13

W ährend Chet sich mit unserer Route befasste, gingen M-Bot und ich kurz auf Erkundung. Dieses neue Fragment war für meine Verhältnisse das bisher normalste: kein komisches Gras, keine riesigen Bäume. Nicht einmal Erde. Bloß guter, fester Fels. Das Gestein war dunkler als auf Detritus und rissig, als käme es direkt aus einem Glutofen, aber das Knirschen unter meinen Stiefeln erinnerte mich an zu Hause.

Wir fanden eine kleine Holzhütte, doch irgendjemand hatte sie schon ausgeräumt. Während ich mich noch drinnen umsah, rief mich M-Bot wieder nach draußen. Drei Raumjäger flogen in der Ferne vorüber.

»Vermutlich wollen sie sich das zerstörte Fragment ansehen«, riet M-Bot.

Gut möglich. Wir hielten uns versteckt, und ich sorgte mich um Chet. Bedauerlicherweise hatte ich auf unserer chaotischen Flucht von dem zerberstenden Fragment auch Schädelbrecher verloren. Der Verlust traf mich überraschend schwer. Die Keule war zwar kein Meisterstück gewesen, aber sie hatte mir viel bedeutet, weil Chet mir dabei geholfen hatte.

Beim Anblick der vorüberrasenden Jäger, die sich von unserem Fragment entfernten und ein paar rasche Manöver vollführten, bekam ich einen Eindruck ihrer Fähigkeiten; so wie einem die Aufwärmübungen einer Person verraten, wie sportlich sie ist. Diese Piloten verstanden ihr Handwerk, viel mehr aber auch nicht.

Wenn ich ein Schiff in die Finger bekam, würde ich es wahrscheinlich problemlos schaffen, sie abzuhängen. Wie aber sollten wir überhaupt durchs Piratengebiet kommen? Irgendwann mussten wir ja auch wieder landen und das nächste Portal auf dem Pfad der Ersten besuchen. Solange uns Piraten jagten, könnte sich das schwierig gestalten.

Sobald die Schiffe außer Sicht waren, eilte ich zurück zu Chet – und konnte ihn nicht finden. An der Vorderseite des Fragments war bloß ein großer Haufen Schutt, aufgetürmt von der Kollision.

Dann begann die Erde zu rutschen, Chet kam zum Vorschein und grub sich frei. Anscheinend hatte er sich bloß versteckt. Er klopfte sich die Kleider ab, spuckte etwas Dreck aus und grinste mich an. »Nicht meine heroischste Flucht, aber immer noch besser, als zum Putzdienst gezwungen zu werden.«

»Was macht der Plan?«, erkundigte ich mich.

»Ich fürchte, ich brauche noch etwas mehr Zeit.«

Ich schlenderte zwanzig Meter weiter und erklomm ein paar Felsen am Rand des Fragments, richtete mich auf und genoss die Aussicht. Mehrere weitere Fragmente schwebten in der Ferne. Von einem strömte Wasser herab ins Nichts.

Die Hände in die Hüften gestemmt, holte ich tief Luft und grinste. Dreck, es gefiel mir hier. Die Freude, die ich bereits am Vortag über unsere Reise empfunden hatte, nahm noch zu. Nun wusste ich auch aus erster Hand, wie wichtig diese Erfahrung für mich war.

Unbekanntes Terrain zu erkunden? Meine körperlichen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen? Rennen, klettern, springen, von Monstern gejagt werden? Es fühlte sich tatsächlich an wie in Großmutters Geschichten – wo ich wohl auch hingehörte. Alles hatte hier seine Richtigkeit. Es war wahrlich eine Wohltat, dass mein Leben nun davon abhing, ob es mir gelang, von einem auseinanderfallenden Fragment zu flüchten – und nicht, wie gut ich mich auf Starsight als jemand anderes ausgeben konnte.

Ich ließ mich auf dem Felsen nieder. Ja, meine Freunde steckten in Schwierigkeiten, und ich vermisste sie, ganz schrecklich sogar. Was gäbe ich nicht darum, diese Reise mit ihnen gemeinsam bestreiten zu können!

M-Bot kam herbeigeschwebt, und ich lächelte ihm zu. Immerhin ein Freund war mir geblieben. Ich legte den Arm um seinen Drohnenkörper und zeigte auf die anderen Fragmente hinaus. »Was siehst du da?«

»Materiebrocken.«

»Abenteuer!«, konterte ich. »Ich sehe Geheimnisse und unfassliche Schönheit. Schau nur, das Schimmern des Wasserfalls dort drüben. Ist das nicht herrlich?«

»Irgendwie schon«, gab er zu. »Wie … kleine Lichter, die immerzu an- und ausgehen.«

»Genau dafür sind Gefühle gut«, erklärte ich ihm. »Nicht nur – aber das ist ein wichtiger Teil davon. Verstehst du?«

»Nein. Ein bisschen vielleicht. Ich meine … Ich würde wohl auch nicht wissen, wie toll Pilze sind, wenn ich bei ihrem Fund nichts empfände, oder?«

