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Tom Meyer stieß einen Laut des Erstaunens aus. »Das ist ja interessant. Das Obduktionsergebnis von Elke Schönherr liegt vor. Jetzt haltet euch fest.«
Er überflog die Zeilen, leise vor sich hin murmelnd, bevor er zusammenfasste: »Der Körper von Elke Schönherr war ein Wrack. Sie war viel zu dick, ihr Cholesterinwert zu hoch. Aber das war ja offensichtlich. An Leber, Nieren und Milz wurden toxisch bedingte Veränderungen festgestellt. Die rechte Herzkammer weist eine starke muskuläre Wandverdickung auf, elf Millimeter. In absehbarer Zeit hätte das Herz aufgehört zu schlagen. Sie muss ständig Schmerzmittel geschluckt haben. Obwohl erst dreiunddreißig Jahre alt, war ihr Körper der einer alten Frau. Der Arzt schreibt, dass das typische Folgen von jahrelangem Anabolikamissbrauch seien. Allem Anschein nach hat sie früher mal gedopt.« Tom schaute in die Runde. »Wisst ihr da etwas drüber?«
Camilla Grunewald antwortete: »Sie lebte bei ihrer Mutter hier in Leipzig. Sie scheinen kein gutes Verhältnis gehabt zu haben. Die Mutter erzählte bei der ersten Begegnung, dass Elke früher geschwommen ist und wohl recht gut war. Allerdings reichte es nicht für eine Karriere im Schwimmsport, also hat sie nach der Schule eine Lehre als Verkäuferin gemacht. Im Moment hatte sie jedoch keinen Job, wegen der Depressionen. Deswegen war sie auch in Behandlung. Von körperlichen Krankheiten oder Schmerzmitteln hat die Mutter nichts erzählt. Es gibt keinen Abschiedsbrief. Elke Schönherr hat sehr zurückgezogen gelebt und ihre Zeit hauptsächlich zu Hause vor dem Fernseher verbracht.«
»Steht in dem Bericht irgendetwas darin, dass ihr Tod kein Suizid war?« Zum ersten Mal meldete sich Hauptkommissar Lorenz Staufenberg zu Wort.
Tom schüttelte den Kopf. »Nein, Fremdverschulden wird ausgeschlossen. Unsere Ermittlungen haben ja auch nichts anderes ergeben. Der Mann auf dem Denkmal war der Letzte, der sie gesehen hat, und schwört, dass niemand anderes oben und er allein im Aufzug war. Als er unten angekommen ist, hat er sie auf dem Boden liegen gesehen. Sie ist gesprungen, eindeutig.«
»Was sagt der Mann außerdem? Wie heißt er noch mal?«
Camilla pustete sich die Ponyfransen aus der Stirn. »Karl Weidkamp. Der ist fix und fertig. Hätte nie gedacht, dass sie hinunterspringen würde. Er glaubte sogar, dass sie sich das Treppensteigen als Trainingsprogramm zum Abnehmen ausgedacht hatte. War ja nicht zu übersehen, dass sie zu viel auf den Rippen hatte. Das waren seine Worte«, fügte sie hinzu, als sie die bösen Blicke ihrer Kollegen sah. »Er kann sich nicht verzeihen, dass er so danebengelegen hat. Sie schwitzte, hatte aber einen so energischen Zug um den Mund. Er sagte, den kenne er von seiner Frau, wenn sie einen Entschluss gefasst hat. Wieder Originalton.« Camilla schaute ihrem Chef eindringlich ins Gesicht.
