18

M it »Leine« war, wie sich herausstellte, ein Lichtseil gemeint.

Ich hatte noch nie erlebt, dass man ein Lichtseil so benutzte. Ein Ende hatte ich als Schlinge um den Hals, das andere war an der Wand befestigt. Der Kontrollmechanismus war blockiert, sodass ich das Seil nicht lösen konnte. Und eher biss ich mich durch Eisenketten, als ein Lichtseil zu durchtrennen.

Ungeachtet ihrer Witze übers Bodenputzen holten die Piraten mir eine Kiste mit Ersatzteilen und mehrere Dosen Schmiermittel und befahlen mir, jedes Teil einzuschmieren und auf ein Tuch zu legen.

Eigentlich tat das sogar gut – sie hätten mich auch meinem Selbstmitleid überlassen können, und wer weiß, wie lange ich mich dem ergeben hätte. Doch wie sie mich herumkommandierten und noch verspotteten, weil ich mich schnappen ließ … das machte mich wütend. Und Wut verspeist Defätismus zum Frühstück.

So befolgte ich ihre Befehle, aber sobald ich mich wieder halbwegs gesammelt hatte, sandte ich meine cytonischen Sinne aus und forschte nach Chet. Ich fand seinen Geist nicht weit entfernt; vielleicht war er auf das blaue Dschungelfragment zurückgekehrt, um sich zu verstecken.

Chet?, rief ich ihn.

Aha, antwortete er mit schmerzverzerrter »Stimme«. Spensa Nightshade! Freut mich, dass es dir gut geht. Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet!

Du bist ja verletzt!, sagte ich,

Bloß eine … kleine Wunde. Ein Destruktorschuss hat mich gestreift. Nichts, was ein alter Hund wie ich nicht schon ein Dutzend Mal erlebt hätte! Ha …

Reine Angeberei. Ich spürte, dass er starke Schmerzen litt. Und das war meine Schuld.

Sei vorsichtig, warnte er. Uns so zu unterhalten könnte die Aufmerksamkeit der Delver erregen.

Das ließ mich kurz zögern. Er hatte recht – und doch hatte ich den Eindruck, dass seit meinem Erlebnis auf dem Pfad der Ersten etwas anders war. Ich verstand meine Kräfte nun besser und konnte sie auch besser verbergen.

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Begriff, dass ich beim Kontakt mit anderen, so wie jetzt mit Chet, meist das cytonische Äquivalent eines lauten Rufs ausgestoßen hatte. Nun gab ich mir Mühe, meine Stimme zu senken, und streifte Chets Verstand bloß noch mit einem Flüstern.

Besser so?

Spensa! Das ist ja bemerkenswert. Wann hast du gelernt, so leise zu sein?

Eben erst, entgegnete ich. Andererseits hatte ich immer schon das Talent besessen, die Sterne zu hören – und vorige Nacht hatte ich auch solche Gedanken aufgeschnappt, die Brade nicht hatte teilen wollen. Ich glaube, du musst deine Gedanken auch nicht so stark projizieren. Denke einfach ganz normal – solange wir verbunden sind, kann ich sie hören.

So?, dachte er, wie ich ihn gebeten hatte.

Das reicht völlig, bestätigte ich.

Hervorragend! Wie also ist die Lage?

Ich bin gefangen. Man hat mich an die Wand gefesselt und lässt mich Ersatzteile für Raumschiffe ölen.

Könnte schlimmer sein, urteilte er. Wie ist der Plan?

So weit bin ich ehrlich gesagt noch nicht.

Kein Problem! Dieser kleine Rückschlag muss uns nicht aufhalten. Tatsächlich könnte er sich sogar als nützlich erweisen. Unsere nächste Station auf dem Pfad der Ersten befindet sich tief im Broadsider-Gebiet. Wenn wir eins ihrer Schiffe stehlen, werden sie uns jagen. Und unter Beschuss fällt es schwer, sich einer lehrreichen Vision zu widmen. Mit dir in ihrer Basis aber ließe sich das womöglich verhindern. Vielleicht könntest du ja herausfinden, wie die Broadsider ihr Territorium patrouillieren?

Sein Tatendrang wirkte etwas gezwungen; das merkte ich dank unserer mentalen Verbindung sehr deutlich. Er war keinesfalls der unerschöpfliche Quell des Optimismus, der er vorgab zu sein, sondern wählte seine Worte mit voller Absicht.

Du hast Schmerzen, sagte ich. Ich mache mir Sorgen um dich.

