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Krankenpflegeschüler Claas Saale lächelte. Bernhard Brinkmann hatte die Operationen gut überstanden und erholte sich zusehends. Für zweiundsiebzig Jahre war der Patient in einer guten Verfassung. Kein Übergewicht, Claas tippte auf regelmäßigen Sport. Vielleicht war er früher sogar Leistungssportler gewesen. Leipzig konnte in dieser Hinsicht auf eine lange Tradition zurückblicken.

Trotzdem war eine Arterie verstopft gewesen und hatte Brinkmanns Leben bedroht. Zum Glück war er zum Zeitpunkt des Schlaganfalls nicht allein gewesen. Sein Begleiter hatte geistesgegenwärtig reagiert und sofort den Notarzt gerufen, als er die ersten Anzeichen erkannt hatte.

Claas nahm sich einen Moment Zeit und blieb am Bett stehen. »Sie sehen meinem Großvater sehr ähnlich.«

Brinkmann bewegte den Kopf ein wenig nach vorn.

»Sie müssen nicht antworten. Ich wollte es Ihnen nur sagen. Mein Opa ist vierundachtzig und bei bester Gesundheit. Da kommen Sie auch wieder hin«, meinte Claas und tätschelte die Hand des alten Mannes.

Herr Brinkmann versuchte vergeblich ein Lächeln, bewegte stattdessen den Zeigefinger seiner rechten Hand als Zustimmung.

Claas kontrollierte noch einmal die Werte auf dem Monitor, den Sitz der Kanüle und die Geschwindigkeit des Tropfes. »Alles prima«, nickte er und verabschiedete sich.

Vor der Tür blickte er auf die Uhr und presste die Lippen zusammen. Es konnte klappen, pünktlich zum Training zu kommen. Das kommende Wochenende stand ganz im Zeichen des Fußballturniers der Thekenmannschaften. Sein Verein »Kühle Wade« hatte gute Chancen. Er hatte seinen Dienst am letzten Wochenende getauscht, um an diesem freizuhaben. Er hoffte inständig, dass nicht doch ein Kollege ausfiel. Der Personalmangel am St.-Barbara-Krankenhaus war dramatisch. Auch wenn ihm sein Beruf Spaß machte und er mit Herzblut dabei war, konnte er die Sparmaßnahmen auf Kosten der Mitarbeiter und Patienten nicht ignorieren.

Er eilte von der Intensivstation zu seinem regulären Arbeitsplatz, der inneren Abteilung. Routiniert erledigte er die noch anfallenden Arbeiten, und kurz vor Feierabend beschloss er, noch einmal kurz auf der Intensivstation vorbeizuschauen. Soweit er wusste, hatte Brinkmann keine Familienangehörigen. Die Ähnlichkeit zwischen dem Patienten und seinem Opa berührte ihn.

Er grüßte die Schwester am Empfang und ging zu Brinkmanns Bett. Verwundert sah er die Oberschwester mit einer Spritze in der Hand am Bett stehen.

»Ich musste ihm etwas für den Blutdruck spritzen, der war viel zu niedrig. Ich mache mir ernsthaft Sorgen, Claas. Herrn Brinkmann geht es gar nicht gut.«

Claas war irritiert. Hatte sich der Zustand so verschlechtert? Oder hatte er aufgrund seiner Unerfahrenheit die Werte falsch gedeutet?

»Vorhin schien alles in Ordnung, dachte ich.«

»So schnell kann sich das bei den alten Leuten ändern. Die Operation hat seinen Organismus geschwächt. Er ist ja kein Jungspund mehr.«

»Aber es ist doch nichts Ernstes?« Claas’ Stimme, gerade noch selbstsicher und erfüllt mit Vorfreude, klang nun schuldbewusst. Eine Faust umklammerte plötzlich seinen Magen, und er spürte die Übelkeit in sich aufwallen. Hatte er Brinkmanns Zustand falsch eingeschätzt? Hatte er einen Fehler begannen? Möglich wäre es. Er verfügte nur über ein halbes Jahr Berufserfahrung, die Oberschwester über mindestens ein halbes Jahrhundert. Zumindest tat sie so und sah auch so aus.

