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Es gab nichts, was ich noch tun konnte. Es war vorbei. Die Erde rieselte nieder. Leise, gedämpft durch die bereits aufliegende Schicht auf dem Sarg. Ich hatte mich für das billigste Modell entschieden. Kiefer, ohne Schnitzereien. Es war mir unsinnig vorgekommen, viel Geld für einen Kasten aus Holz auszugeben, der in der Erde verschwand und verwitterte. Mutter hätte es nicht anders gewollt. Auch wenn Gerda anderer Meinung war.

Der Pfarrer sprach von Staub zu Staub, und jeder der Anwesenden warf mit einem kleinen Schäufelchen Erde in die Grube. Nur ich nicht, ich wollte Mutter nicht mit Dreck bewerfen. Das brachte mir von Gerda einen missbilligenden Blick ein, den ich ignorierte.

Das Fallen von Erde auf Erde war fast geräuschlos. Dagegen klangen das Rascheln der Mäntel und Klappern der Schirme der Anwesenden unnatürlich laut in meinen Ohren. Warum forderten die Nebensächlichkeiten so viel Aufmerksamkeit? Mutter sollte im Mittelpunkt stehen – wenigstens einmal in ihrem Leben. Es war ihre Beerdigung.

Ich stand abseits am Rand des Grabs und schüttelte Hände von fremden Menschen. Wie in Trance nickte ich, bedankte mich für die Beileidsbekundungen und wünschte, ich wäre irgendwo anders. Weit weg. In den Bergen, am Meer – egal wo.

Gerda war in meiner Nähe. Wie immer. Sie passte auf, dass ich mich nicht danebenbenahm. Sie hatte die schwarze Stoffhose, die schwarzen Schuhe und die dunkelgraue Jacke für mich besorgt. Mir bedeuteten solche Äußerlichkeiten nichts. Was hatte Mutter davon, dass ich schwarz gekleidet zu ihrer Beisetzung ging? Wer störte sich an Jeans und Turnschuhen? Die Toten, allen voran Mutter, sicherlich nicht. Und den anderen sollte es egal sein.

Ich dachte an eine Reportage aus Afrika, die ich vor Kurzem gesehen hatte. Ich liebte Dokumentationen, die über andere Länder berichteten. Da ich noch nie weiter als bis an den Bodensee gereist war, war das Schauen dieser Filme ein wenig wie Urlaub. Und Afrika faszinierte mich damals besonders. Sobald der Postbote freitags die Fernsehzeitung für die nächsten zwei Wochen brachte, durchsuchte und markierte ich alle Fernsehsendungen nach diesen Themen.

In der Reportage berichteten sie von Trauerfeiern und Beerdigungsritualen auf dem Schwarzen Kontinent. Auf Tränen und Wehklagen folgten Tanz und Singerei. Damals, als ich die Sendung sah, ahnte ich nichts von Mutters Zustand.

Während der Pfarrer mit ruhigen Sätzen sprach, stellte ich mir sein Gesicht vor, wenn ich jetzt tanzen und singen würde. Ich grinste. Das brachte mir erneut einen bösen Blick von Gerda ein.

Das ging natürlich nicht. Nicht in Neuss.

Die Trauergäste blieben wie Perlen an einer Schnur aufgereiht neben mir stehen und warteten, dass der Pastor alle entließ. Mein Blick blieb auf dem Boden haften und fokussierte die Spitzen meiner Schuhe. Sie waren schmutzig geworden, und ich widerstand dem Drang, meinen Jackenärmel zu benutzen, um sie zu säubern. Gerda drückte mich fest an ihre Brust, murmelte ein paar Worte, die ich nicht verstand. Ihr Geruch nahm mir den Atem. Mit zur Seite geneigtem Kopf hielt ich die Luft an. Diese penetrante Mischung aus Mottenpulver und Alt-Frauen-Parfüm verstärkte sich mit jeder ihrer Bewegungen. Und sie bewegte sich viel, unterstrich ihr Reden mit Händen und Füßen und heftigem Kopfnicken. Ruhig stehen oder sitzen war in ihrer DNS nicht vorgesehen. Erst als sie mich losließ, holte ich tief Luft und verstand ihre Aufforderung, zum Kaffeetrinken zu gehen.

»Es ist nicht weit, nur ein paar Meter. Kann man gut zu Fuß erreichen. Die Wirtin wollte den besten Streuselkuchen der Stadt besorgen.«

An einen Leichenschmaus hatte ich nicht gedacht. Was für ein absurder Gedanke. Dann hätte ich auch keine dunkle Kleidung gebraucht. Aber mir fehlte Erfahrung in diesen Dingen. Gut, dass es Gerda gab. Sie wusste immer, was zu tun war.

Auch wenn sie eigentlich nicht zur Familie gehörte, war sie für mich und Mutter im Laufe der Jahre fester Bestandteil unseres Lebens gewesen. Familienangehörige gab es nicht, und Mutter legte auf Freunde und Bekanntschaften keinen Wert. Sie machte alles mit sich aus. Auch ihre Krankheiten, von denen es viele gab. Immer schluckte sie irgendwelche Pillen, lag häufig im Bett, erschöpft von dem Job als Kassiererin im Supermarkt um die Ecke.