Das ist nicht nötig. Konzentriere dich einfach darauf, uns ein Schiff zu besorgen. Ha! Diese Piraten haben ja keine Ahnung, wen sie da in ihre Mitte geholt haben!

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Und er hatte auch nicht völlig unrecht. Ich konnte diese Situation zu unserem Vorteil wenden – von Piraten gefangen genommen zu werden, war in den Geschichten ja nichts weiter als eine typische abenteuerliche Wendung, eine interessante Herausforderung mehr. Dazu bekam ich die Gelegenheit, meine cytonischen Kräfte zu trainieren.

Nur dass sich nicht beschönigen ließ, dass erst mein Fehlverhalten uns in diese Lage gebracht hatte. Ich musste ehrlich zu ihm sein.

Chet – es tut mir sehr leid. Ich hab es vermasselt.

Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, Spensa. Manchmal geht ein Plan einfach nach hinten los.

Bloß dass es wirklich meine Schuld war, sagte ich. Ich habe den Plan in letzter Sekunde geändert und bin in einen anderen Hangar als den verabredeten geschlichen.

Wieso hast du das getan?, erkundigte er sich.

Weil … ich dir nicht vertraut habe, Chet. Ich dachte, du würdest mich hintergehen und mir meinen Marker stehlen.

Kaum dass ich es sagte, spürte ich den Schmerz, den er darüber empfand.

Das hast du geglaubt?

Es tut mir so leid. Ich … habe mich wohl von meinen Ängsten treiben lassen.

Dreck, zu fühlen, wie es ihm dabei ging, machte alles noch schlimmer. Wieso?, fragte er. Habe ich nicht mein Bestes gegeben, dich auf deiner Suchfahrt zu unterstützen? War ich kein würdiger Reisegefährte?

Doch! Aber … Es tut mir leid, Chet. Es liegt an mir, nicht an dir.

Ich verstehe, gab er zurück. Hm. Nun, wir müssen nach vorne schauen! Lassen wir die Vergangenheit ruhen. Also dann …

Nie hatten Worte gezwungener geklungen. Ich spürte sein Leid; es war ihm sehr wichtig, dass man ihm traute, weshalb auch immer. Ich konnte nur spüren, was an die Oberfläche drang, nicht seine tieferen Gedanken.

Nun, ich werde erst mal wieder zu Kräften kommen, sagte er. Und du machst weiter! Genau so machen wir’s …

Abermals wollte ich mich entschuldigen. Wollte ihm erklären, wie mich Brades Verrat getroffen hatte – und was für eine schlechte Menschenkenntnis ich doch hatte. Er aber wollte seine Ruhe, das fühlte ich. Und das musste ich respektieren.

Mit einem Knoten im Hals beendete ich den Kontakt. Dreck, ich kam mir so nutzlos vor. Also widmete ich mich mit neuem Eifer dem Ölen von Ersatzteilen und beobachtete dabei die Piraten. Sie auszuspionieren lenkte mich vielleicht von meinen Schuldgefühlen ab.

Die nächsten Stunden erhielt ich einen Einblick in den Aufwand, der erforderlich war, ohne richtige Infrastruktur eine Staffel Raumjäger zu unterhalten. Den Gesprächen nach zu urteilen verbrachten die Piraten enorm viel Zeit mit Wartungsarbeiten – und der Frage, wie sich Ersatzteile aus Beutegut gewinnen ließen.

Ich hatte ja schon die Verhältnisse auf Detritus für schwierig gehalten, aber immerhin hatten wir die Schmieden und Fabriken gehabt. Zehntausende Menschen und die gesamte Gesellschaft waren darauf ausgerichtet, ein paar Hundert Jäger kampfbereit zu halten. Die Broadsider hatten nichts von alledem. Soweit ich das abschätzen konnte, waren sie weniger als zwanzig und besaßen neun Jäger.

Etwa nach der Hälfte meines Stapels hatte ich wieder etwas Selbstbewusstsein und konnte mich auf unser akutes Problem konzentrieren. Ja, ich hatte einen Fehler gemacht. Ja, ich hatte Chet verletzt. Ich durfte mich aber auch nicht hängen lassen. Am besten machte ich es wett, indem ich uns ein Schiff stahl und zur nächsten Station des Pfads der Ersten brachte.

Also erster Schritt: so viel herausfinden wie möglich. Dies war eine Gelegenheit, nicht bloß ein Rückschlag. Ich widmete mich dem Rest meines Stapels und hatte auch diesen bald abgearbeitet. Mit vernehmlichem Laut warf ich das letzte Teil – ein großes Zahnrad – auf das Tuch.

