25

U ns blieb auch später noch genug Zeit, über das Erlebte nachzudenken. Zunächst musste ich Peg finden. Ich rannte hinaus in die Ruinen und fand sie an eine verfallene Mauer gelehnt, die Klauen lässig vor der Brust. Selbst wenn sie entspannt waren, wirkten Tenasi gefährlich.

»Ihr habt was gesehen«, stellte sie fest. »Ihr seid Cytoniker, richtig? Alle beide.«

»Ich … ja.« Ich wechselte einen Blick mit Chet.

»Ist den Broadsidern vielleicht der Pfad der Ersten ein Begriff?«, fragte er.

»Nein«, sagte Peg. »Aber diese alten Ruinen … haben ihre eigenen Erinnerungen. Das spürt jeder. Und von Cytonikern habe ich gehört.« Sie löste sich von der Wand und richtete sich auf. »Das ist also Teil eurer Mission? Die so wichtig war, dass ihr uns ein Schiff stehlen wolltet?«

»Ja«, gab ich zu. »Und sie ist noch nicht beendet. Erzähl mir von deinem Plan, Surehold anzugreifen.«

Sie verengte die Augen zu Schlitzen.

»Bitte, Peg. Ich muss das wissen. Wenn die Piraten Angst vor der Superiority haben – wenn sie lieber nicht ihr gemütliches Leben riskieren möchten –, wie wollen wir sie da überzeugen?«

»Wir?«, fragte Peg. »Ihr seid also dabei?«

Ich schaute zu Chet, der nickte.

»Fürs Erste, ja«, sagte ich.

Peg grinste. »Worte! Nun, wir müssen die Piraten gar nicht überzeugen – zumindest nicht jeden. Wir müssen bloß meine Söhne so weit kriegen, dass sie wieder auf mich hören.«

»Deine Söhne?«, fragte Chet. »Sie haben sich gegen dich gestellt!«

»Ja«, sagte Peg. »Sie führen die beiden größten Piratenfraktionen. Ich gebe zu, ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie beide genug Muluns haben, um zu rebellieren. Nachdem wir Surehold den Rücken gekehrt hatten, überredete ich die anderen Piraten zu einem Angriff. Es kam nur zu einem kurzen Scharmützel, aber vielen von uns reichte das. Sie hatten Angst und keine Perspektive. Meine Koalition brach auseinander, und meine Söhne nahmen mir ein paar meiner stärksten Kämpfer und zogen ihre eigenen Fraktionen hoch. Erfüllt eine Mutter mit Stolz.«

»Stolz? Dass sie rebelliert haben?«

»Aber ja!«, rief sie. »Sie waren unglaublich mutig. Ihre eigene Mutter zu entmachten? Dabei waren sie noch nicht mal erwachsen! Ach, es war toll. Dennoch bringt es uns in eine ungünstige Lage, deshalb müssen wir sie jetzt zurückgewinnen. Mein Ältester, Gremm, ist jetzt seit einem Jahr der Champion. Er führt die Jolly Rogers an – das ist ein Begriff von der Erde, oder?«

»Ich glaube, ja«, bestätigte Chet.

»Nun, wahrscheinlich werdet ihr seine Leute bald kennenlernen. Sobald Gremm von deinen Flugkünsten erfährt, Spin, wird er ein Team schicken, um uns anzugreifen. Ihnen werden Delens wachsen vor lauter Neugier – und ich vertraue darauf, dass du ihre Neugier befriedigst.«

»Ich freue mich schon darauf«, sagte ich.

»Ich gehe nicht davon aus, dass Gremm persönlich kommt. Aber hinterher kann ich einen Wettkampf zwischen euch verlangen – und die Herausforderung wird er annehmen. Ich kenne meinen Sohn. Und obwohl er der beste Pilot unter allen Piraten ist, hat er dir nichts entgegenzusetzen. Wenn du ihn besiegst, wird er sich wohl oder übel den Tagao wachsen lassen müssen.«

»Und das heißt?«

»Das heißt, dass er sich seiner Mutter unterwürfig zeigt. Eine sehr seltene Frucht! Aber wenn du ihn besiegst, wird er auf mich hören.«

»Bist du dir da auch ganz sicher?«

»Eindeutig«, sagte Peg. »So ist es unsere Art.«

Ich wies sie nicht darauf hin, dass sie schon vom Verrat ihrer Kinder überrascht worden war und ich deshalb meine Zweifel hatte. Ich war aber willens, es darauf ankommen zu lassen.

»Was ist mit seinem Bruder?«, fragte Chet.

»Semm führt eine andere Fraktion. Er wird sich ebenfalls auf unsere Seite schlagen, wenn wir die Meisterschaft für uns entscheiden. Vertrau mir.«

Ja, das klang eindeutig zu einfach. Peg hatte uns längst noch nicht alles erzählt.

