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Sekunden, nachdem er geklingelt hatte, ging die Tür auf. Der Kranz aus Salzteiggebäck schlug gegen die Holztür. Staufenberg erkannte Weihnachtsmotive und schüttelte den Kopf. Es war April.
Die gut aussehende Frau, die ihm öffnete, schien das nicht zu stören. Sie zuckte die Schultern, als sie seinem Blick folgte, und fragte: »Presse?« Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie in der Wohnung.
Staufenberg verstand es als Einladung, ihr zu folgen. Ob das Elkes Mutter war? Oder eine Freundin der Familie? Er schloss die Tür hinter sich, ging den langen Korridor bis zum Ende und betrat die Küche. Sie saß am Tisch und schaute ihn erwartungsvoll an. »Fragen Sie schon.«
»Lorenz Staufenberg«, stellte er sich vor und zog den Dienstausweis aus der Innentasche seiner Jacke. »Polizist, kein Journalist. Darf ich?«, fragte er und zeigte auf einen pinkfarbenen Klappstuhl ohne Kissen, der vor dem Tisch stand.
»Gern. Sie kommen wegen meiner Tochter?«
Er nickte, bemüht, seine Verwunderung über ihre Emotionslosigkeit für sich zu behalten. »Mein herzliches Beileid, Frau Schönherr.«
Sie sah ihn an, sagte nichts.
»Wir haben keinen Hinweis auf Fremdverschulden gefunden«, kam er direkt zur Sache. »Es scheint, als sei Ihre Tochter die Stufen zur Plattform hochgestiegen, in der Absicht, sich hinunterzustürzen. Suizid. Haben Sie eventuell eine Idee, warum?«
In seinen Ohren klangen die Worte kalt und herzlos, viel zu direkt. Doch in Frau Schönherrs Gesicht war keine Bestürzung zu lesen. Nichts veränderte sich, während er über den Tod ihrer Tochter sprach. Eine Frau ohne Mimik. Er suchte nach Spuren von Tränen, zu wenig Schlaf – vergeblich. Was er fand, waren glitzernder Lidschatten, knallroter Lippenstift und Rouge. Sie hat sich für die Journalisten schön gemacht, dachte er. Sie hofft, fotografiert zu werden. Sie war zweifelsfrei eine hübsche Frau, mit hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Gegensätzlicher konnten Mutter und Tochter nicht sein. Sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem aufgequollenen Gesicht und den strähnigen Haaren der Dreiunddreißigjährigen. Die Mutter wirkte jünger und trug ihre langen dunkelblonden Haare zu einem Dutt aufgesteckt. Ihre Hände lagen im Schoß, und sie schaute Staufenberg sekundenlang in die Augen, immer noch ohne Regung.
»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte sie schließlich.
Er nickte, dachte im gleichen Moment, dass Tee besser für seinen Magen wäre, und verwarf den Gedanken wieder.
Frau Schönherr stand auf. Während sie ihm den Rücken zuwandte und an der Kaffeemaschine hantierte, begann sie zu reden. »Meine Tochter und ich haben kein gutes Verhältnis gehabt. Wir waren nie Vertraute, wie es vielleicht bei anderen Müttern und Töchtern der Fall ist. Damals war ich froh, dass sie Schwimmen als Ventil für ihren Bewegungsdrang gefunden hat. Der Sport gab ihr das, wonach sie immer gesucht hat. Wissen Sie, ich habe mir immer eine kleine Primaballerina gewünscht. Habe selbst als Kind getanzt, hatte auch Talent, aber nicht genug. Dann wurde ich schwanger, und mein damaliger Freund, Elkes Vater, hat sich aus dem Staub gemacht. Ich musste sehen, wie ich uns beide durchbringen konnte.«
Sie nahm eine Kaffeedose aus dem Schrank und füllte vier Löffel des dunklen Pulvers in die Filtertüte. Sie stellte die Maschine an, drehte sich wieder um und setzte sich ihm gegenüber. Dann sprang sie wieder auf und griff hektisch zu zwei Bechern, die auf der Spüle standen. Werbegeschenke einer Reinigungsfirma, das Logo prangte groß auf der Vorderseite der Tassen.
»Als dann jemand auf sie aufmerksam wurde und ihr eine große Zukunft in Aussicht stellte, war ich angetan von den Möglichkeiten. Ich bin Mutter und habe mir, wie jede Mutter, nur das Beste für mein Kind gewünscht. Sie sollte nicht so enden wie ich.« Ihre Hände standen nicht still. Immer wieder drehte sie an ihrer Tasse. »Zu DDR-Zeiten habe ich im HO-Laden gearbeitet. Kein Traumjob. Aber wir sind über die Runden gekommen. Nach der Wende musste ich jeden Job annehmen. Bin bei anderen Leuten putzen gegangen, bis ich bei der Firma hier untergekommen bin.«
Sie zeigte auf das Logo der Tasse.