»Hey!«, rief ich den Piraten zu. »Ich bin fertig!«

Der Mensch mit dem zerzausten Bart kam zu mir rüber, begleitet von dem Varvax. Letzteren behielt ich genau im Blick – seinesgleichen hatte meine Welt versklavt. Den Varvax war nicht zu trauen.

»Ich könnte neue Arbeit gebrauchen. Was soll ich als Nächstes tun?«

»Du willst mehr Arbeit?«, staunte der Mensch.

»Besser, als wehleidig hier rumzusitzen.«

Der Mensch wechselte Blicke mit dem Varvax und zog ein Fahrwerk heran, mit Reifen und allem. »Weißt du, wie man das auseinandernimmt und schmiert?«

Ich nickte und wühlte in der Werkzeugkiste, die man mir zur Verfügung gestellt hatte. Ich war keine Expertin, was die Technik anging – damit hatte Rig sich immer besser ausgekannt. Aber damals bei der Reparatur von M-Bots ursprünglichem Schiff hatte Rig mir viel beigebracht. Ich war in der Lage, ein Fahrwerk zu warten.

Der Varvax ging zurück an die Arbeit, doch ehe der Mensch sich ebenfalls abwenden konnte, sprach ich ihn an. »Und, wie ist deine Geschichte?«

Er zögerte kurz, dann setzte er sich und sah zu, wie ich etwas ungeschickt den Mechanismus auseinandernahm. Ob ich sehr in seiner Achtung sank, weil ich dreimal den falschen Steckschlüssel benutzte?

»So interessant ist die nicht«, sagte er schließlich. »Und dasselbe könnte ich auch dich fragen: Woher weißt du, wie so was geht? Ließ dein Herr dich wirklich mit der Technik spielen?«

»Mein Herr?«

»Du bist doch eine Diebin, oder? Aber vor deiner Flucht musst du ein Schoßmensch gewesen sein. So wie ich in jemandes Besitz? Oder … oh nein, warst du etwa in einem dieser Versuchslabore?«

Ah … alles klar. Er musste jemand wie Brade gewesen sein – in der Superiority wurden Menschen als Attraktion gehandelt. So wie die Könige der Alten Erde sich ihre Löwen hielten: furchterregende Wesen aus einer anderen Welt, zu Ausstellungsstücken gemacht. Ich konnte mir denken, wie entzückt die »zivilisierten« Bürger beim Anblick der gefährlichen Menschenwesen waren, die einst versucht hatten, die Galaxis zu erobern.

»Es überrascht mich, dass sie dich verstoßen haben«, sagte ich. »Du musst doch recht wertvoll gewesen sein, so selten, wie wir sind?«

»Tja, weißt du, der Spaß war wohl vorbei, als das Haustier versuchte, das Familienschiff zu klauen und damit abzuhauen. Zu aggressiv, hieß es dann. Als hätten sie das nicht gewusst, als sie mich kauften!« Er hielt mir die Hand hin. »Ich bin Maksim.«

»Spin«, sagte ich und nahm seine Hand.

»Mach dir nicht zu viele Sorgen deswegen.« Er zeigte auf das Lichtseil, das mich gefangen hielt. »Die Broadsider sind eine gute Gruppe. Zeig Captain Peg, dass du nicht bei erstbester Gelegenheit verduftest, und du kannst dich hocharbeiten wie der Rest von uns. Verdammt, wenn du wirklich so gut mit Technik bist, wie’s aussieht, dann dauert es nicht lang, bis du deine eigene Bodencrew kriegst.«

Ich betrachtete meine eher mittelmäßige Arbeit. Das, was ich mit diesem Fahrwerk tat, ging hier schon als ›gut mit Technik‹ durch?«

»Was, wenn ich aber trotzdem verduften will?«

Er musterte mich. »Du bis neu im Nirgendwo, was? Der andere Typ, dein Freund, der wirkte, als wüsste er, was er tut. Du aber nicht unbedingt, oder?«

»Ich bin erst seit …« Ich versuchte, mich zu erinnern. »Seit …« Dreck, wieso fiel mir das so schwer? »Vielleicht einer Woche hier? Glaube ich?«

»Zerbrich dir nicht den Kopf«, sagte Maksim. »Selbst in der Gruppe fällt es schwer, sein Zeitgefühl zu bewahren. Es verblüfft mich, dass du dich so gut da draußen geschlagen hast.« Er klopfte mir auf die Schulter und stand auf. »Du wirst schon nicht verduften. Hier geht’s dir besser. Fühlst dich mehr wie du selbst. Wirst schon sehen.«

Der Gedanke, dass ich über einen Wirklichkeitsmarker verfügen könnte, schien ihm gar nicht zu kommen, trotz der Asche, die man bei mir gefunden hatte. Marker mussten wirklich extrem selten sein.