Nervös schaute er auf die Uhr. Trotz allem drängte die Zeit. »Er wird doch wieder, oder?«, wiederholte er seine Frage.

»Ja. Machen Sie sich keine Sorgen.« Mit ausdrucksloser Miene fügte sie hinzu: »Wenn Sie bei jedem Patienten so emotional reagieren, gebe ich Ihnen in diesem Beruf nicht lange. Sie müssen Abstand wahren, sonst frisst Sie der Job auf.«

Er nickte. »Ich muss jetzt eigentlich los. Oder kann ich noch etwas tun? Ich habe das Gefühl, ich müsste …«

»Jetzt gehen Sie schon. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Sie haben es sich verdient, Claas. Sie machen wirklich einen guten Job.«

Claas’ Ohren glühten, Schwester Bertha lobte selten. Nach der Schelte mit Brinkmann hatte er solch nette Worte gar nicht erwartet. Er lächelte schüchtern.

»Ihnen auch ein schönes Wochenende, Schwester Bertha. Montag bin ich pünktlich zur Frühschicht wieder hier.«

Er drehte sich um und ging.

Auf dem Flur verlangsamte er seine Schritte und strich sich nachdenklich über das Gesicht. Der Zustand des alten Mannes beschäftigte ihn mehr als der der anderen Patienten. Plötzlich kam er mit seinen Gummisohlen auf dem stumpfen Bodenbelag ins Stolpern. Erst jetzt nahm er seine Umgebung wahr und blickte direkt in das Gesicht von Gabi.

»Träumst du? Ich denk, du bist auf dem Weg zum Training. Du siehst aus, als wäre dir ein Reiter der Apokalypse begegnet.« Sie sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an.

»’tschuldige. Ich hätte dich fast umgerannt. Aber mich beschäftigt gerade tatsächlich etwas. Ich bin irritiert. Hast du vielleicht einen Moment für mich? Ich brauch jemand, mit dem ich reden kann. Zum Training komm ich schon noch früh genug.«

»Klar, für dich doch immer.«

Claas schob sie in die Teeküche und vergewisserte sich, dass sie allein waren.

Gabi lachte und neckte ihn. »Claas, ich dachte nicht, dass ich auf dich so eine Wirkung habe. Außerdem hab ich einen festen Freund.«

Claas schaute sie einen Moment verständnislos an, dann begriff er. »Quatsch, nein, nicht was du denkst«, lächelte er verlegen, »dafür hab ich gar keinen Kopf. Außerdem bist du nicht mein Typ – aber nicht böse sein, bitte. Nein, was anderes. Du hast doch jetzt am Wochenende Dienst, oder?«

Gabi nickte. »Ja, die blöde Bertha hat mich eingeteilt. Böse Hexe.«

»Sag das nicht, die kann auch anders. Sie hat mich gerade gelobt.«

Gabi riss die Augen auf. »Das glaub ich nicht! Der alte Drachen kann etwas Positives sagen?«

»Ich war auch ganz überrascht. Liegt vielleicht an meinem Charme? Dem kann keine Frau widerstehen.«

Gabi verdrehte die Augen.

Claas wurde wieder ernst. »Aber jetzt zu meiner Bitte. Kannst du mich über den Zustand von Brinkmann informieren? Morgen müsste er auf die normale Station verlegt werden. Vielleicht findest du die Zeit, öfter mal in sein Zimmer zu gehen und nach ihm zu sehen? Wenn du mir dann eine SMS schicken könntest? Das reicht, mehr will ich gar nicht.«

Gabi blickte zweifelnd. »Du bist lustig. Du weißt doch, was hier am Wochenende los ist. Immer zu wenig Leute und zu viel zu tun. Wie stellst du dir das vor?«