»Mc Wischnat«, las Staufenberg.
»Es ist ein guter Job, besser als nichts. Nichts ist mehr wie früher, nicht wahr?« Ihre Stimme bekam einen wehmütigen Klang.
Staufenberg nickte zustimmend. Natürlich war nichts wie früher. Zeiten änderten sich, Menschen änderten sich. Diese Frau, die gerade ihr Kind verloren hatte, wollte reden, sich rechtfertigen. Die Sätze hatte sie vorbereitet. Er sah die Inszenierung einer Mutter, die enttäuscht von ihrer Tochter war, weil sie nicht das Zeug für eine Balletttänzerin gehabt hatte. Aber dann hatte das Schwimmen neue Perspektiven in ihr Leben gebracht. Und dann war die Mutter wieder enttäuscht worden. Staufenberg las in ihr wie in einem offenen Buch. Diesen Geschichten hatte er viel zu oft gelauscht.
»Anfangs ging alles gut. Sie mochte das Sportinternat. Mit zehn kam sie dorthin, und sie blühte auf. Der straff organisierte Tagesablauf tat ihr gut. Das, was ich nicht in ihren Kopf bekam, ging dort ganz von allein. Disziplin!« Sie rief das Wort aus, als wäre es ihr Lebensmotor.
Vor Staufenbergs innerem Auge erschien ein römischer Galeerenführer, der mit Rohrstock und Peitsche die Sklaven zum Rudern antrieb. Er schluckte.
»Das hat sie dort endlich gelernt. Früh aufstehen, Training, Schule, wieder Training, nachmittags lernen und abends wieder Training. Von nichts kommt nichts, man muss hart für seine Träume arbeiten.« Sie redete sich in Rage. Diese Allgemeinplätze gab sie nicht zum ersten Mal von sich.
»Und es hat sich gelohnt?«, fragte Staufenberg.
»Ja, natürlich. Elke war gut. Schnell. Überholte alle im Wasser. Es war spannend zuzusehen. Eine Medaille nach der anderen. Fand einen Platz im Nationalkader. Sie ging aufrechter, lachte öfter. Sie war sonst immer so ernst, schon als Baby. Fand nichts lustig, was mir Spaß machte. Das muss sie von ihrem Vater haben.« Sie presste die Lippen aufeinander.
Wieder nickte Staufenberg. »Wo ist er?«
»Wer?«
»Elkes Vater?«
»Amerika. War er vor acht Jahren jedenfalls noch. Seit ich ihn kenne, versucht er das große Glück zu machen. Meist geht es gründlich schief. Er war sogar mal im Gefängnis. Nichts, worauf man stolz sein kann.«
»Sein Name?«
»Das letzte Mal nannte er sich Charly Beaux und war in Los Angeles. Aber wie gesagt, das ist acht Jahre her, und seitdem habe ich nichts von ihm gehört. Wahrscheinlich putzt er irgendwo Schuhe in einem Einkaufscenter und bildet sich ein, von einem Hollywood-Regisseur entdeckt zu werden.«
Ihr Spott war nicht zu überhören. Staufenberg verkniff sich die Frage, ob sie so viel anders war. »Wie ging es weiter mit Elke?«, fragte er stattdessen.
»Elkes Trainer war ein sehr netter Mann. Ein Kümmerer. Aufmerksam, charmant. Elke mochte ihn sehr. Sie himmelte ihn geradezu an. Er interessierte sich natürlich nur für ihre sportlichen Erfolge.«
Hoppla, was war das denn?, dachte Staufenberg. Konkurrenz im eigenen Haus? Frau Schönherrs Stimme hatte einen anderen Klang angenommen. Sie presste wieder ihre Lippen aufeinander, bevor sie weitersprach.
»Wir sind oft miteinander ausgegangen, haben über die Zukunft gesprochen. Über unsere, wohlgemerkt. Alles schien klar. Das ganz große Ziel sollte Olympia sein. Elke erfüllte alle Voraussetzungen. Sie war gut, holte einen Sieg nach dem anderen. Ihr Trainer glaubte, dass sie noch besser werden konnte. Und dann versagt sie im entscheidenden Moment.«
Frau Schönherr verstummte. Die Kaffeemaschine gab blubbernde Laute von sich. Frau Schönherr stand auf, fragte: »Milch, Zucker?«, und öffnete den Kühlschrank. Ein unangenehmer Geruch nach altem Käse stieg dem Kommissar in die Nase.