Ich lächelte. »Ich bin froh, dass du bei mir bist, M-Bot. Ich weiß, dass du Bedenken hattest, mitzukommen. Danke, dass du mein Freund bist und mich begleitest.«

Er nickte mit einem Wackeln. »Spensa? Ich fühle mich immer noch … etwas traurig.«

»Wieso das denn?«

»Ich habe Jahre meiner Prozessorleistung darauf verwendet, mir Commander Spears vorzustellen. Jetzt haben wir ihn endlich gefunden … und er nennt mich ein Scheusal.«

»Das wird schon«, versicherte ich ihm. »Je mehr Zeit er mit dir verbringt, desto eher wird er einsehen, dass er sich in dir getäuscht hat. Und selbst wenn nicht, wen kümmert’s? Ich bin jetzt deine Pilotin – und ich finde dich toll.«

»Danke …«

»Was?«

»Ich habe bloß Danke gesagt. Ich glaube, an dieser Aussage gibt es nichts zu erklären.«

»Ja, aber du warst noch nicht fertig. Irgendwas beschäftigt dich noch.«

»Das merkst du? Wie?«

»Bloß ein Bauchgefühl.«

»Ich habe keinen Bauch«, sagte M-Bot. »Von daher bist du wohl die Expertin. Aber wenn es dich interessiert: Das Hauptproblem ist, dass ich noch immer wütend auf dich bin.«

»Weil ich dich auf Starsight zurückgelassen habe?«

»Genau.«

»Ich dachte, das hättest du mir verziehen.«

»Dachte ich auch. Aber ich denke immer noch darüber nach. Ist das … normal?«

»Für Menschen ja. Manchmal fällt es wirklich leicht, etwas zu vergessen, an das man sich eigentlich erinnern will – und noch leichter, sich an das zu erinnern, was man lieber vergessen sollte.«

»Dann gilt das für mich umso mehr«, sagte er. »Weil ich ja nichts vergessen kann, solange es nicht gelöscht oder auf Codeebene auskommentiert wird.«

Ich lehnte mich zurück, stützte mich auf die Hände und dachte nach. Dreck, er hatte eine Menge aufgegeben – nicht zuletzt seinen grandiosen Schiffskörper. Und jetzt auch noch mit all diesen Gefühlen klarkommen zu müssen …

»Was auf Starsight passiert ist, tut mir leid«, sagte ich. »Ehrlich. Es hat mir das Herz gebrochen, dich so im Stich zu lassen.«

»Aber du würdest dich wieder so entscheiden, oder?«

»Ja. So sehr es mich schmerzt, dass ich dir wehtat … wenn ich noch einmal in derselben Situation wäre, würde ich wieder den Menschen von Detritus helfen.«

»Logisch betrachtet verstehe ich das ja«, sagte er. »Aber ich fühle es nicht. Wie werde ich diese Gefühle wieder los? Ich will gar nicht wütend sein. Da ist es doch dumm, dass ich es bin. Das ergibt keinen Sinn.«

»Und ob es das tut! Du hast nicht viele Freunde – eigentlich nur mich und Rig. Als ich ging, hatten alle, die du kennst und die du magst, dich aufgegeben. Über so was kommt man nicht so einfach weg.«

»Wow«, sagte M-Bot. »Mit Gefühlen kennst du dich ja wirklich aus, Spensa. Besonders mit den dummen.«

»Das werte ich mal als Kompliment.«

»Was also mache ich jetzt?«

»Steh es durch«, riet ich ihm. »Bis es dir besser geht. Akzeptiere, dass deine Gefühle ihre Berechtigung haben, dass du aber trotzdem nicht jedem Impuls nachgeben musst.«

»Also soll ich schon wieder etwas fühlen, nur um die Gefühle dann zu ignorieren. Ihnen zuwiderhandeln. Wieso?«

Ich zuckte die Schultern. »So ist das Leben nun mal. Manchmal hilft es, darüber zu reden.«

»Hm. Ja, ich glaube, dass es mir wirklich schon ein wenig besser geht. Komisch, wie kommt das? Es hat sich doch nichts geändert.«

»Weil ich deine Freundin bin, M-Bot. Und für genau so was sind Freunde da. Damit man teilen kann.«

»Und liefern sie einander auch dem sicheren Tod aus?« Er schwebte etwas tiefer. »Tut mir leid, ist mir rausgerutscht. Ich werde mich bessern.«

»Ist schon gut.« Ich stand auf. »Wie gesagt, es ist in Ordnung, wenn man wütend ist. Du musst aber lernen, damit umzugehen. Wir sind Soldaten und haben Pflichten, die wichtiger sind als Einzelpersonen. Dass wir Freunde sind, heißt also nicht, dass ich dich nicht eines Tages wieder im Stich lassen muss.«

»Was bedeutet es dann, Freunde zu sein?«

»Es bedeutet, dass ich nach einer solchen Krisensituation alles in meiner Macht Stehende tun werde, um dich zu finden. Und du würdest dasselbe für mich tun, stimmt’s, Kumpel?«

