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Nachdem mir Gerda alles erzählt hatte, was sie wusste beziehungsweise vermutete, ließ sie mich allein. Ihre Worte verwirrten mich mehr als der Anruf. Eine Geschichte wie in einer Daily Soap. Meine schwangere Mutter war angeblich vor knapp dreißig Jahren mit ein paar anderen Leipzigern, unter anderem Gerda, in den Westen geflüchtet. Der Kindsvater werde später nachkommen, sagte Christine. Der Ausbruch aus dem Überwachungsstaat verlief halbwegs unspektakulär, wenn man von den Ängsten und Befürchtungen der Republikflüchtlinge absah. Meine Mutter und Gerda freundeten sich an, und Gerda kümmerte sich im westlichen Auffanglager um ihre schwangere Freundin. Sie nahm sie mit zu ihren Verwandten an den Niederrhein. Bei meiner Geburt erzählten sie den Behörden: Vater unbekannt. Er blieb verschollen, niemand hörte etwas von Mutters Freund, obwohl er versprochen hatte, ebenfalls rüberzumachen. Bis eines Tages ein offizielles Schreiben an unsere Neusser Adresse kam, in dem mitgeteilt wurde, dass Erich Kummerer im Leipziger Gefängnis an einer Lungenentzündung gestorben und der Leichnam verbrannt worden war. So weit die Fakten.
Ich versuchte, mich in meine Mutter hineinzuversetzen. Was hatte sie gefühlt? Wie hätte ich an ihrer Stelle empfunden? Schwanger in einer fremden Stadt, einem fremden Land sogar, umgeben von unbekannten Menschen und zum Warten verdonnert? In meiner Vorstellung sah ich sie Abend für Abend aus dem Fenster schauen oder das Telefon anstarren. Sich in Tagträume flüchten, um die Furcht zu verdrängen. Bilder von Verhaftung und Verhören beiseitezuschieben. Ich sah eine schwangere Frau, die ihren wachsenden Bauch mit zunehmender Unruhe wahrnahm.
Wie vertrieb man sich die Zeit, wenn man auf einen Menschen wartete? Nicht auf irgendeinen, sondern auf den Mann, den man liebte. Für den man alles aufgegeben hatte. Wie verhielt man sich, wenn einem dann ganz langsam dämmerte, dass er nicht kommen würde? Dass das Verdrängen dieses Gedankens nicht mehr gelang und sich die schreckliche Erkenntnis in die Gewissheit verwandelte, dass etwas schiefgelaufen war, der Plan nicht aufging und Erich nie kommen würde, in der DDR blieb? Und trotzdem war da ein kleiner Funken Hoffnung. Bis zu diesem Schreiben. Der Mitteilung, dass er tot war. Ob sie sich bereits irgendwann während des Wartens diesen Gedanken erlaubt hatte? Ich glaubte es nicht. Die Konfrontation mit der Realität musste ein Schock gewesen sein. War das der Zeitpunkt, an dem sie hatte aufgeben wollen? Hatte ich sie davon abgehalten?
Gerda erzählte von der Zeit in der DDR. Von Verhören, die die Mitarbeiter der Staatssicherheit mit Angehörigen von Flüchtlingen oder verdächtigen Fluchthelfern führten.
»Christine hat sich schuldig gefühlt. Für deine Mutter stand fest, dass Erich durch ihre Flucht verhaftet wurde. Sie hat nicht darüber gesprochen, aber sie veränderte sich. Wurde immer stiller. Sie funktionierte, aber jegliche Lebensfreude fehlte. Sie hat sich um dich gekümmert, doch auch dir gegenüber fühlte sie sich schuldig, weil sie dir den Vater genommen hatte. Hinter jeder Ecke vermutete sie die Spitzel der DDR. Litt fast unter Verfolgungswahn.«
Ich lachte. Das erschien mir absurd. Doch Gerda schüttelte den Kopf und wies mich zurecht.
»Lach nicht! Du hast keine Ahnung. Das hört sich heute vielleicht albern an, aber das war nicht lustig. Glaubst du denn, deine Mutter hätte die Strapazen der Flucht auf sich genommen, wenn das alles ein Spiel gewesen wäre? Und woher glaubst du, wussten die, wo sie wohnt? Die haben alle bespitzelt. Auch im Westen. Die Furcht deiner Mutter war berechtigt.«
In der darauffolgenden Nacht fand ich keinen Schlaf. Es gab zu viel, um das ich mir Gedanken machte. Meine Mutter hatte sich auch mir gegenüber schuldig gefühlt, weil sie mir den Vater genommen hatte. Das hatte Gerda gesagt. Hatte ich in meiner Kindheit etwas vermisst? Nein. Diese Frage konnte ich eindeutig beantworten. Ich hatte alles gehabt. Gerda war immer für mich da gewesen und war es heute noch – was hätte ich vermissen sollen?
