1

Evaluation

A m 31. Mai 2009 startete am Flughafen Rio de Janeiro-Galeão in Brasilien der Air-France-Flug 447 mit Zielflughafen Paris-Charles-de-Gaulle, Frankreich. Das Flugzeug hob pünktlich um 19:03 Uhr ab. An Bord befanden sich 216 Passagiere – 208 Erwachsene und acht Kinder, darunter ein Kleinkind –, außerdem neun Flugbegleiter sowie drei Piloten mit einer Gesamtflugzeit von mehr als 20000 Stunden.

Bei dem Flugzeug handelte es sich um einen Airbus A330, eine zweistrahlige Maschine, die bis heute zu den modernsten Flugzeugen zählt. Ihr digitales Fly-by-Wire-Flugsteuerungssystem und die Flugcomputer unterstützen ein ausgeklügeltes System von Sicherheitsroutinen zum Schutz vor unkontrollierten Flugzuständen etwa durch einen Strömungsabriss beim sogenannten Überziehen (Stalling) oder durch die Belastung des Flugzeugs über seine strukturellen Grenzen hinaus. Im Cockpit des A330 wurden die konventionellen Steuerhörner und die mechanischen Messgeräte durch handliche Sidesticks und sechs große LCD -Bildschirme ersetzt, die die Piloten mit allen Informationen versorgen. Das Flugzeug ist auf zwei Piloten ausgelegt, jedoch befanden sich an Bord von Flug 447 drei Piloten, damit sie sich während des geplanten elfstündigen Flugs über den Atlantik abwechselnd ausruhen konnten.

Der Steigflug auf die vorgesehene Reiseflughöhe verlief reibungslos. Die Maschine folgte zunächst mehrere Stunden der brasilianischen Küstenlinie, bevor sie schließlich über den Atlantik einschwenkte. In Äquatornähe gelangte das Flugzeug in die innertropische Konvergenzzone, wo durch das Zusammentreffen der Passatwinde der südlichen und der nördlichen Hemisphäre regelmäßig starke Unwetter auftreten. So auch in jener Nacht. Es gab Berichte über starke Gewitter in der Region, doch diese typischen Wetterverhältnisse hatten keinerlei Auswirkungen auf mehr als ein Dutzend weiterer Flüge gehabt, die auf einer ähnlichen Route wie Flug 447 unterwegs gewesen waren.

Während das Flugzeug seinen Weg über den Atlantik fortsetzte, verloren die brasilianischen Fluglotsen irgendwann den Kontakt zu der Maschine. Doch dies ist bei einer Ozeanüberquerung keineswegs ungewöhnlich. Allerdings gelang es dem nächstgelegenen Flugkontrollzentrum an der afrikanischen Küste nicht, Kontakt zu dem Flugzeug herzustellen. Da es unvorstellbar erschien, dass eine moderne Maschine einfach so verschwinden konnte, wurde ein »virtueller Flugplan« erstellt, der die voraussichtliche Flugroute simulierte. Wie nicht anders zu erwarten, folgte das fiktive Flugzeug in den kommenden Stunden seinem berechneten Weg. Erst am Morgen wurde die Sorge um das Flugzeug so groß, dass Air France schließlich die Behörden alarmierte und von beiden Seiten des Atlantiks Suchaktionen aus der Luft gestartet wurden.

Es sollte mehrere Tage dauern, bis ein Aufklärungsflugzeug schließlich rund 1000 Kilometer vor der brasilianischen Küste auf erste Wrackteile des Flugzeugs stieß. Insgesamt wurden mehr als 1000 Helfer und Dutzende Flugzeuge und Schiffe für die Suche aufgeboten, die sich auf eine Meeresfläche von rund 250000 Quadratkilometern erstreckte und zum Fund von Trümmerteilen und Leichen führte. Es stand fest, dass niemand an Bord überlebt hatte. Die Frage war jedoch, wie es dazu hatte kommen können.

Die Antwort darauf hätten der Cockpit Voice Recorder und der Flight Data Recorder – die beiden sogenannten Blackboxes – liefern können , jedoch lagen diese vermutlich irgendwo auf dem Meeresgrund. Das Problem war, dass das Meer im vermuteten Absturzgebiet von Flug 447 bis zu 4500 Meter tief und der Boden zudem stark zerklüftet war. Wie ein Experte erklärte: »Dort unten ist ein Gebirge, so groß wie die Alpen. Man musste damit rechnen, dass die Wrackteile des Flugzeugs in eine Schlucht gerutscht waren. Das Gebiet ist alles andere als eben.«

Kurz nach dem Absturz wurde ein Spezialschiff mit einem Tiefsee-U-Boot und einem ferngesteuerten Tauchroboter in die Gegend entsandt, um nach dem Wrack zu suchen. Die Zeit drängte, da die Blackboxes zwar mit Unterwassersendern ausgestattet waren, die Batterien aber nur eine Lebensdauer von 30 Tagen hatten. Sobald sie kein Signal mehr aussandten, verringerte sich die Chance, sie zu finden, drastisch. Die US -Navy unterstützte die Suchaktion durch hochsensible Ortungssysteme. Sogar ein französisches Atom-U-Boot beteiligte sich an der Suche.

Doch Ende Juli, knapp zwei Monate nach dem Absturz, bestand keine Hoffnung mehr, die Blackboxes über ihre Sender aufzuspüren. Die Suche trat in eine zweite Phase ein, in der man den Meeresboden mit Schleppsonaren systematisch absuchte, um so die Trümmer und die so wichtigen Blackboxes zu finden. Eine europäische Untersuchungskommission zu den Absturzursachen hatte bis dahin nur magere Erkenntnisse zusammengetragen:

  1. Auf der geplanten Flugroute herrschten schlechte Wetterbedingungen.
  2. Die Bordsysteme des Flugzeugs hatten mehrere automatische Meldungen abgesetzt, aus denen hervorging, dass es in den letzten Minuten des Flugs widersprüchliche Geschwindigkeitsanzeigen gab.
  3. Gefundene Trümmerteile deuteten darauf hin, dass das Flugzeug nicht in der Luft auseinandergebrochen war, sondern merkwürdig auf dem Meer aufgeschlagen sein musste: in normaler Fluglage, jedoch bei schneller Sinkgeschwindigkeit, beinahe so wie bei einem Bauchklatscher.