»Ja.« Er schwebte höher. »Weil ich jetzt nämlich selbstständig fliegen kann. « Er drehte sich um und sah Richtung Chet. »Und vielleicht hast du auch mit ihm recht. Vielleicht ist es wirklich egal, was er denkt. Der Gedanke fühlt sich zwar falsch an … aber aussprechen kann ich ihn. Kommt mir vor wie eine andere Art des Lügens. Eine, bei der nicht alles falsch ist.«

»Wir machen schon noch einen Menschen aus dir.«

»Bitte nicht! Nach allem, was ich darüber gelesen habe, möchte ich wirklich keinen Geruchssinn haben.«

Ich lächelte und wollte nach Chet sehen – etwas aber ließ mich zögern. Das Fragment mit dem Wasserfall war uns näher gekommen. Wahrscheinlich würden wir zwar nicht zusammenstoßen – unser gegenwärtiges Fragment hatte wieder auf normales Tempo verlangsamt, ruhig und friedlich, als wäre es nicht gerade katastrophal mit einem anderen kollidiert.

Am Rand dieses anderen Fragments jedoch, nahe dem Wasserfall, stand etwas. Ich konnte auf die Entfernung nicht viel erkennen, aber es schien …

Glühende weiße Augen.

Ein Bewusstsein drängte gegen meines.

Was … hast … du …

DEM WIR ANGETAN ?

Ich trat ein paar Schritte zurück. Die Delver hatten mich gefunden. Laut Chet konnten wir uns hier im Gürtel zwar verstecken, aber … vermutlich hatte ich ihre Aufmerksamkeit auf mich gelenkt, als ich meine Kräfte eingesetzt hatte, um die Vision am Portal zu erhalten.

Entschlossen, mich nicht einschüchtern zu lassen, sandte ich ebenfalls meine cytonischen Sinne aus. Und war überrascht über ihre … Stärke? Ich war gewachsen, hier im Nirgendwo. Es gelang mir, das Bewusstsein dieses Delvers zu berühren, der mir da seine Wut entgegenschleuderte. Und ich nahm Dinge wahr, die er nicht preisgeben wollte. Man hatte tatsächlich gespürt, dass ich den Pfad der Ersten betreten hatte, und man hatte dieses Fragment geschickt, um das andere zu zerstören.

Dies hatte einen bemerkenswerten Aufwand erfordert und ließ sich nicht beliebig oft wiederholen. Tatsächlich war es eine Art Experiment gewesen; die Delver hatten beschlossen, dass es vonnöten war, in den Gürtel vorzudringen und mich aufzuhalten. Ähnlich verhielt es sich mit den Wesen mit den leuchtenden Augen. Einzelne Individuen, die einen Großteil ihrer Erinnerungen verloren hatten, konnten von den Delvern übernommen werden; aber keine Cytoniker.

Heilige … Ich fühlte mich meiner Sache schon viel sicherer, und das nach nur einer Station auf dem Pfad. Die Erfahrung hatte eine Tür in meinem Gehirn aufgestoßen und mir gezeigt, wie ich mit meinen Sinnen heimlich lauschen konnte, ohne dass man mich bemerkte. Der Delver hatte keine Ahnung, wie viel ich schon erfahren hatte. Doch blieb mir keine Zeit zum Jubeln, denn nun griff er mich geistig an. Ich spürte Kälte, Druck, als stieße man mich in einen eiskalten See. Die Kälte durchdrang meine Haut und kroch auf mein Herz zu.

Und die Stimmen …

Was hast du getan … Was hast du dem Wir angetan …?

Dies bezog sich abermals auf den Delver, den ich verändert hatte. Die anderen rasten, tobten vor Wut, weil ich diesen Delver berührt, mit ihm gesprochen und ihn überzeugt hatte, Starsight nicht anzugreifen. Dadurch hatte ich ihn für immer korrumpiert. Einen der ihren praktisch ausgelöscht.

Mir wurde schlecht. Die Verbindung zu dem freundlichen Delver war eine wunderbare Erfahrung gewesen; ich war mir sicher gewesen, dass sie alles zum Besseren wenden würde. Wenn die anderen Delver sich jedoch weigerten, mir zuzuhören … Langsam trieb das Fragment mit dem Wasserfall von dannen. Ich zitterte.

Da trat Chet zu mir und riss mich aus meinen Gedanken. »Du hast es ebenfalls gespürt, nehme ich an?«

»Die Delver haben von jemandem dort drüben Besitz ergriffen.«

Chet nickte. »Was wir auf dem Pfad getan haben, hat ihre Aufmerksamkeit erregt. Ich finde es erstaunlich, dass sie sich sogar dem Risiko der Individualität aussetzen, um den Gürtel zu betreten, aber anscheinend verhält es sich so. Wir werden auf unserem weiteren Weg Vorsicht walten lassen müssen.«

»Volle Zustimmung.« Ich holte tief Luft. »Kennen wir denn inzwischen unsere Route?«

»In der Tat, Spensa Nightshade.« Er zwinkerte mir zu. »Sag, was hältst du eigentlich von der Seefahrt?«