Trotzdem kreisten meine Gedanken um den Anruf. Eine eigenartige Unruhe nahm von mir Besitz. Was konnte mir der Fremde über meinen Vater mitteilen? Woher kannten sie sich? Vielleicht hatten sie sich im Gefängnis kennengelernt. Vielleicht hatte er von mir, seiner Tochter, gesprochen, bevor er gestorben war. Es gab nur eine Möglichkeit: Wenn ich alles verstehen wollte, musste ich nach Leipzig und diesen Ewald Sauer treffen.
Um sechs Uhr in der Früh hatte ich genug vom Grübeln und stand auf. Ich kochte Tee, und während ich wartete, dass er sich auf Trinktemperatur abkühlte, setzte ich mich an meinen Computer. Auf gut Glück gab ich die Schlagworte »Sauer« und »Leipzig« im Browserfenster ein. Die Suchmaschine zeigte mir zweiundvierzig Treffer im örtlichen Telefonbuch. Ich überprüfte die Einträge mit der Telefonnummer, die mir die Fremde gegeben hatte, fand aber keine Übereinstimmung. Ich zuckte die Schultern. Niemand musste sich eintragen lassen, überlegte ich. Statt weiter nach einem Unbekannten zu forschen, prüfte ich die Zugverbindungen nach Leipzig.
Punkt halb acht griff ich zum Telefon. Langsam wählte ich die Nummer, die ich mir auf einem kleinen Zettel notiert hatte, und bereits bei der Vorwahl vertippte ich mich zweimal. Sollte ich das als Zeichen des Schicksals deuten und den Anruf bleiben lassen? Etwas in mir widersprach. Ich konzentrierte mich und wählte Ziffer für Ziffer. Das Freizeichen ertönte. Einmal, zweimal. Beim siebten Mal wollte ich gerade auflegen, als sich eine gehetzt klingende Frauenstimme meldete.
»Ja?«
»Ich komme«, antwortete ich. Mehr nicht.
»Das ist großartig. Ewald wird sich freuen. Kommt Ihre Mutter mit?«
Etwas hielt mich ab, die Wahrheit zu sagen. »Nein, ich komme allein.« Ich ließ der Unbekannten keine Zeit, etwas zu erwidern. »Morgen früh geht ein ICE, den ich nehmen kann. Ich melde mich, wenn ich in Leipzig bin.«
»Ich freue mich sehr. Mein Mann wird sehr dankbar sein. Rufen Sie mich unter dieser Nummer an, wenn Sie da sind. Ich hole Sie gern ab, dann können wir gemeinsam ins Krankenhaus gehen und ihn besuchen. Selbstverständlich können Sie gerne bei uns übernachten.«
Um Himmels willen, bloß das nicht!, dachte ich. Ich hasste es, bei fremden Menschen zu schlafen.
»Nein, danke«, antwortete ich, »ich nehme mir ein Zimmer.« Dann legte ich auf und speicherte Rosalia Sauers Kontaktdaten in meinem Handy.
Wieso konnte ich nicht sagen, dass Mutter tot war? Mir war mein eigenes Verhalten rätselhaft.
Ich buchte die Bahnfahrt und ein Hotelzimmer in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs. Es war ein merkwürdiges Gefühl, als ich das Ticket und die Buchungsbestätigung ausgedruckt in der Hand hielt. Ich mochte klare Abläufe, zu viele neue Eindrücke brachten mich durcheinander – das war schon immer so gewesen. Im Moment schien sich das Leben nicht um meinen Wunsch nach Routine zu kümmern.
Ich rief meinen Chef an, erzählte ihm, dass ich doch Urlaub nehmen wolle. Er hatte mir nach Mutters Tod geraten, ein paar freie Tage zu nehmen. Seinen Vorschlag, ans Meer zu fahren, hatte ich ignoriert. Ich war noch nie im Urlaub gewesen, allein an einen anderen Ort gefahren. Ich wusste gar nicht, was ich mit so viel freier Zeit anfangen sollte. Mit mir. Es war normalerweise schon eine Qual, die Wochenenden zu überstehen – was sollte ich mit mehreren arbeitsfreien Tagen hintereinander anfangen? Irgendwann gab es nichts mehr zu putzen oder aufzuräumen. Doch jetzt gab es eine Aufgabe, ein Projekt, das ich angehen konnte. Mein Chef war froh, dass ich seinen Vorschlag nun doch annahm.