Durch diese Erkenntnisse konnten anfänglich kursierende Theorien ausgeschlossen werden, etwa dass eine Bombe an Bord explodiert wäre oder die Flügel durch extreme Turbulenzen abgerissen wären. Höchstwahrscheinlich waren aufgrund des schlechten Wetters die Staudrucksensoren zur Geschwindigkeitsmessung vereist, was dann zu den automatischen Meldungen über widersprüchliche Geschwindigkeitsmessungen geführt hatte.

Doch das allein konnte den Absturz des Flugzeugs nicht verursacht haben. Tatsächlich waren allein im vorangegangenen Jahr allein in der Airbus-A330-Flotte von Air France 15 vergleichbare Vorfälle aufgetreten. Doch jedes Mal hatten die Piloten das Flugzeug problemlos durch alle Schwierigkeiten steuern können. Die angezeigte Geschwindigkeit hat nämlich, wie ein kaputter Tacho eines Autos, keine Auswirkungen auf das Verhalten des Flugzeugs. Die Piloten können sie einfach ignorieren, bis das Eis schmilzt und die Geschwindigkeitsmessung wieder funktioniert. Im Fall von Air-France-Flug 447 gingen die Ermittler davon aus, dass die Vereisung eine katastrophale Kettenreaktion ausgelöst haben musste, in deren Folge die Crew schließlich die Kontrolle über das Flugzeug verlor. Ohne die Blackboxes gelang es in den folgenden zwei Jahren jedoch nicht, das Unglück genauer zu rekonstruieren. Vorkehrungen wurden getroffen, damit die Staudrucksensoren nicht mehr vereisten, außerdem wurde die Übergabe zwischen den Flugsicherungszentralen neu geregelt, um eine ähnliche Verzögerung auszuschließen, sollte erneut ein Flugzeug vom Radar verschwinden.

Erst im April 2011 wurde das Flugzeugwrack schließlich im Zuge der vierten Suchphase gefunden. Autonome, über Seitensichtsonar verfügende Tauchroboter entdeckten in mehr als 4000 Metern Tiefe ein Trümmerfeld auf dem schlammigen Meeresboden. Innerhalb des darauffolgenden Monats konnten auch die Blackboxes aufgespürt und geborgen werden. Diese wurden daraufhin versiegelt, von der französischen Marine in den Hafen von Cayenne gebracht und von dort umgehend nach Paris geflogen, wo die Daten ausgelesen und analysiert wurden.

Die Erkenntnisse der Ermittler waren ein Schock für die Luftfahrtgemeinschaft und können Generationen von Piloten als Lehrbeispiel dienen, worauf es bei der Entscheidungsfindung ankommt.

Stand-ups

Als Teil der Pilotenausbildung der U.S. Air Force finden jeden Morgen sogenannte Stand-ups statt, bei denen die Flugschüler entlang der Wände des Schulungsraums Platz nehmen, während der Ausbilder an der Stirnseite steht. Ein willkürlich ausgewählter Schüler muss in die Mitte des Raumes treten, wo ihm ein Notfallszenario geschildert wird. Die Situation ist bewusst stressig gestaltet, damit die Schüler zumindest ansatzweise die Angst und das Adrenalin spüren, denen ein Pilot bei einem Notfall in der Luft ausgesetzt ist. Wenn ein Schüler das notwendige Vorgehen unzureichend erläutert, muss er sich setzen, und ein anderer nimmt seine Stelle ein. Die Leistungen werden akribisch dokumentiert und fließen in die Entscheidung ein, welchem Flugzeugmuster die Schüler am Ende der Pilotenausbildung zugeteilt werden. Um den Druck noch zu erhöhen, kann bei einer übermäßig schwachen Leistung eines Schülers die gesamte Klasse bestraft werden.

Wie man sich vorstellen kann, sind die Stand-ups bei den Schülern nicht gerade beliebt – zumindest waren sie das bei mir nicht, als ich da durchmusste. Wurde mein Name aufgerufen, atmete ich tief ein, versetzte mich geistig komplett in die Situation und trat in die Mitte. Dann ratterte ich die Floskeln herunter, die wir als Allererstes aufsagen mussten: »Ich behalte die Kontrolle über das Flugzeug, analysiere die Situation, ergreife geeignete Maßnahmen und lande, sobald es die Bedingungen zulassen.« Anschließend ging ich jeden Handgriff und Funkspruch durch, als säße ich tatsächlich im Flugzeug.

Was wir hier lernten, war ein Entscheidungsfindungsmodell, das im Laufe der knapp einhundertjährigen Luftfahrtgeschichte entwickelt worden war, ausgehend von der Einsicht, dass in der Luft eine einzige falsche Entscheidung zum Tod führen kann. Auch wenn sich unser Vergnügen in Grenzen hielt, lernten wir auf diese Weise, unter Druck komplexe Probleme zu lösen.

Anders als bei den Klassenarbeiten in der Highschool gab es nicht die eine richtige Lösung. Bei den Stand-ups kam es auf divergentes Denken an, eine Denkweise, der zufolge es stets mehrere richtige Antworten gibt und die von uns verlangte, auch die sich auf sekundärer und tertiärer Ebene fortsetzenden Auswirkungen jeder unserer Entscheidungen zu bedenken. Eine überhastete, scheinbar simple Entscheidung konnte 15 Minuten später zu einem unlösbaren Problem führen. Viele Flugschüler – sogar solche, die im College oder auf der Air Force Academy zu den Besten gehört hatten – stellte diese Veränderung der Denkweise vor erhebliche Probleme. Sie waren im schulischen Denken gefangen, sodass es ihnen schwerfiel, Lösungen für unvorhergesehene Probleme zu finden.

