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Das Klingeln des Telefons riss mich aus dem Schlaf. Ich schaute auf die Uhr. Acht, die Tagesschau begann gerade. »Guten Abend«, begrüßte Jens Riewa. Zusammengerollt wie ein Baby war ich auf dem Sofa eingeschlafen. Gerda, die auf dem gegenüberliegenden Sessel eingenickt war, schreckte ebenfalls hoch. Ich sprang auf und suchte das Telefon. Es lag nicht auf dem Couchtisch. Auch nicht in der Ladestation. Auf der Fensterbank im Gäste-WC fand ich es.
»Laumann?«, meldete ich mich.
»Guten Abend. Mein Name ist Rosalia Sauer. Ich möchte gern Jessica Laumann sprechen. Bin ich bei Ihnen richtig?«
Ich nickte, bis mir bewusst wurde, dass diese Kopfbewegung niemand sehen konnte, und erwiderte: »Ja. Was kann ich für Sie tun?«
Die Fremde legte auf.
Wie merkwürdig, dachte ich und stellte mich ans Fenster. Schaute auf die Bahngleise. Das Telefon klingelte erneut.
»Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte nicht einfach auflegen. Aber es ist schwieriger, als ich dachte.«
»Worum geht es denn?«, fragte ich ungeduldig. Die Frau ging mir auf die Nerven. »Schießen Sie einfach los, kann ja nicht so schlimm sein.«
Sie räusperte sich. Ich hörte sie schlucken. Sie setzte an zu sprechen, hustete stattdessen. Ich trommelte mit meinen Fingern aufs Fensterbrett.
»Es geht um Ihren Vater.«
Ich lachte auf. So eine war das. Kannte man ja aus dem Fernsehen. Betrüger. Wahrscheinlich erzählte sie mir jetzt, dass mein Vater eine Rechnung nicht bezahlt hätte. Als wenn ich auf so einen Trick hereinfallen würde.
»Klar«, spottete ich, »um meinen Vater. Der ist bereits vor langer Zeit gestorben. Bei mir werden Sie mit Ihrer Betrugsmasche nicht erfolgreich sein.«
Ich wollte auflegen. Mein Vater war tot. Ich hatte ihn nie kennengelernt. Mutter hatte mir nicht viel von ihm erzählt. Sie hatte mich immer nur in den Arm genommen und mir über den Kopf gestreichelt, wenn ich nach ihm gefragt hatte.
Als hätte die Frau am anderen Ende der Leitung geahnt, was ich vorhatte, rief sie: »Bitte hören Sie mir zu und legen Sie nicht auf!«
Etwas in der Stimme hielt mich zurück. Was wollte sie? Das Ganze musste eine Verwechselung sein. Es war Zeit, die Fronten zu klären. »Hören Sie, egal was Sie vorhaben, es funktioniert nicht, ich falle nicht darauf rein. Sie sollten sich schämen, Gefühle anderer so auszunutzen.«
»Bitte, so ist das nicht! Ich sag einfach, was ich sagen will. Das muss jetzt alles sehr irritierend für Sie sein. Mein Mann ist ein guter Freund Ihres Vaters gewesen. Jetzt liegt mein Ewald im Krankenhaus. Sein Herz, wissen Sie. Und etwas belastet ihn. Das hat mit Ihnen und Ihrem Vater zu tun. Er muss Ihnen etwas sagen, bevor es mit ihm zu Ende geht. Meine Bitte an Sie: Können Sie nach Leipzig kommen?«
Mein Mund wurde trocken. Einen Moment hatte ich das Gefühl, ich könnte nie wieder sprechen. Ich räusperte mich, und tatsächlich klang meine Stimme klar und fest. »Entschuldigen Sie. Das … das kommt etwas überraschend. Geben Sie mir Ihre Nummer, ich kann jetzt nicht mit Ihnen telefonieren. Ich melde mich später.«
»Später kann zu spät sein. Ewald hatte einen Herzinfarkt. Es sieht nicht gut aus. Bitte!«
Ich schüttelte immer noch den Kopf, wollte nicht hören, was die Fremde sagte.
»Er kann Ihnen alles erklären. Es ist ihm sehr wichtig.«
Wichtig. Was wusste die Frau denn, was wichtig war. Für wen?
Mein Kopf wanderte von rechts nach links und wieder zurück. Ich sah nur noch verschwommen. »Geben Sie mir die Nummer«, wiederholte ich.
Rosalia Sauer gab mir eine Ziffernfolge durch, die ich mitschrieb. Ich legte auf.
Gerda starrte mich an. »Jessica, wer war das? Du bist ganz blass.« Ihre Stimme zitterte.
»Sagt dir der Name Rosalia Sauer etwas?«
Gerda verneinte.
»Sie kennt mich, beziehungsweise ihr Mann kennt meinen Namen.«
»Was wollte sie?«
»Sie hat gesagt, dass ihr Mann meinen Vater gekannt hat und mir etwas sagen möchte. Persönlich. Ich soll nach Leipzig kommen. Er will mich sehen. Es eilt, weil ihr Mann scheinbar todkrank ist.«
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber bestimmt nicht diesen Gesichtsausdruck von Gerda.
»Ich habe immer geglaubt, dass etwas am angeblichen Tod deines Vaters nicht ganz koscher war. Aber deine Mutter hat das nicht hören wollen. Sie hatte Angst.«
Ich stierte sie an. Mein Schwindelgefühl verstärkte sich. Ich suchte Halt an der Wand, stützte mich an und ließ mich langsam an ihr entlang nach unten gleiten, bis ich mit dem Hintern auf dem Teppich saß.
»Was heißt das? Ich dachte … also du doch auch! Und Mutter hat doch auch nie …« Ich brachte keinen vernünftigen Satz zustande.
Gerdas Gesichtsfarbe veränderte sich. Von Leichenblass zu Tiefrot. »Ich weiß nichts Genaues. Aber mir kam das damals alles seltsam vor. Ich kann dir nur das sagen, was ich weiß. Viel ist das nicht. Wenn dieser Mann wirklich mehr Informationen hat, solltest du hinfahren und ihn fragen.«