Sie ließ noch kurz den Blick auf mir ruhen, dann machte sie sich auf den Weg durch die Ruinen zu den Schiffen. »Wir sollten zur Basis zurück. Es kann jederzeit zu einem Überfall kommen, und ich möchte die anderen nicht zu lang allein lassen.«

»Und nun?«, fragte ich Chet, während sie voranging. »War dir klar, dass wir in Surehold eindringen müssen?«

»Ich habe es vermutet«, sagte er. »Das Portal dort ist eins der größten und ältesten. Ich hatte gehofft, dass es nicht nötig sein würde … wenigstens haben wir jetzt einen Plan, wie wir reinkommen.«

»Vorausgesetzt, er funktioniert auch.«

»Peg scheint sich ihrer Sache ja recht sicher zu sein. Los, wir sollten wirklich zurück zum Schiff – ehe es endet wie beim letzten Portal.«

Da hatte die Kollision das komplette Fragment zerstört. Vielleicht war es bloß ein Zufall gewesen, aber sicher war sicher. Wir sammelten Maksim ein, eilten zurück und hoben ab. Dann machten wir uns gemeinsam mit den Resonanten auf den Rückweg zur Basis.

»Ihr wirkt ungewöhnlich ernst«, stellte M-Bot fest, sobald wir in Formation flogen. »Hat es denn funktioniert? Habt ihr wieder die Vergangenheit gesehen?«

»In der Tat, KI , das haben wir«, sagte Chet. »Wir hatten gewissermaßen Kontakt mit einer Cytonikerin von damals.«

»Äh«, machte M-Bot. »Präzisierung bitte?«

»Irgendwie war sie zu ihrer Zeit in der Lage, meine Fragen zu spüren und mir die Antworten zu hinterlassen«, erklärte ich. »Vielleicht nahm sie auch nur die generelle Wissbegierde all derer, die ihr nachfolgten, wahr. Auf jeden Fall wissen wir jetzt, was mit den Cytonikern der Kitsen geschah – und weshalb der Kontakt zwischen Erde und Aliens nach den ersten Besuchen in grauer Vorzeit wieder abriss.«

»Wirklich? Was ist geschehen?«

»Krieg«, sagte ich. »Mit einem Delver.«

»Wir wissen nicht mit Sicherheit, dass es ein Delver war«, sagte Chet. »Zumindest aber eine Art … delverähnliches Wesen. Die Cytoniker der Galaxis – die miteinander in Kontakt standen – fanden sich zu einem Kampf zusammen. Und nur wenige … überlebten.«

»Sie haben gegen ein einziges Wesen gekämpft?«, fragte M-Bot.

»Und gewonnen, indem sie es irgendwie real werden ließen. Aber unter hohen Verlusten.«

»Und jetzt … haben wir es mit mehr als nur einem zu tun«, resümierte M-Bot. »Viel mehr als einem.«

»Genau.« Ich beugte mich in meinem Sitz vor. »Und noch etwas – damals führte der Aufenthalt im Nirgendwo noch nicht zu Gedächtnisverlust. Das ist eine jüngere Entwicklung.«

»Es hängt aber miteinander zusammen«, sagte Chet. »Und die Antworten finden sich in Surehold. Manche zumindest.«

»In den Erinnerungen eines Mannes namens Jason Write«, sagte ich grüblerisch.

»Jason Write?«, wiederholte M-Bot. »Die historischen Datenbanken der Superiority kennen ihn als den Menschen, der den ersten Kontakt zu den galaktischen Zivilisationen herstellte, nachdem er herausfand, dass er ein Cytoniker war. Er gab den Startschuss für die Ausbreitung der Menschheit, was letztendlich zum Ersten Menschenkrieg führte.«

Ich nickte, aber meine Gedanken weilten bei der Cytonikerin, die mit uns kommuniziert hatte. Dem Gefühl der Erschöpfung und Einsamkeit, das sie durchdrungen hatte. Ich spürte, dass etwas in mir aufgeflammt war. Der Funke war schon da gewesen … doch nun brannte er heller.

»Chet – fühlen deine Kräfte sich irgendwie anders an?«

»Allerdings! Ich erfuhr mehr über die Gabe, im Geiste die Umgebung wahrzunehmen. Mit genug Übung werde ich nicht mehr bloß ein Gespür für die Fragmente haben … Vielleicht kann ich bald schon in Gebäude oder um Ecken sehen! Es ist einfach unglaublich.«

»Ich habe etwas anderes gelernt«, sagte ich leise. »Ich weiß aber noch nicht, was es bedeutet.«

Du bist ein Stern.