Ich kann mich noch an einen Kameraden erinnern, der jedes Problem, das er sich ausmalen konnte, zusammen mit den möglichen Lösungen akkurat in mehreren Notizbüchern festgehalten hatte. Solange die Probleme zu Beginn des Kurses noch einfach waren, konnte er in seinen Aufzeichnungen nachschlagen und hatte sofort eine Lösung für den jeweiligen Notfall parat. Doch als die Probleme im weiteren Verlauf der Ausbildung immer komplexer wurden und oftmals mehrere parallele Notfälle umfassten, erwies sich sein Vorgehen als hinderlich. Es mangelte ihm an geistiger Flexibilität, sodass er sich bei Problemen, die von seinen Erwartungen abwichen, nicht anpassen konnte und unter dem Druck zusammenbrach. Irgendwann schaukelte sich das so weit auf, dass er unfähig war, noch einen einzigen Notfall zu bewältigen, und das Programm verlassen musste.

Dabei hatten uns die Ausbilder den Schlüssel zum Erfolg bereits in die Hand gegeben, noch bevor wir zum ersten Mal zum Stand-up antreten mussten. Dieser verbarg sich in den Eingangsfloskeln, die wir jedes Mal aufsagen mussten, wenn unser Name aufgerufen wurde: »Ich behalte die Kontrolle über das Flugzeug und analysiere dann die Situation.« Die Kontrolle zu behalten hieß nichts anderes, als dass wir auch in einem Notfall weiterhin das Flugzeug steuern mussten. In einem Einsitzer genießt man nicht den Luxus, sich einfach mal ausklinken zu können, um sich vollkommen dem gerade anstehenden Problem zu widmen. Man muss seine geistigen Kapazitäten zwischen dem Störfall und dem Fliegen aufteilen.

Danach erst stand die Analyse der Situation an. Ein Problem vollständig zu verstehen, ist der erste Schritt zu seiner Lösung. Unser Instinkt sorgt oftmals dafür, dass wir diesen zentralen Schritt übergehen und stattdessen einfach loslegen. Zahlreiche Menschen und Organisationen stehen im Bann der kognitiven Fehlannahme, wir würden ein Problem umso schneller lösen, je eher wir tätig werden. Dieser Instinkt ist derart mächtig, dass Piloten bei der Schulung auf der F-16 eine ungewöhnliche Technik lernten, die verhinderte, dass sie die notwendige Analyse übersprangen.

Im Cockpit der F-16 gab es rechts unten in der Konsole eine winzige analoge Uhr, ein Überbleibsel aus der Zeit, in der das Flugzeug entwickelt worden war, in den 1970er-Jahren. So gut wie alles andere in dem Kampfjet war im Laufe der Zeit modernisiert und ausgetauscht worden, nur nicht dieser Zeitmesser mit Handaufzug. Niemand nutzte ihn noch, um auf ihm die Uhrzeit abzulesen. Doch von jedem erfahrenen Ausbilder hörte man früher oder später: »Bevor du eine Entscheidung triffst, zieh zunächst die Uhr auf.« Auf den ersten Blick ergab das keinen Sinn. Doch es verhinderte, dass man als Pilot dem Drang nachgab, ein Problem sofort lösen zu wollen. Das Aufziehen der Uhr beanspruchte einige Sekunden lang die Aufmerksamkeit des Piloten und hielt ihn ganz konkret davon ab, irgendetwas anderes zu berühren. Es zwang ihn dazu, zunächst einmal die Situation zu evaluieren, bevor er handelte, und ermöglichte ihm damit, um ein Vielfaches bessere Entscheidungen zu treffen.

Die letzten Minuten

Die Aufnahmen der Blackboxes von Air-France-Flug 447 zeigen, dass die ersten Stunden ruhig verliefen. Kapitän Marc Dubois und der zweite Co-Pilot Pierre-Cédric Bonin waren mit Routinetätigkeiten beschäftigt und fanden währenddessen noch Zeit für einen Plausch über Privates. Dubois war 58 Jahre alt und mit annähernd 11000 Flugstunden, die Hälfte davon als verantwortlicher Pilot, äußerst erfahren. In den Tonaufnahmen aus dem Cockpit sticht er mit seinem gesamten Habitus heraus: Er wirkt ruhig und überlegt und dient seinen Co-Piloten nicht nur als Mentor, sondern erklärt ihnen auch, wie er zu seinen Entscheidungen gelangt.

Im Gegensatz zu Dubois verfügte sein Co-Pilot Bonin über wenig Erfahrung und wurde mit seinen 32 Jahren als das »Baby« der Fluggesellschaft bezeichnet. Bonin wurde von seiner Frau begleitet, die in der Passagierkabine mitflog. Vor dem Trip hatten sie ihre beiden Kinder bei den Großeltern abgegeben, um gemeinsam ein langes Wochenende genießen zu können. In den Aufnahmen tritt Bonins Unerfahrenheit zutage. Er wirkt nervös und unsicher in seinen Entscheidungen, selbst bei Routineaufgaben.

Neben den beiden befand sich noch ein weiterer Co-Pilot an Bord, David Robert, der die ersten Stunden des Flugs schlafend im Ruhebereich der Piloten direkt hinterm Cockpit verbrachte. Auch er war mit seinen 6500 Flugstunden ein erfahrener Pilot und hatte seine Ausbildung an der angesehensten französischen Hochschule für zivile Luftfahrt absolviert, der École nationale de l’aviation civile. Allerdings war er kurz zuvor in die Verwaltung in der Unternehmenszentrale gewechselt und flog nur noch gelegentlich, um seinen Pilotenstatus zu behalten.