»Melden Sie sich einfach, wenn Sie wieder fit sind. Und genießen Sie Ihre freie Zeit. Reichen zwei Wochen? Wenn nicht, rufen Sie an. Das kriegen wir hin.«
Ralf Brückner war ein netter Vorgesetzter, der meinen Arbeitseinsatz schätzte. Auch wenn ich ganz anders als die Kollegen war. Gemeinsame Ausflüge oder Restaurantbesuche lagen mir nicht, und ich nahm nie teil. Auch wenn er immer wieder betonte, wie schade er es fände, ließ er mich in Ruhe und versuchte mich nicht zu Dingen zu überreden, die ich nicht tun wollte. Im Laufe der Zeit hatten sich auch die Kollegen daran gewöhnt. Man nahm mich so, wie ich war.
Ziellos lief ich durch die Wohnung. Ich begann, in der Küche aufzuräumen. Das dreckige Geschirr von drei Tagen wartete. Ich ließ das Wasser laufen, beobachtete die Schaumbildung. Nach zwei Tellern hörte ich auf, ging ins Bad. Hier standen noch immer Mutters Habseligkeiten. Eine Creme, die versprach, die Haut zu erneuern und alle Zeichen der Zeit verschwinden zu lassen. Mutter hatte an so etwas geglaubt. Handcreme, Körperlotion, Haarspray. Ein billiges Eau de Toilette. Ich nahm es in die Hand und sprühte zweimal auf mein Handgelenk. Mit geschlossenen Augen versuchte ich, Mutters Duft heraufzubeschwören. Vergeblich. Was wusste ich von ihr? Nichts. Sie war für mich da gewesen, doch ich hatte keine Ahnung von ihren Träumen und Hoffnungen, die sie mal gehabt hatte. Alles, was von ihr übrig geblieben war, waren verschiedene Cremetiegel und ein billiger Duft.
Ich wusch mir die Hände und ging in ihr Schlafzimmer. Nahm den Karton zur Hand, in dem Mutter wichtige Dinge aufbewahrt hatte. Vielleicht fand ich etwas, was mich dem unbekannten Mann, meinem Vater, näherbringen könnte.
Ich fand Ansichtskarten von Gerda. Unsere Papiere, unter anderem meine Geburtsurkunde. Es gab nur einen Eintrag. Eltern: Christine Laumann. Keinen Vater. Das war nichts Neues für mich, und doch fühlte es sich nach dem Telefonanruf anders an.
Ich fand das Foto ganz unten auf dem Boden des Pappkartons. Der Schnappschuss in Schwarz-Weiß zeigte einen jungen Mann. Sie hatte immer gesagt, sie habe kein Foto von ihm. Warum hatte sie gelogen? Ich nahm an, dass das Bild meinen Vater zeigte, und suchte nach Ähnlichkeiten. Ich stellte mich vor den Spiegel und hielt das Foto neben mein Gesicht. Aufmerksam betrachtete ich seine Kopfform, die Länge der Nase, die Umrisse des linken Ohrs und die Form der Lippen. Es war schwer, etwas zu erkennen. Das Bild schien mehrmals zerknüllt worden zu sein.
Was spürte ich? Ich horchte in mich hinein. Was gab mir die Gewissheit, dass ich die Form meines Ohrläppchens meinem Vater verdankte? Ich senkte meinen Arm. An den Faltknicken des Fotos löste sich die Struktur des Papiers auf. Es fühlte sich dünn, abgegriffen an. Ich drehte es um. Jemand hatte etwas auf die Rückseite geschrieben, doch ich konnte nicht alles entziffern. Selbst die Lupe half nicht. Ein Herz erahnte ich. Ein ›E‹ konnte ich erraten. Es könnte Erich heißen. Mit meinem Zeigefinger strich ich über das Foto, umkreiste seinen Kopf. Ein schmales und kantiges Gesicht. Die Haare hatte er sich aus der Stirn gekämmt. Dort, wo sein rechtes Auge sein musste, war eine Knickstelle. Es sah aus, als habe er ein Loch im Gesicht. Darunter lag ein Brief. Ein einfaches Blatt, zweimal gefaltet. Ich klappte es auf und erschrak. Das Schreiben war an Christine Laumann gerichtet, Kantstraße 25 in 4040 Neuss, datiert auf den 29. Juli 1983. In Amtsdeutsch teilte man dem sehr verehrten Fräulein Laumann mit, dass Erich Kummerer aufgrund einer Lungenentzündung bereits am 21. Mai verstorben und der Leichnam verbrannt worden sei.
Mit Stempel, Siegel und Unterschriften. Warum hatte Mutter nie mit mir über ihn gesprochen? Fühlte sie sich tatsächlich schuldig an seinem Tod und wollte nicht daran erinnert werden? Wollte sie sich nicht erklären, rechtfertigen? Ich steckte Foto und Brief in mein Portemonnaie. Morgen würde ich mehr wissen.