»Hey«, meldete sich Maksim über Funk. »Seht ihr auch die Gestalt da unten? Auf neun Uhr.«

»Das ist ungewöhnlich«, sagte Shiver. »Ohne Deckung, ganz allein? Wären wir darauf aus, zu rekrutieren, wäre sie leichte Beute.«

Ich sah aus dem Fenster. Eine einsame Gestalt stand am Rand eines fernen Fragments. Ein Heklo vielleicht? Auf die Entfernung war es schwierig zu sagen. Doch obwohl ich keine Details ausmachen konnte, spürte ich einen kalten Druck auf meinem Verstand – und ich war mir sicher, dass die Gestalt weiß glühende Augen besaß.

»Spürst du das auch?«, fragte Chet.

»Ja. Es ist einer von ihnen! Wenigstens haben sie es dieses Mal nicht geschafft, das ganze Fragment zu zerstören.«

»Schlecht ist es trotzdem«, sagte Chet. »Ich hatte gehofft, dass wir sie die letzten Wochen abgehängt haben. Es fällt den Delvern schwer, ihre Aufmerksamkeit so weit nach draußen zu projizieren. Jetzt aber haben sie uns erneut gefunden. Hoffentlich führt das nicht zu mehr Problemen.«

Ich schauderte. Die Gestalt verschwand hinter uns in der Ferne. Mein Funkgerät aber blinkte – ein direkter Ruf von Peg.

»Ja, Captain?«

»Was hast du in diesen Ruinen gesehen?«, fragte sie.

»Wieso?«

»Etwas an dieser Gestalt gerade eben kam mir komisch vor. An dem ganzen Ausflug. Ich habe deine Fragen zu meinem Plan beantwortet – jetzt bist du an der Reihe. Was hast du gesehen?«

»Die Vergangenheit«, sagte ich. »Erinnerungen, wie du schon gesagt hast. Wir suchen nach einem Weg, die Delver zu bekämpfen – und hörten die Nachricht einer Frau, die vor langer Zeit etwas Ähnlichem begegnete.«

»Die Delver bekämpfen? «, vergewisserte sich Peg.

»Ja …«

»Wenn es ein Trost ist«, warf Chet ein, »es wäre uns lieber, wir könnten Frieden schließen. Zunächst aber müssen wir unsere Suche fortsetzen. Unser nächstes Ziel ist das Portal in Surehold mit den Erinnerungen darin.«

»Dann haben wir ein gemeinsames Ziel«, sagte Peg. »Und das soll mir nur recht sein. Aber … gegen die Delver kämpfen? Vielleicht ist das als Cytoniker ja möglich? Ich kannte in den Streitkräften eine Dione, die nicht lange bei uns blieb, weil sie immer wieder … die Gestalt veränderte und wie jemand anderes aussah. Sobald unsere Vorgesetzten zu Hause davon Wind bekamen, zogen sie sie ab.«

Die Gestalt verändern? So was hatte ich noch nie vollbracht.

»Das ist eine cytonische Gabe«, erklärte Chet. »Man projiziert Illusionen in den Verstand anderer Leute, damit man anders aussieht, sich sogar anders anfühlt. Das funktioniert hier im Nirgendwo wohl bei jedem, aber zu Hause klappt es angeblich nur bei anderen Cytonikern.«

Als ich darüber nachdachte … wurde mir kalt. Streng genommen hatte ich nämlich durchaus schon von so was gehört. Bei meinem Vater – auch ihn hatte man dazu gebracht, Dinge zu sehen, die nicht echt waren. Es zeigte sich immer deutlicher, dass verschiedene Cytoniker auch verschiedene Gaben besaßen. Ich hörte die Sterne und konnte teleportieren. Chet besaß eine verlängerte Lebensspanne und sah dank seiner Kräfte über weite Distanzen.

Peg beendete die Verbindung, und M-Bot ergriff das Wort. »Wieso haben sich die Delver kein Mitglied eures Teams geschnappt und in ein Monster mit leuchtenden Augen verwandelt? Peg und Maksim waren euch doch näher als dieser Heklo.«

»Größere Gruppen erschweren Delvern den Zugriff«, führte Chet aus. »Umso mehr, je stärker ihr Zusammenhalt ist. Meine Theorie ist, dass die Delver jemanden brauchen, der möglichst allein ist und niemanden hat, dem er sich zugehörig fühlt.«

Ich grübelte über das Gesehene nach und fand es immer schwerer zu verstehen. Tatsächlich war ich insgeheim erleichtert, als unsere Basis in Sicht kam und ein Notruf uns vor einer ganz alltäglichen Bedrohung warnte: Jäger einer anderen Fraktion näherten sich uns mit großer Geschwindigkeit.