Nach einem dreieinhalbstündigen Routineflug traf die Maschine auf die Ausläufer des Unwetters in der innertropischen Konvergenzzone und tauchte in die oberen Wolkenschichten ein. Normalerweise hätten die Piloten die Unwetterfront überflogen, doch da es wärmer war als üblich und das Flugzeug noch jede Menge Kerosin für den Transatlantikflug an Bord hatte, konnten sie nur auf 35000 Fuß steigen und mussten durch das Schlechtwettergebiet fliegen, anstatt darüber hinweg. Die Turbulenzen wurden heftiger, und sogenannte Elmsfeuer traten auf, ein Wetterphänomen, bei dem durch die elektrische Ladung der Gewitterluft am Cockpitfenster blauviolette Lichtblitze entstehen. Bonin hatte dieses Schauspiel noch nie gesehen, und den Aufnahmen zufolge reagierte er zugleich fasziniert und verängstigt. Er stellte fest, dass sie ein wenig nach oben ziehen könnten, eine versteckte Bitte an den Flugkapitän. Doch Dubois hatte vergleichbare Bedingungen bereits Hunderte Male erlebt. Unbeeindruckt blieb er auf Kurs und forderte seine Ablösung an, um seine vorgesehene Schlafpause einzulegen. Der Co-Pilot Robert kam ins Cockpit und nahm den Platz des Flugkapitäns ein. Obwohl Robert sehr viel erfahrener als Bonin war (er konnte mehr als doppelt so viele Flugstunden nachweisen), übertrug Dubois die Verantwortung für das Flugzeug seltsamerweise Bonin.

Nach dem Abschied des Flugkapitäns diskutierten Robert und Bonin die Wetterverhältnisse. Weder sie noch Dubois hatten darum gebeten, das Gewittergebiet, wie andere Flugzeuge zuvor, umfliegen zu dürfen. Beim Blick auf das Wetterradar erkannten sie, dass unmittelbar vor ihnen eine Gewitterzelle lag, daher gaben sie den Flugbegleitern Bescheid.

Bonin: Hört mal, in zwei Minuten gelangen wir in ein Gebiet, wo es ein bisschen unruhiger werden dürfte als jetzt. Ihr müsst euch da in Acht nehmen.

Flugbegleiterin: Okay. Sollen wir uns hinsetzen?

Bonin: Nun, ich denke, das wäre besser …

Bonins Unerfahrenheit zeigt sich hier überdeutlich – er hatte das Wetterradar gesehen und wusste, was sie erwartete. Doch obwohl die Flugbegleiterin ihn um eine klare Anweisung bat, dachte er offenbar immer noch wie ein Co-Pilot ohne Verantwortung. Er vermied eine klare Entscheidung, dabei war er in diesem Moment der verantwortliche Pilot.

Anschließend unterhielten sich die beiden Co-Piloten über die ungewöhnlich hohen Temperaturen, aufgrund derer sie nicht auf die eigentlich gewünschte Flughöhe steigen konnten. Bonin äußerte sich erleichtert wegen ihres Flugzeugtyps: »Verdammt, zum Glück sitzen wir in einem A330, oder?« Robert erwiderte ungerührt: »Absolut.«

Während sie weiterhin von dichten Wolken umgeben waren, sorgte sich Bonin, dass die Flügel vereisen könnten: »Schalte die Enteisung an. Das ist immerhin besser als nichts.« Kurz darauf erklärte er: »Anscheinend haben wir das Ende der Wolkenschicht erreicht. Das sollte funktionieren.«

Die letztzitierten drei Äußerungen von Bonin verraten, dass er sich selbst davon zu überzeugen versuchte, alles werde schon irgendwie gut gehen. Auf der Aufnahme aus dem Cockpit ist zu hören, dass seine Tonlage höher ist und er schneller spricht. Gäbe es Aufzeichnungen von seinem Puls und seiner Atemfrequenz, würden sie vermutlich zeigen, dass sie erhöht waren. Er hatte Angst. Ich kenne das – man spürt die Last der Verantwortung auf den Schultern und weiß nicht, was man tun soll. Also versucht man, sich selbst mit Aussagen wie »Das sollte funktionieren« zu beruhigen. Gleichzeitig sucht man nach Bestätigung, etwa mit der Feststellung: »Zum Glück sind wir in einem A330, oder?« Zudem dürfte Bonins Stress nicht gerade geringer geworden sein durch die Tatsache, dass seine Frau mit an Bord war.

Kurz darauf bemerkte Robert, dass das Radarsystem falsch eingestellt war. Als er das Setting änderte, erkannte er, dass sie direkt auf ein Gebiet mit intensiver Aktivität zusteuerten.

Robert: Du könntest vielleicht etwas nach links ziehen.

Bonin: Wie bitte?

Robert: Du könntest ein wenig weiter nach links gehen. Wir sind uns doch einig, dass wir manuell fliegen, oder?

Bonin begann das Flugzeug nach links zu ziehen, als sich plötzlich ein merkwürdiger elektrostatischer Geruch im Cockpit ausbreitete. Zugleich stieg die Temperatur.

Bonin: Verdammt noch mal, warst du an der Klimaanlage?

Robert: Ich habe sie nicht angefasst.

Bonin: Was ist das für ein Geruch?

Robert, der bereits bei ähnlichen Flügen dabei gewesen war, erkannte, dass der Geruch vom Ozon kam, einem Nebenprodukt der elektrischen Ladung des Unwetters, in dem sie sich befanden.

Bonin: Ist das Ozon? Sind wir uns da sicher?

Robert: Das ist der Grund, weshalb …

Bonin: Ich kann schon spüren, wie unerträglich heiß es wird!

Robert: Es ist das da, weswegen es heiß und ozonig ist.

