den Bauch und versuchte umständlich, ihr T-Shirt hochzuziehen.
«Lass mich mal.» Ohne Umstände übernahm er. «Uh. Die blauen Flecken sehen noch übler aus.» Er griff nach dem Salbentopf und drehte den Deckel ab. «Meinst du, das hier hilft?»
«Ich …» Sie wusste es nicht. «Es … riecht gut», brachte sie schließlich heraus und überlegte, was er wohl denken würde, wenn sie «es fühlt sich gut an» gesagt hätte.
Nicht nur gut, sondern herrlich, beschloss sie, als seine Finger über ihre Haut strichen und die Salbe unendlich sanft in ihr Schulterblatt rieben. Sie schloss seufzend die Augen und genoss das Schieben und Ziehen ihrer Haut über dem Knochen, die Wärme der Salbe und Alex’ sorgfältige, ruhige Gründlichkeit. Mit magischen Händen bearbeitete er jeden blauen Fleck, war besonders vorsichtig auf den wunden Stellen, fester aber an den verknoteten Muskeln. Ihre erhitzte Haut kribbelte, sie kuschelte sich in die Matratze und merkte, dass ihre Brustwarzen hart wurden.
«Mmmm», stöhnte sie wohlig auf, als er eine Muskelverhärtung fand und sie knetete, sodass ihre Nippel gegen ihr hochgeschobenes T-Shirt rieben. Genießerisch drückte sie den Rücken durch und ließ seine Hände jeden Zentimeter ihres Rückens bearbeiten, wobei er sorgfältig auf die Spuren ihres Unfalls achtete. Schließlich hatte er den Anfang ihres Steißbeins erreicht, dort, wo die Decke ihre Hüften bedeckte, und ein paar köstliche Sekunden strichen seine Finger über die Knochensenke und tanzten über ihre weiche Haut. Ihr Bauch zog sich erwartungsvoll zusammen, sehnte sich danach, dass sich seine Hände tiefer bewegten, über ihren Hintern strichen, ihre Schenkel fanden. Unfreiwillig öffnete sie die Beine.
Seine Hände lösten sich, und sie wackelte enttäuscht mit den Hüften.
«Heute keine Küsse?», fragte sie träumerisch, und dann erstarrte sie, als sie merkte, was sie da gesagt hatte. Ihre Finger bohrten sich in das Daunenkissen.
Alex antwortete nicht.
Sie biss sich auf die Lippe und verspürte den Drang, sich das Kissen über den Kopf zu ziehen.
Doch dann fuhr er sanft mit den Lippen über die blauen Flecken. Ihre Haut erschauderte unter seinen seidigen Berührungen.
«Sorry, aber die Salbe schmeckt nicht besonders.»
Sie schluckte. Auf einmal stieg ihr die Röte ins Gesicht, und sie wäre am liebsten vor Scham gestorben.
Alex lachte, zog ihr T-Shirt zurecht und küsste sie auf den Hals. Sein heißer Atem berührte ihr Ohr, als er flüsterte: «Vielleicht nächstes Mal. Aber jetzt muss ich arbeiten.»
Am Ende sah sie Alex an diesem Abend gar nicht mehr. Hekla brachte um sechs Uhr eilig ein Abendessen herein und sah abgekämpft aus.
Lucy hatte den Nachmittag in der unangenehmen Gesellschaft ihrer reuevollen Gedanken verbracht und hätte sich gern mit jemanden unterhalten, um sich von den Gedanken an Alex und der Erinnerung an ihre plumpe Aufforderung vorhin abzulenken. Sie war nicht sicher, was schlimmer war: dass sie das gesagt hatte oder dass er abgelehnt hatte.
«Können Sie nicht ein bisschen bleiben?», fragte sie ziemlich kläglich.
Heklas blaue Augen huschten hektisch hin und her.
«Alles o.k.?», fragte Lucy, sofort misstrauisch geworden.
«Ja, alles gut. Alles bestens.»
«Was bedeutet, nichts ist gut», sagte Lucy und schaute sie bohrend an.
Hekla hob ergeben die Hände.
«Alex hat gesagt, wir dürfen es Ihnen nicht sagen.»
«Hat er das?»
«Und es ist alles gut … er hat das Heft in die Hand genommen. Er hat alles unter Kontrolle.»
«Hekla», sagte Lucy warnend, und die junge Frau sah sie noch hektischer an.
«Eine Busladung von vierzig Gästen ist vor einer halben Stunde angekommen. Zum Abendessen. Der Fahrer meint, sie hätten gebucht. Ich …» Sie runzelte besorgt die Stirn. «Ich erinnere mich nicht daran.»
Lucy warf ihre Decke zur Seite und schwang die Beine aus dem Bett.
«Nein, nein! Es ist alles gut. Wirklich. Ehrlich, Lucy. Brynja und ich helfen Alex beim Servieren. Kristjan hat schon einen Plan. Sie können nichts helfen. Aber ich kann nicht lange bleiben.»
«Sind Sie wirklich sicher?»
Hekla nickte. «Alex hat alles im Griff. Als wäre er der Manager.»
«Ja, er ist gut.»
Hekla grinste und zog die Augenbrauen hoch.
«Im Managen», sagte Lucy, wurde rot und konnte nicht verhindern, dass ihre Lippen sich zu einem Lächeln verzogen. «Wir sollten überlegen, ihn zu befördern. Dann hätten Sie weniger zu tun.»
«Ja, das wäre gut. Dann wäre er öfter bei uns im Büro. Ein schöner Anblick», neckte Hekla.
«Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.» Lucy schürzte die Lippen.
«Doch, das wissen Sie genau.»
Lucy seufzte und ließ sich gegen ihre Kissen fallen.
«Wenn es Ihnen wieder bessergeht, habe ich einen Vorschlag», sagte Hekla auf einmal.
«Mir geht es besser», antwortete Lucy sofort und setzte sich aufrecht hin.
«Ich muss erst etwas organisieren.» Hekla schaute sehr zufrieden drein. «Es wird eine Überraschung», sagte sie. Dann machte sie einen kleinen Hüpfer und eilte zur Tür.
«Ich mag keine Überraschungen!», rief Lucy, doch es war zu spät. Hekla war schon weg.