»Bitte, Gabi, es ist mir wichtig. Du findest Möglichkeiten. Wenn nicht du, wer sonst? Außerdem hast du dann was gut bei mir.«

»In Ordnung. Ich überleg mir was, aber das wird dich einiges kosten. Eisbecher bei Mario?«

»In der nächsten gemeinsamen Pause. Einverstanden.«

»Willst du mir verraten, warum du dich so sorgst? Der Brinkmann ist nett, aber das sind viele Patienten. Du kannst doch nicht bei jedem …«

»Ich weiß«, unterbrach er sie, »das hat der Drachen auch schon gesagt. Es ist mir wichtig. Das muss dir genügen.«

Der Anruf kam zur Sportschau. Claas saß auf dem Sofa, die Beine auf dem Hocker liegend, eine Eiskompresse auf dem rechten Knie, die Bierflasche in der Hand und die Chips in Reichweite. Das Turnier der Thekenmannschaften war nicht ohne Verletzungen an Leib und Seele verlaufen. Trotz vollem Körpereinsatz hatte Claas den Sieg vergeigt: Im Elfmeterschießen hatte er den entscheidenden Ball nicht gehalten. Die Mannschaft »Lahme Krücken« hatte mit 5 : 4 gewonnen.

Claas zog Bier und Chips zu Hause vor, statt mit den Kameraden in der Kneipe über sein Versagen zu diskutieren. Über den zweiten Platz konnte er sich nicht freuen, dafür war der Sieg lange Zeit zum Greifen nah gewesen. Er brummte ins Telefon: »Ja?«

»Claas, es ist was passiert. Ich hab aufgepasst, wie du es gesagt hast. Immer wieder, wenn es die Zeit erlaubte, bin ich zu Brinkmann rein. Es war wirklich viel los, ich bin kaum zur Ruhe gekommen. Es ging ihm immer gut. Aber dann ging alles ganz plötzlich. Es tut mir unendlich leid. Brinkmann ist tot.«

Claas setzte sich aufrecht hin. »Was? Das kann doch nicht sein!« Er starrte mit offenem Mund auf das Telefon, wollte nicht glauben, was Gabi ihm erzählte.

»Ich versteh es auch nicht. Selbst der Oberarzt meinte, dass alle Werte bis auf die Blutdruckschwankungen okay waren. Aber wir haben uns wohl geirrt. Er war schwächer, als wir alle dachten. Claas, ich muss weiter, die olle Bertha triezt schon wieder. Ein Feldwebel ist nichts dagegen.«

Er hielt den Hörer in der Hand und schaute gegen die weiße Wand seines Wohnzimmers. Da lief etwas falsch. Seit er im St.-Barbara-Krankenhaus arbeitete, war dies der dritte unerwartete Todesfall. Das konnte nicht sein. Schon öfter hatte er sich das gedacht – aber wer war er, der Pflegeazubi, der hier ankam und Verdächtigungen aussprach? Also hatte er geschwiegen und sich gedacht, dass er ja schließlich keine Ahnung habe.

Bei Brinkmann war er sich jetzt aber ganz sicher. Vielleicht hatte sich der Zustand verschlechtert, jedoch nicht lebensbedrohlich. Sonst hätte die Oberschwester anders reagiert. Hätte sie? Diese Frage drängte sich ihm erneut auf. Der Verdacht, der ihm vor ein paar Wochen gekommen war, ließ sich nicht mehr von der Hand weisen. War er der Einzige, dem die Todesfälle seltsam vorkamen? Hatte niemand Zweifel? Die Umstände von Münsters Tod vor ein paar Wochen waren auch merkwürdig gewesen. Viel zu plötzlich.

Er stand auf. Humpelte zum Kühlschrank, legte das warm gewordene Kühlkissen ins Eisfach und nahm ein neues heraus. Er schloss die Tür, überlegte es sich anders und öffnete sie erneut. Noch ein Bier würde beim Nachdenken nicht schaden.