Er verneinte, und sie goss die dunkelbraune Flüssigkeit in die Tasse. Sie dampfte. Erst jetzt sah er, dass am Rand der Tasse Lippenstiftfarbe haftete. Rot, knallrot. Er drehte sie, bis er eine saubere Stelle gefunden hatte, und nahm zwei kleine Schlucke. Stark und bitter, so mochte er Kaffee. Auch wenn sein Magen rebellierte.
»Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können. Wir glaubten felsenfest, dass Elke es schafft. Fünf Jahre lang hab ich von einer großen Zukunft geträumt. Sie hatte uns bis zu diesem Zeitpunkt, was das Schwimmen anging, nie enttäuscht. Und dann versagt sie, einfach so, ohne Vorankündigung. Zappelt im Wasser rum, als wäre sie nie Bestzeiten geschwommen. Ich war fassungslos, Georg entsetzt.«
»Georg?«, hakte er nach.
»Ja. Georg und wir waren fast eine kleine Familie.«
»Was ist dann passiert?«
»Nichts. Elke kam ins Krankenhaus. Aber sie erholte sich sehr langsam, und Georg wandte sich anderen Talenten zu. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.«
»Hat Elke mal erzählt, dass sie gedopt wurde? Mittlerweile ist ja jedem klar, dass im DDR-Leistungssport mit dubiosen Mitteln gearbeitet wurde. War das der Grund für Elkes Zusammenbruch?«
Staufenberg wusste nicht, was er erwartet hatte, aber sicher nicht diesen Ausbruch. Mit hochrotem Gesicht erhob sich Frau Schönherr und haute mit der Faust auf den wackligen Küchentisch.
»Was sollen diese Vorwürfe? Auch Elke hat so einen Unsinn von sich gegeben. Sie hat Georg denunziert, wollte ihm ihr eigenes Versagen in die Schuhe schieben. Was ist das denn für ein erbärmliches Verhalten? Beißt man die Hand, die einen füttert? Georg war zu Recht enttäuscht. Nicht nur von ihren sportlichen Leistungen, sondern auch von ihr persönlich, als Mensch. Das hatte er nicht verdient!«
Sie setzte sich wieder, hob die Tasse, um einen großen Schluck zu nehmen, und stellte fest, dass sie bereits ausgetrunken hatte. »Nachschub?«
»Ich hab noch. Danke. Aber wie ging es denn dann weiter? Was hat Elke danach gemacht? Was macht der Trainer heute? Georg – und sein Nachname?«
»Georg Hille ist heute ein angesehener Mann, Mitbegründer eines Gesundheitsinstituts in Leutsch. Die haben sich auf Burn-out-Prävention spezialisiert. Er ist für den sportlichen Teil zuständig. Ab und zu lese ich etwas über ihn in der Zeitung. Und manchmal fahre ich auch raus und gehe am Auenwald spazieren, in der Hoffnung …« Sie brach ab. »Ich hab ihn nie wiedergesehen.« Sie flüsterte fast.
»Und Ihre Tochter? Wie hat Elke das alles verkraftet?«
»Elke?« Frau Schönherrs Stimme klang, als habe sie noch nie darüber nachgedacht, was dieser Vorfall mit Elke gemacht haben könnte. »Was soll mit ihr sein? Sie ist nach Hause gekommen und hat sich gehen gelassen. Gefressen hat sie, von morgens bis abends. Hat die Schule mehr schlecht als recht beendet. Eine Ausbildung als Verkäuferin absolviert. Haben Sie sie gesehen? Dick. Unförmig. Ekelig. Keine Disziplin, keine Selbstbeherrschung. Wie konnte man von ihr erwarten, Hochleistungen zu bringen? Sie hat einen schwachen Charakter. Es tut mir leid, das über meine Tochter zu sagen. Aber sie ist ein schwacher, nutzloser Mensch. Sonst hätte sie mir das nicht angetan.«
»Sie ist tot, Frau Schönherr. Sie benutzen einen falschen Tempus.«
Sie starrte ihn mit offenem Mund an. »Bitte?«
»Wenn, dann wäre ›sie hatte einen schwachen Charakter‹ und ›sie war ein schwacher Mensch‹ korrekt. Aber ich bezweifele das ehrlich gesagt. Ihre Tochter muss sehr unglücklich gewesen sein.«
»Was wissen Sie denn von Unglück? Was denken Sie denn, wie sich das anfühlt, wenn Sie kurz vor dem großen Durchbruch stehen? Wenn man glaubt, es geschafft zu haben. Und dann, von jetzt auf gleich, ist alles aus. Eine riesige Seifenblase, die platzt. Vorbei. Alle Wünsche rücken auf einmal in unerreichbare Ferne.«
Jetzt sammelten sich Tränen in ihren Augen. Staufenberg schaute angewidert zu, wie sie über ihre zerschlagenen Hoffnungen weinte, aber nicht eine Träne über den Tod ihrer Tochter vergossen hatte. Wie sehr musste Elke Schönherr bloß gelitten haben?