Das Flugzeug geriet in Hagelschauer – die feuchte Tropenluft wurde über dem Ozean nach oben gesogen und gefror in der Höhe umgehend. Auf der Aufnahme ist ein Prasseln zu hören, als würde jemand mit den Fingernägeln auf Metall trommeln – das Geräusch der Eiskörner, die auf das Flugzeug treffen. Bonins Anspannung stieg noch einmal spürbar. Obwohl er der verantwortliche Pilot war, fragte er immer wieder Robert, was sie tun sollten.

Um die strukturelle Belastung des Flugzeugs zu verringern, gingen die Co-Piloten mit der Geschwindigkeit herunter, außerdem schalteten sie das Enteisungssystem der Turbinen ein. Die Hagelkörner waren so klein, dass sie keine Gefahr für die Flugzeugstruktur darstellten, allerdings konnten sie sich wegen ihrer geringen Größe in den Staudrucksensoren sammeln.

Diese winzigen Sonden am Flugzeugbug messen den Druck des Luftstroms. Daraus wird dann die Fluggeschwindigkeit berechnet, die den Piloten angezeigt und an die modernen Flugsteuerungscomputer weitergegeben wird. Aus Redundanzgründen verfügt ein A330 über drei solche Sensoren. Doch bei Flug 447 verstopften unglücklicherweise alle drei gleichzeitig.

Das Fehlen einer gültigen Fluggeschwindigkeitsangabe zur Steuerung des Flugzeugs verwirrte den Autopiloten, sodass er sich abschaltete und die Kontrolle über das Flugzeug vollständig an die Piloten übergab. Allerdings muss festgehalten werden, dass kein mechanischer Defekt vorlag – das Flugzeug blieb auf seiner Reisehöhe von 35000 Fuß und flog weiterhin vollkommen regulär, abgesehen vom Verlust der Geschwindigkeitsanzeige. Ohne Eingriff vonseiten Bonins und Roberts wäre das Flugzeug einfach weiter geradeaus geflogen. Innerhalb weniger Minuten hätten die Heizvorrichtungen in den Staudrucksensoren das Eis zum Schmelzen gebracht, und der Flug wäre wie geplant weitergegangen.

In den Aufnahmen ist unmittelbar nach der Abschaltung des Autopiloten ein Alarmton zu hören. Zusammen mit dem Master Warning Light (Hauptwarnlampe) zeigte das akustische Signal demnach an, dass die Maschine nunmehr in manueller Steuerung war. Daraufhin erklärte Bonin: »Ich habe die Steuerung«, und bestätigte damit noch einmal, dass er der verantwortliche Pilot war, während Robert ihm als Co-Pilot zur Seite stehen sollte.

Das Problem evaluieren

Dies war der Moment der Wahrheit. Das Flugzeug war im Grunde genommen voll funktionsfähig, während Bonin zu verstehen versuchte, warum sich der Autopilot abgeschaltet hatte. Nachdem er bereits in den Minuten zuvor Angst gehabt hatte, dürfte er nun in Panik gewesen sein. Das einzig Richtige wäre in dieser Situation ein sogenannter Crosscheck gewesen, also der Abgleich der Fluggeschwindigkeitsanzeige mit den anderen Anzeigen im Cockpit, etwa zur Geschwindigkeit über Grund, der Höhe, der Fluglage und der Steigrate. Auf diese Weise hätte er erkannt, dass lediglich die Fluggeschwindigkeitsanzeige nicht funktionierte und sie diese vorübergehend ignorieren könnten, um nur mithilfe der anderen Instrumente zu fliegen.

Doch Bonin handelte. Er evaluierte die Situation nicht, sondern zog sogleich den Sidestick nach hinten, sodass das Flugzeug steil stieg. Das war eine irrationale Entscheidung, da er noch wenige Minuten zuvor festgestellt hatte, dass das Flugzeug wegen der hohen Außentemperatur nicht höher steigen konnte. Doch sobald unser Stresslevel steigt, sinkt unser IQ , sodass wir oftmals schlechte Entscheidungen treffen. Bonin hatte die Situation in diesem Moment erheblich schlimmer gemacht.

Ein Alarmton ging los und warnte die Piloten, dass das Flugzeug die programmierte Höhe verlassen hatte. Dennoch hielt Bonin den Sidestick unverändert nach hinten gezogen, und das Flugzeug stieg in einer atemberaubenden Geschwindigkeit von 7000 Fuß (ca. 2000 Meter) pro Minute. In der dünnen Luft auf dieser Höhe war das zu viel. Das Flugzeug verlor rasant an Geschwindigkeit.

Bonin: Wir haben keine korrekte … Wir haben keine korrekte Geschwindigkeitsanzeige.

Robert: Dann haben wir also die … die … die Geschwindigkeiten verloren? Achte auf deine Geschwindigkeit. Achte auf deine Geschwindigkeit.

Bonin: Okay, okay, ich gehe wieder in den Sinkflug.

Robert befand sich in einer schwierigen Lage. Er war erfahren, aber auch ein wenig eingerostet, da er nur noch gelegentlich flog – eine gefährliche Situation für einen Piloten, da das Vertrauen in sich selbst dann oftmals nicht mehr den eigenen Fähigkeiten entspricht. Außerdem war er an einem Tiefpunkt seines zirkadianen Rhythmus und vermutlich müde. Vor allem jedoch war ihm als dem weitaus Erfahreneren eine Nebenrolle zugewiesen worden. Verschlimmert wurde die Lage noch dadurch, dass die Flugsteuerung des Airbus, anders als bei älteren Flugzeugmodellen, den Piloten nicht anzeigt, was der jeweils andere mit seinem Sidestick macht.

Robert: Geh in den Sinkflug … Wir sind dabei, weiter zu steigen, ihm zufolge … Ihm zufolge steigst du, also geh wieder tiefer.

Bonin: Okay.

Robert: Du bist im … Geh wieder runter!