Aber nichts deutete je darauf hin, dass sie ernsthaft erkrankt war. Völlig unerwartet traf mich die Nachricht, dass jede Hilfe für sie zu spät kommen würde. Weder Operationen, Bestrahlungen noch Medikamente konnten den Tod aufhalten. Gerda hatte auf ihre Art versucht, mich zu trösten. Mit viel Körperkontakt und gutem Essen.

»Du musst dich nicht verantwortlich fühlen. Du hättest es nicht verhindern können«, sagte sie jetzt gerade und strich mir mit der Hand über den Kopf.

Dieser Gedanke war mir neu. Und fremd. Natürlich hätte ich nichts ändern können, meine Mutter war eine erwachsene Frau. Wieso sollten mich Schuldgefühle plagen?

Die Ärzte im Krankenhaus hatten mir erklärt, dass der Krebs überall sei, und sie hatten mich gefragt, warum ich nichts bemerkt habe. Sie hätte doch Schmerzen haben müssen. Sie wollten wissen, warum Mutter nicht in Behandlung gewesen sei. Darauf konnte ich nichts antworten, weil ich es nicht wusste. Ich hatte keine Ahnung. Aber in den letzten Tagen war mir klar geworden, dass Mutter gar nicht hatte gesund werden können. Sie hatte ihrem Leben endlich entfliehen wollen. Und dieses Mal hatte sie noch nicht einmal etwas tun müssen. Suizid durch Nichtstun. Es hatte geklappt.

Nieselregen setzte ein. Nicht ungewöhnlich für Mitte April. Wenigstens weinte der Himmel, ich konnte es nicht. Gerda hakte sich bei mir unter, tätschelte meinen Arm und führte mich in die Eckkneipe. Unentwegt redete sie auf mich ein. Eine traurige Litanei in Endlosschleife.

Der Weg zu der Gastwirtschaft schien mir unsagbar lang, obwohl die Kneipe in Sichtweite lag, geschätzte achthundert Meter entfernt. Vier Frauen gingen mit uns, von denen ich drei vom Sehen kannte, jedoch keinen Namen wusste. Die vierte war mir völlig fremd.

Frau Herz, die Wirtin, wartete bereits auf uns. Sie trug dem Anlass entsprechend ein dunkles Kleid, dessen Länge ich für eine Frau ihres Alters und ihrer Statur für unangebracht hielt. Fleischige weiße Knie sollte man nicht öffentlich zur Schau stellen. Die Augen waren dunkel geschminkt, umrandet mit schwarzem Kajalstift. Aber am meisten beeindruckte mich die rote Farbe, die sie sich auf den Mund geschmiert hatte und die weit über die Konturen der natürlichen Lippenform hinausging.

Ich beobachtete, wie Gerda ihren Mund missbilligend spitzte, und hätte beinahe laut aufgelacht.

Die Wirtin führte uns ins Hinterzimmer, wo ein Tisch für sechs Personen gedeckt war. Weißes Tischtuch, weißes Kaffeegeschirr, Edelstahlbesteck mit verwitterten Holzgriffen. Eine rote Gerbera steckte in einer schmalen Vase. Der einzige Farbtupfer. Es sah erbärmlich aus.

»Es gibt Streuselkuchen und Bohnenkaffee. Hab aber auch noch ’ne Gulaschsuppe und ein paar belegte Brötchen, wenn euch nach was Herzhaftem ist.«

Egal wie Frau Herz aussah, ihr Name war Programm. Sie ließ es sich nicht nehmen, mich an ihren großen Busen zu drücken. »Kindchen, wat tut mir dat leid.«

Ihre belegte Stimme, die von nächtelangem Kellnern in verrauchten Kneipen zeugte, hätte einem Mann alle Ehre gemacht. Sie sprach rheinischen Dialekt und roch nach abgestandenem Zigarettenrauch, der in ihren Haaren hing. Ich nickte und fragte mich gleichzeitig, warum meine Nase so empfindlich war. Nikotin, Mottenkugeln und Parfüm. Was für ein Potpourri seltsamer Gerüche.

Kaum saßen wir auf den Holzstühlen, brachte ein junges Mädchen eine Thermoskanne Kaffee und Servierplatten mit Kuchen. Wie ausgehungert griffen alle danach und begannen zu essen. Sie schoben die Kuchenstücke in den Mund, spülten mit Kaffee nach und sprachen mit vollen Backen über meine Mutter, als hätten sie jeden zweiten Tag bei uns am Küchentisch gesessen.

»Sie war ja so geschickt in Handarbeiten.«

»Ja, diese Strickmuster, die sie sich ausdachte: phantastisch. Wie gekauft!«

»Und ihre Erdbeermarmelade!«

Ich hörte zu, sagte aber kein Wort. Sie hatten alle keine Ahnung. Mutters Handarbeitskünste waren tatsächlich beachtlich gewesen, ich hatte mich immer wieder über neue Pullover, Pullunder und Strickjacken freuen dürfen. Sie hatte wie eine Besessene gestrickt, als hinge ihr Leben von der Fertigstellung eines Pullovers oder einer Jacke ab.

Nach einer Stunde fiel den Damen nichts Neues ein. Als wieder die Lobhudelei über Mutters Handarbeitskünste begann, beendete Gerda das Kaffeekränzchen, und ich durfte endlich nach Hause. Ich, Jessica Laumann, wollte allein sein.