Allmählich legte ich mir einen Schlachtplan zurecht. Ich konnte hier ein paar Tage arbeiten, um das Vertrauen der Piraten zu gewinnen. Konnte wie von Chet vorgeschlagen herausfinden, wie sie ihr Gebiet patrouillierten, mir den Zustand der Schiffe genauer ansehen und mir das beste aussuchen.

Dann, sobald der passende Zeitpunkt gekommen war, schnappte ich mir M-Bot und das Schiff, grub meine Nadel wieder aus und verschwand. Wenn das alles funktionierte, vergab mir Chet vielleicht auch mein idiotisches Benehmen.

»Wo hast du so gut reparieren gelernt?«, staunte Maksim. »Und wieso hat man dich verbannt, obwohl du so talentiert bist?«

»Ich bin längst nicht so talentiert, wie du meinst.«

Er lächelte. »Ich weiß, es fällt schwer, sich zu öffnen. Aber wenn du uns von deinem alten Leben erzählst, können wir dich auch daran erinnern – falls du es vergisst, meine ich.«

»Dreck, so was passiert?« Ich führte bloß Small Talk. Mein Gehirn war damit beschäftigt, meine Flucht zu planen.

»Es ist nicht so schlimm, wie es klingt. Besonders wenn man Freunde hat, die einem helfen.«

»Also, ich wurde eigentlich gar nicht verbannt.« Ich widmete mich wieder dem Fahrwerk. »Ich bin selbst reingesprungen. Aber okay, ich war da gerade auf der Flucht vor einem Haufen Soldaten.«

»Ha! Sie sollten wirklich mal begreifen, dass wir keine Haustiere sind.«

Fast hätte ich ihm erzählt, dass ich das auch nie gewesen war, sondern von einer planetaren Enklave stammte. Er war so freundlich, dass ich ihm vertrauen und meine Rolle im Krieg mit der Superiority erklären wollte.

Allerdings wäre das reichlich dumm, wenn ich noch ein Schiff stehlen wollte. Zum Glück lernte ich allmählich dazu. Man sollte die Leute, die einen festhielten, lieber nicht in die eigenen Pläne einweihen. Andererseits – was, wenn der Fehler darin bestand, Maksim nicht zu vertrauen? Ich war schon bei Chet zu misstrauisch gewesen. Bei Brade dagegen hatten die Probleme damit angefangen, dass ich nicht misstrauisch genug gewesen war.

Mist, meine Menschenkenntnis war wirklich miserabel.

Besser jedenfalls, ich erzählte nichts von meinen Fähigkeiten. Maksim stand auf und ging zurück zu seinem Varvaxfreund. Hin und wieder deutete er auf mich. Dass ich mit der Arbeit so schnell vorankam, machte die Piraten offenbar misstrauisch. Vielleicht hätte ich mich doch ein wenig dümmer stellen sollen.

Wie auch immer, ich musste M-Bot kontaktieren. Also begann ich, bei der Arbeit vor mich hin zu murmeln. Wenn die anderen den Eindruck gewannen, dass ich unablässig plapperte, selbst wenn ich allein war, würde es nicht so auffallen, wenn ich mich irgendwann mit M-Bot unterhielt.

Etwas langsamer als bislang nahm ich das Fahrwerk auseinander und ölte die Einzelteile. So ging es ein paar Stunden. Dann fühlte ich, wie ein anderes Bewusstsein mich zögerlich berührte.

Chet?, fragte ich.

Niemand anderes. Ich möchte gern mit dir reden – aber vielleicht lieber auf die leisere Art, wie zuvor …

Erledigt, sagte ich. Aber Chet, ich …

Bitte, unterbrach er. Darf ich zuerst?

Nur zu. Ich verkniff mir eine weitere Entschuldigung.

Ich habe lange über unsere Unterhaltung nachgedacht, und ich möchte dir etwas eingestehen. Dein Misstrauen ist nicht gänzlich unbegründet. Ich war … unaufrichtig, Spensa Nightshade.

In welcher Hinsicht?, fragte ich.