Bonin: Wir sind im … Ja, wir sind im Steigflug.

Robert hatte die Situation erfasst: Das Flugzeug befand sich im steilen Steigflug, sodass die große Gefahr eines Strömungsabrisses (Stalling) bestand. Dieser tritt auf, wenn ein Flugzeug mit so geringer Geschwindigkeit fliegt, dass nicht genügend Auftrieb erzeugt wird, mit der Folge, dass die Maschine absackt. Eigentlich hätte das bei einem Airbus A330 überhaupt nicht möglich sein sollen. Bei der Entwicklung war darauf geachtet worden, dass die Piloten das Flugzeug nicht in eine gefährliche Situation bringen können. Das Unternehmen hatte sein System folgendermaßen angepriesen: »Fly-by-Wire bietet eine verbesserte Handhabung, ein gemeinsames System für die gesamte Airbus-Familie und ein Flugenveloppe-Schutzsystem [das ein Überschreiten der Flugbereichsgrenze verhindert], sodass die Piloten das Flugzeug bis an seine Grenzen treiben können, aber niemals darüber hinaus.«

Unglücklicherweise für Flug 447 wechselte das System aber in einen Back-up-Modus, sobald die Flugcomputer erkannten, dass sie fehlerhafte Daten von den Staudrucksensoren erhielten, wodurch das Flugenveloppe-Schutzsystem abgeschaltet wurde.

Durch die rasant sinkende Fluggeschwindigkeit kam es nach nicht einmal einer Minute tatsächlich zum Strömungsabriss. Ein Alarmton und Master Warning Lights wurden ausgelöst, außerdem warnte eine automatische Ansage: »Stall, stall!« Aufgrund der Turbulenzen an den Flügeln begannen die Flügel zu schwingen, das Phänomen des sogenannten Buffeting. Robert erfasste die Dringlichkeit der Lage und forderte den Kapitän auf, umgehend ins Cockpit zurückzukommen.

Trotz des Strömungsabrisses hätte sich die Situation immer noch problemlos retten lassen. Bei einer Flughöhe von 38000 Fuß blieb genügend Zeit, um einfach den Sidestick nach vorn zu drücken, auf Fluggeschwindigkeit zurückzukehren und den Flug fortzusetzen. Bis zum Strömungsabriss schien Robert das Problem genau erfasst zu haben. Doch aufgrund der separaten Sidesticks – anstelle des gekoppelten Steuerhorns bei älteren Modellen – wusste er nicht, dass Bonin seinen Steuerknüppel die ganze Zeit über nach hinten gezogen hielt. Er vermutete eine Vereisung der Flügel und schaltete das Enteisungssystem an.

Inmitten dieses Durcheinanders begann einer der Staudrucksensoren wieder zu funktionieren und lieferte gegensätzliche Informationen zur tatsächlichen Fluggeschwindigkeit. Robert verschwendete wertvolle Zeit damit, die Avionik auf ein Stand-by-Setting umzuschalten, weil er hoffte, auf diese Weise das Problem isolieren zu können und ein korrektes Bild vom Zustand des Flugzeugs zu erlangen. Allerdings verschlimmerte sich die Situation dadurch nur noch, weil der Stand-by-Sensor nach wie vor blockiert war. Da Robert sich einige Zeit vollständig auf die Avionik konzentrierte, verlor er sein Situationsbewusstsein. Als er endlich fertig war und sich wieder auf das Fluggeschehen konzentrierte, war er genauso verwirrt wie Bonin. Inzwischen fiel das Flugzeug mit einer Geschwindigkeit von mehr als eineinhalb Kilometern pro Minute.

Robert: Wir haben immer noch die Motoren! Was passiert hier eigentlich? Verstehst du, was passiert, oder nicht?

Bonin: Verdammt, ich habe keine Kontrolle mehr über das Flugzeug! Ich habe keine Kontrolle mehr über das Flugzeug!

Robert: Die Steuerung nach links!

Robert übernahm das Steuer und führte Korrekturen um die Rollachse durch. Doch anscheinend war auch er sich nicht des Strömungsabrisses bewusst und zog den Sidestick leicht nach hinten. In dem Moment verstieß Bonin gegen eine Grundregel des Pilotenkodex, indem er ohne jede Vorwarnung seinen Side-

stick mit aller Kraft nach hinten riss, so die Maschine weiter überzog und Robert noch mehr verwirrte.

Mittlerweile sank das Flugzeug mit einer Geschwindigkeit von mehr als 10000 Fuß (ca. drei Kilometer) pro Minute, doch da Bonin seinen Steuerknüppel weiterhin nach hinten gezogen hielt, zeigte die Nase nach oben, als wären sie im Steigflug, in etwa so wie bei einem Blatt, das vom Baum fällt. Das Enteisungssystem ließ das Eis in den Staudrucksensoren rasch schmelzen, sodass sie wieder voll funktionsfähig waren und die korrekte Fluggeschwindigkeit von knapp 110 Kilometern pro Stunde meldeten. Eine solche Situation hatten die Entwickler nicht vorausgesehen. Die Flugcomputer waren inzwischen genauso verwirrt wie die Piloten: Da sie einen Fehler im Code vermuteten, schalteten sie den Stalling-Alarm ab und signalisierten den Piloten damit irrtümlich, die Situation würde sich zum Besseren wenden.

Eineinhalb Minuten nach Beginn der kritischen Lage kehrte Kapitän Dubois ins Cockpit zurück. Vermutlich war er gerade erst aufgewacht.

Dubois: Ähm … Was macht ihr da?

Bonin: Wir verlieren die Kontrolle übers Flugzeug!

Robert: Wir haben völlig die Kontrolle über das Flugzeug verloren … Wir verstehen es nicht … Wir haben alles versucht! Was sollen wir machen?

Dubois: Nun, ich weiß es nicht.