Gedankenverloren sortierte dieser Prospekte, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten. Seit Wochen ließ er sich Gartenkataloge ins Büro schicken und plante in jeder freien Minute, welche Pflanze er an welcher Stelle in seinem Schrebergarten setzen würde. Ende des Monats wurde er pensioniert, und dann hätte er endlich Zeit dafür. Er registrierte nicht, was er tat, sondern starrte an einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand. »Tja, diesen Anfangselan kennen wir alle, oder? Jemand sollte noch einmal mit der Mutter sprechen und ihr mitteilen, dass sie ihre Tochter beerdigen kann«, sagte er und blickte dann Camilla nachdenklich an. »Ihre Tochter ist in deinem Alter gewesen, oder?«
»Ja, dreiunddreißig, ein halbes Jahr jünger.«
»Am besten ist, ich fahre gleich hin. Sie wohnt in der Karl-Tauchnitz-Straße, oder?«
»Genau, in der Nähe vom Johannapark, im Bachviertel. Willst du allein hingehen?«
Staufenberg nickte. »Ja. Lass mich mal. Vielleicht der letzte solcher Besuche für mich. Hoffe ich zumindest. Ich mag nicht mehr. Zu viele Tote. Zu viele Schicksale für ein Leben«, sagte er mit belegter Stimme und berührte wieder die Prospekte. »Ich sehne mich danach, in meiner Laube zu sitzen, den Pflanzen beim Wachsen zuzuschauen und mich nur für sie verantwortlich zu fühlen. Ich werde keine Zeitungen lesen und keinen Fernseher haben. Vielleicht einmal in der Woche irgendwo Nachrichten sehen. Ich glaube, das reicht bis zu meinem Ende.«
Camilla sah betroffen aus. »Chef, sprich nicht so! Das macht mir Angst. Außerdem wirst du uns fehlen. Ich komm dich ganz oft in deiner Laube besuchen. Nasche Erdbeeren und Tomaten. Pflanzt du auch Stachelbeeren? Ich liebe Stachelbeeren. Dann wirst du mich garantiert nicht mehr los.«
Sie lächelte ihn an, und auch seine Mundwinkel wanderten nach oben.
»Schauen wir mal. Ich freu mich, wenn du mich tatsächlich besuchst.« Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, so schnell, wie es erschienen war. Staufenberg machte auf dem Absatz kehrt und ging in sein Büro, und der traurige Blick kehrte in seine Augen zurück. Er schloss die Tür und lehnte sich ein paar Sekunden mit hinter seinem Rücken verschränkten Händen dagegen. Es war ihm egal, dass Camilla und Tom nun über ihn redeten. Er wusste, dass sie sich Sorgen um ihn machten. So ein Quatsch, dachte er. Er hatte einfach keine Lust mehr. Weder auf Verbrecher noch auf die nervtötende Bürokratie oder auf die nachrückenden Kollegen, die den Begriff ›Menschlichkeit‹ für ein Relikt aus uralten Zeiten hielten. Die beiden waren jung genug, um die zukünftigen Veränderungen anzunehmen. Er war zu alt dafür. Wenn er nur an die vielen E-Mails dachte! Was waren das für gemütliche Zeiten gewesen, als er noch eine richtige Sekretärin gehabt hatte, die ihn mit Kaffee verwöhnte.
Er atmete ein paarmal tief durch und horchte in sich hinein. Sein Magen blieb ruhig. Ein Blick auf die Uhr – schon zehn, und er hatte noch keine Tablette gebraucht. Das autogene Training half tatsächlich. Damit hätte er früher beginnen sollen. Nicht erst jetzt, kurz vor Ende seiner Dienstzeit, wo sich seine Beschwerden nicht allein auf Sodbrennen beschränkten. Er hatte zu viel gesehen, mehr ertrug er nicht. Weder diejenigen, die sich selbst umgebracht hatten, noch die, die getötet wurden. Und schon gar nicht Mörder, die vor ihm hockten und Absolution oder Verständnis von ihm erhofften. Er war es leid, hatte es satt. Das war nicht mehr seine Welt.
Er setzte sich an den Schreibtisch. Sein Blick blieb auf dem Wandkalender hängen. Ein rotes Kreuz markierte den 21. April. Nur noch ein paar Tage. Diesen Arzttermin würde er wahrnehmen. Zweimal hatte er bereits abgesagt und dringende Ermittlungen als Entschuldigung vorgeschoben. Nur sich selbst gestand er ein, dass er Angst vor dem Ergebnis hatte. Er hoffte voller Inbrunst, dass seine Magenschmerzen psychischer Natur waren. Jeden anderen Gedanken verbot er sich.
Alles würde besser werden, wenn er nie wieder dem Tod begegnen müsste. An diesem Mantra hielt er fest. Selbst sein eigenes Ableben musste warten, mindestens bis er sich den Traum vom Schrebergarten erfüllt hatte. Er würde sich um Tomaten, Zucchini und Kräuter kümmern. Und natürlich um Stachelbeeren – für Camilla.