Ich bin nicht alles, was ich zu sein scheine, sagte er. Es fällt schwer, das zu erklären. Ich habe dir ja schon erzählt, dass ich mich nicht daran erinnern kann, Commander Spears zu sein – doch in Wahrheit ist es noch schlimmer: Ich … bin schon so lange hier, dass ich Großteile meiner Identität verloren habe. Nicht bloß Erinnerungen, sondern auch Persönlichkeit. Alles, was ich gewesen bin … bröckelt dahin wie Erde am Flussrand.

Das machte mir Angst. Es ist entsetzlich, sich selbst zu verlieren, und ich musste diesen Verlust mit etwas ersetzen. Ich erinnerte mich noch an Geschichten. Alle erfunden vermutlich, aber voller Männer, die ich bewunderte: Allan Quatermain, Lord John Roxton, Chet Cannister. Im selben Zuge, in dem ich mich verlor … schloss ich die Lücken. Und die Grenzen zwischen dem heldenhaften Abenteurer und mir selbst verschwanden.

Und deshalb tust du gut daran, mir zu misstrauen. Du hast mich für einen Lügner gehalten, und in gewisser Weise bin ich das auch – weil ich dir nicht mein wahres Ich zeigen konnte. Ich habe es vergessen.

Chet, sagte ich. Das macht dich nicht zu einem Lügner.

Vielleicht nicht, erwiderte er. Aber die Wahrheit … ist schwer erträglich. Ich bin kein richtiger Mensch, Spensa Nightshade. Ich bin eine Geschichtensammlung, ohne jeden Kontext in ein Gehirn gestopft. Und es kostet sehr viel Kraft, einfach nur weiterzumachen.

Du bist ein Held, sagte ich.

Wenn das so wäre, hätte ich mich schon lange den Lehren des Pfads gestellt. Aber ich fürchte mich davor, Spensa. Ich fürchte mich. Den Grund dafür kann ich nicht erklären, weil ich mich nicht daran erinnere. Ich glaube, ein Teil meiner selbst verbirgt sich dort, ein Teil, der mir Angst macht. Wäre ich ein echter Held, hätte ich diesen Weg längst beschritten.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich spürte seine Aufrichtigkeit, seine Angst, seine Verwirrung.

Die Gründe sind doch ganz egal, sagte ich entschieden. Du hast mich gerettet, mich geführt, mir geholfen. Und nun beschreiten wir den Pfad gemeinsam.

Alles zu einem Preis, erwiderte er. Du … hast ja bemerkt, wie ich deinen Marker ansehe. Mir ist nun klar, weshalb du mich … so behandelt hast.

Ich verspürte heiße Scham, gespiegelt von seiner eigenen.

Wir sind schon ein Team, was?, scherzte er. Ich hoffe, dass die Nähe eines Markers mich ein wenig … festigt. Dass Wirklichkeitsasche und die Verbundenheit mit dem Irgendwo mir helfen. Ich kann es dir nicht verübeln, dass du meine Beweggründe infrage stellst.

Aber mein Misstrauen hat dich verletzt, stellte ich fest. Tut es noch.

Ja, gab er zu. Das ist Teil der Persona, verstehst du? Ich … ich muss mich einfach als Helden sehen, der galante Abenteurer, dem alle zugetan sind. Denn wenn mir das nicht bleibt … tja, dann … dann bleibt mir gar nichts mehr. Mehr als diese Träume, dieses Streben, bin ich nicht.

Es war ein Moment erschreckender Offenheit. Er war völlig schutzlos und hatte große Angst. Dreck. Ein solches Geständnis hatte ich nicht verdient – doch wusste ich nun, dass ich ihm trauen konnte. Das Gesicht, hinter dem er sich versteckte, mochte ein Flickenteppich verschiedenster Erinnerungen und Geschichten sein, aber sein Herz … das saß am rechten Fleck.

Ich versuchte, ihm das geistig zu vermitteln, und es gelang mir. Mein Vertrauen baute ihn auf, und ohne Worte nahm er meine Entschuldigung an. Wir würden gemeinsam weiterreisen und die Geheimnisse des Pfads der Ersten ergründen.

Dann brach ich die Verbindung ab und widmete mich mit Elan dem Fahrwerk. Eigentlich hätte ich müde und durstig sein sollen, doch dem war nicht so. Tatsächlich hatte ich keinen Schimmer, wie lange ich schon arbeitete, da mir Anhaltspunkte wie Erschöpfung und Hungergefühl fehlten. Es fühlte sich an, als könnte ich ewig weitermachen.

Das war gefährlich. Ich musste gut auf mich aufpassen.