»Das alles ist über zwanzig Jahre her.«
Aus ihrer Stimme hörte Staufenberg Sehnsucht nach der guten alten Zeit heraus. Er hatte geglaubt, ihn könne nichts mehr erschüttern. Doch das Verhalten der Mutter machte ihn fassungslos. Er straffte die Schultern und sagte sachlich: »Die Leiche ist zur Beerdigung freigegeben. Sie können dem Bestattungsinstitut Bescheid geben.«
»Was?«
»Ihre Tochter kann beerdigt werden. Sie möchten ihr doch sicher als Beweis Ihrer Zuneigung eine Trauerfeier mit allen Freunden bereiten?«, erklärte er. Seine Stimme hatte einen süffisanten Tonfall angenommen. Er war wütend. Wie konnte eine Mutter nur so kaltherzig zu ihrem Kind sein?
»Wir kümmern uns natürlich darum. Vielen Dank. Sie sind von der Polizei?« Eine andere Frau war unbemerkt in die Küche gekommen.
Staufenberg schaute sie irritiert an. Sie sah Elkes Mutter ähnlich, doch im Gegensatz zu ihr waren ihre Gesichtszüge weich und freundlich.
»Staufenberg, Lorenz Staufenberg. Und wer sind Sie?«
»Miriam. Auch Schönherr. Ich bin die Tante. Also von Elke, die Schwester von Rebecca.« Sie nickte ihrer Schwester zu, die aufgestanden war, um Kaffee nachzuschenken. »Es ist so traurig, dass Elke keinen anderen Weg sah, als ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ich mache mir Vorwürfe. Vielleicht hätten wir es verhindern können.«
Die Familienähnlichkeit war da, und doch wirkten die Schwestern völlig unterschiedlich. Miriam Schönherr strahlte Wärme und Geborgenheit aus, hier sah er wirkliche Trauer. Seine Wut verflog. Wenn schon nicht bei der Mutter, dann hatte Elke bei der Tante sicherlich ein wenig Nestwärme gefunden.
»Rebecca, ich habe bereits alles in die Wege geleitet und einen Bestatter ausgewählt«, sagte die Tante der Toten nun zu ihrer Schwester. »Es ist gut, dass wir sie bald beerdigen können, nicht wahr?«
»Jaja, mach, wie du meinst.« Rebecca Schönherr setzte sich wieder, wirkte teilnahmslos. Ihren Ausbruch schien sie überwunden zu haben.
»Ahnen Sie vielleicht den Grund für Elkes Selbstmord?«, wandte sich Staufenberg nun an die Tante. »Hat sie mit Ihnen gesprochen? Sie ins Vertrauen gezogen? Was wissen Sie über ihre Schmerzen, die Medikamente, die sie genommen hat?«
»Schmerzen? Elke hat nichts erzählt. Sie war depressiv, und dagegen hat sie Tabletten bekommen. Das kann Ihnen sicher ihr Arzt besser erklären. Mehr weiß ich nicht. Sie war kein besonders mitteilsamer Mensch. Allerdings hat sie in den letzten Wochen öfter außerhalb übernachtet. Ich dachte, dass sie endlich einen Freund gefunden hat. Aber erzählt hat sie nichts.«
»Als wenn Männer auf solche Frauen stehen würden!«, ereiferte sich Rebecca Schönherr da wieder. »Das glaubst du doch selbst nicht.«
Staufenberg zuckte erneut zusammen. »Also dann.« Er wusste nicht, wie er sich verabschieden sollte. »Ich bin dann mal weg. Es tut mir sehr leid.«
»Danke, Herr Staufenberg, und auf Wiedersehen.«
Hoffentlich nicht so schnell, dachte er.
Miriam brachte ihn zur Tür. »Meine Schwester meint es nicht so. Aber sie hat Elke nie verstanden. Sie sind sich immer fremd geblieben.«
Er nickte und ging auf die Straße.