Der Kapitän befand sich in einer noch schwierigeren Lage als Robert. Noch wenige Minuten zuvor, beim Strömungsabriss und dem nachfolgenden Buffeting, hatte er wahrscheinlich geschlafen, dann wurde er plötzlich von den Co-Piloten alarmiert und kehrte umgehend ins Cockpit zurück. Dort traf er auf eine Instrumentenkonsole mit lauter blinkenden Master-Caution- und Master-Warning-Lights sowie seine beiden Co-Piloten, die ihm panisch zuriefen, dass das Flugzeug außer Kontrolle sei. Aufgrund der heftigen Drehbewegungen beschloss er, nicht den Platz eines seiner Co-Piloten einzunehmen, sondern vom Notsitz hinter ihnen aus zu versuchen, die Situation in den Griff zu bekommen.

Bonin setzte die Leistungshebel auf Leerlauf, das Gegenteil dessen, was nötig gewesen wäre. Durch den ausbleibenden Schub senkte sich die Nase. Die Maschine befand sich nun mit einer Sinkgeschwindigkeit von bis zu 13000 Fuß (ca. vier Kilometer) pro Minute mehr oder weniger im freien Fall. Zudem fuhr Bonin auch noch die Luftbremsen aus und verschärfte so die Lage weiter.

Bonin: Ich habe den Eindruck, dass wir in einem enormen Tempo fliegen, oder? Was meint ihr?

Robert: Nein, fahr sie bloß nicht aus!

Robert schob die Leistungshebel bis zum Anschlag nach vorne, sodass die Triebwerke maximalen Schub entwickelten. Anschließend diskutierten die Piloten die Situation und weshalb das Flugzeug außer Kontrolle war. Bonin macht in den Aufnahmen den verwirrtesten Eindruck und fragte einmal sogar, ob sie wirklich an Höhe verlören. Unterdessen war das Flugzeug unverändert im Sinkflug und befand sich inzwischen nur noch 10000 Fuß (ca. 3000 Meter) über dem Meer. In seiner Verzweiflung flehte Robert die Maschine an: »Zieh hoch, zieh hoch, zieh hoch, zieh hoch!« Als Bonin das hörte, platzte er heraus: »Aber ich zieh doch die ganze Zeit über voll hoch.«

Einen Moment lang herrschte Stille im Cockpit. Dies war die entscheidende Information, die Robert und Kapitän Dubois gefehlt hatte.

Bis zu diesem Moment hatten sie keine Ahnung gehabt, dass Bonin den Sidestick die ganze Zeit nach hinten gezogen hielt und damit den Strömungsabriss verursacht hatte.

Dubois: Nein, nein, nein! Nicht hochziehen! Nein, nein!

Robert: Geh in den Sinkflug!

Robert schob seinen Sidestick nach vorn, um den überzogenen Flugzustand zu beenden. Gleichzeitig hielt Bonin seinen Sidestick weiterhin nach hinten gezogen. Das Flugzeug erkannte dies und aktivierte eine Warnung, dass beide Piloten die Kontrolle über das Flugzeug beanspruchten.

Robert: Gib mir die Steuerung! Die Steuerung zu mir!

Bonin: Nur zu, du hast die Steuerung …

Endlich senkte sich die Nase des Flugzeugs, und die Geschwindigkeit stieg wieder. In diesem Moment war das Flugzeug immer noch 5000 Fuß über dem Meer – noch konnten die Piloten es abfangen, doch der Spielraum für Fehler schrumpfte rapide. Bonin war jedoch weiterhin in Panik und begann nach nicht einmal zehn Sekunden, den Stick erneut nach hinten zu ziehen.

Auf einer Höhe von 2000 Fuß schlug das Ground Proximity Warning System (Bodenannäherungs-Warnsystem) Alarm und löste eine automatische Ansage aus: »Pull up! Pull up!« Der Kapitän hatte keine Hoffnung mehr, die Maschine noch abzufangen, und gab das Kommando zum Hochziehen des Flugzeugs, um die Wucht des Aufpralls abzuschwächen.

Dubois: Zieht hoch!

Bonin: Wir werden abstürzen! Das kann nicht wahr sein! Aber was passiert hier?

Robert: Wir sind tot.

Dubois: Fluglagenwinkel zehn Grad …

1,4 Sekunden darauf schlug das Flugzeug mit einer Geschwindigkeit von rund 200 km/h bäuchlings auf dem Wasser auf. Beim Aufprall mit mehr als dem 51-fachen der Schwerkraft zerschellte das Flugzeug und versank innerhalb kürzester Zeit im Meer. Alle 228 Passagiere und Crewmitglieder starben durch die enorme Wucht des Absturzes. Das Ganze hatte von Anfang bis Ende nicht einmal fünf Minuten gedauert.

Analyse

Ich kann nicht sagen, wie oft ich das Geschehen analysiert und mir die Aufnahmen aus dem Cockpit angehört habe. Doch jedes Mal aufs Neue bemerke ich, wie sehr mir die letzten Worte durch Mark und Bein gehen. Wie konnte ein Routineflug in so kurzer Zeit derart aus dem Ruder laufen?

Dutzende Faktoren haben zum Absturz des Flugzeugs beigetragen. Doch die Wurzel allen Übels war, dass keiner der Piloten über ein korrektes mentales Modell des Geschehens verfügte – bis es zu spät war. Bonin hatte den allerersten Schritt beim Treffen einer Entscheidung vergessen – oder nie gelernt: das Problem zu evaluieren.

In den Momenten, bevor sich der Autopilot abschaltete, hatte Bonin eindeutig Angst, und diese steigerte sich anschließend höchstwahrscheinlich zur Panik. Er übersprang die Evaluation des Problems und handelte sofort, indem er den Sidestick vollständig nach hinten zog – ein unverantwortliches Manöver angesichts eines vollbesetzten Flugzeugs, das in der dünnen Atmosphäre auf 35000 Fuß Höhe unterwegs war. Ein modernes Linienflugzeug ist relativ einfach zu fliegen – die Ingenieure haben alles dafür getan, damit es sich standardmäßig geradeaus im Horizontalflug fortbewegt. Indem Bonin den Sidestick nach hinten zog, schuf er eine instabile Situation, in der es nur eine Frage der Zeit war, bis es zum Strömungsabriss kam.

Robert, der erfahrenere Co-Pilot, befand sich zu keinem Zeitpunkt in der komfortablen Lage, ein stabiles Flugzeug analysieren zu können, sondern wurde in eine dynamische Situation hineingeworfen. Trotzdem hätte er während des Strömungsabrisses mehrfach um ein Haar das Problem erfasst. Doch jedes Mal, wenn er sich der Lösung näherte, unternahm Bonin etwas anderes und verhinderte so abermals, dass Robert verstand, was vor sich ging.

Im Rückblick hätte der Kapitän nicht unmittelbar vor einem Unwetter einem unerfahrenen Co-Piloten das Kommando überlassen sollen. Dadurch gab er sein Situationsbewusstsein auf und wurde zu einem bloßen Passagier. Beim Abschalten des Autopiloten war er im Piloten-Ruhebereich und schlief höchstwahrscheinlich. Als er noch schlaftrunken ins Cockpit zurückeilte, fand er eine chaotische Lage vor, in der das Flugzeug bereits mit einer Geschwindigkeit von mehr als 13000 Fuß pro Minute fiel und seine beiden Co-Piloten in Panik waren. Kapitän Dubois hatte erst in den letzten Sekunden eine Chance, ein angemessenes mentales Modell der Situation aufzubauen, nämlich nachdem Bonin erklärt hatte, dass er den Stick die ganze Zeit über nach hinten gezogen hielt. Doch da war es bereits zu spät.

Die Luftfahrt ist ein Drahtseilakt; eine einzige schlechte Entscheidung kann katastrophale Folgen haben. In diesem Beruf steht in jedem Moment nicht weniger als alles auf dem Spiel. Einer Redewendung zufolge gibt es keine alten schlechten Piloten: Jeder Fehler kann zum Tod führen. Daher wird der Entscheidungsfindung solch eine große Aufmerksamkeit geschenkt, und zwar stets in Hinblick auf die praktische Anwendung. Die akademische Theorie allein genügt nicht – eine Ausbildung ist nur dann sinnvoll, wenn sich das Gelernte in der realen Welt umsetzen lässt.

Wenn ich von einem Absturz höre, empfinde ich zuallererst Mitleid für den Piloten und seine Familie, selbst wenn es zu 100 Prozent ein Pilotenfehler war. Zugleich kommt mir unweigerlich ein Zitat in den Sinn, dessen Autor unbekannt ist:

Jedes Mal, wenn wir von einem Piloten sprechen, der bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam, sollte jeder von uns eine Sache im Kopf behalten: Dieser Pilot hat auf Grundlage der Summe seines Wissens eine Entscheidung getroffen, von der er so sehr überzeugt war, dass er ihr mit vollem Bewusstsein sein Leben anvertraute. Dass seine Entscheidung falsch war, ist tragisch … Jeder Ausbilder, Dienstvorgesetzte und Zeitgenosse, der je mit ihm sprach, hatte die Gelegenheit, Einfluss auf sein Urteilsvermögen zu nehmen, daher stirbt mit jedem Piloten, den wir verlieren, auch ein kleiner Teil von uns.

Die Entscheidungen, die wir treffen, bestimmen unser Verhältnis zu unserer Umwelt. Nur indem wir ein Problem zunächst evaluieren, können wir das erforderliche Verständnis erlangen, um verlässlich die richtige Entscheidung zu treffen. In einem Kampfjet führen wir zur Evaluation einen sogenannten Cross-check durch. All unsere Sinne wirken an dem Modell mit. Was zeigen die Instrumente an? Was geschieht außerhalb des Flugzeugs? Welche Art von Vibrationen spüren wir? Wie verändern sich die g -Kräfte? Was für Funksprüche und welche Alarmsignale hören wir? Riecht es nach Rauch oder etwas anderem? In all diesen Daten liegen die Informationen verborgen, die wir zur Lösung des aktuellen Problems benötigen.

Statt uns im Multitasking zu versuchen – worin der Mensch bekanntermaßen schlecht ist –, nehmen wir uns zwischen einem Bruchteil einer Sekunde und mehreren Sekunden Zeit, um jede einzelne Information zu verstehen, bevor wir uns der nächsten zuwenden. Der entscheidende Punkt ist, sich nicht allein auf eine Datenquelle zu konzentrieren, zulasten aller anderen. In diesem Fall sprechen wir davon, dass »jemand Scheuklappen aufgesetzt hat«. Wenn das passiert, verliert ein Pilot in kürzester Zeit das große Ganze aus dem Blick, sodass er nicht mehr erkennt, inwieweit sein Handeln dem umfassenderen System angemessen ist, innerhalb dessen er operiert.

Eine unübersichtliche Lage zu verstehen versuchen, indem man Informationen vereinfacht und ordnet, ist eine Fähigkeit, die nicht nur beim Fliegen wichtig ist. Vielmehr trägt sie entscheidend dazu bei, dass wir fähig werden, uns in einer zunehmend komplizierter werdenden Welt zurechtzufinden. Wir werden heute mit tausendmal mehr Informationen überflutet als vorangegangene Generationen. Daher benötigen wir eine Methode, mit der wir alles Unwichtige ausscheiden können, um die wesentlichen Bestandteile eines Systems zu verstehen. Nur dann werden wir das im Verhältnis zu unserer Zeit und unseren Ressourcen bestmögliche Resultat erzielen. Das erfordert Urteilsvermögen, und Urteilsvermögen wiederum erfordert nichtlineares Denken.