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Die Bürotür wurde aufgerissen. Tom wedelte aufgeregt mit einem Briefumschlag. »Ein anonymer Brief für dich, Chef.« Er legte ihn auf dem leeren Schreibtisch seines Vorgesetzten ab. »Aber keine Angst, wurde alles überprüft. Weder eine Briefbombe noch Kontaktgift. Nur ein anonymes Schreiben. Die Schriftart nennt sich American Typewriter, sagen die Experten. Nicht die bekannteste Schrift, aber Standard in den gängigen Textverarbeitungsprogrammen. Sie ähnelt der alten Schreibmaschinenschrift.«

Staufenberg blieb wie immer ruhig. Die Jahre als Polizist hatten ihn gelehrt, dass er mit Ruhe und Bedächtigkeit am weitesten kam. In der Hinsicht konnte Tom viel von ihm lernen.

»Ein anonymer Brief für mich? Was steht drin?«

»Der Hammer! Ein Todesengel soll im St.-Barbara-Krankenhaus unterwegs sein.«

Staufenberg hielt das Blatt hoch, betrachtete es von allen Seiten. Er hatte seine Lesebrille nicht parat, doch die Schriftgröße war groß genug gewählt, sodass er es mit ausgestreckten Armen lesen konnte.

Für Herrn Lorenz Staufenberg

Heinrich Brinkmann ist umgebracht worden. Und er ist nicht das erste Opfer im St.-Barbara-Krankenhaus. Seltsame Dinge gehen dort vor. Geht ein Todesengel um?

Kurz und knapp. Mittig auf dem Blatt platziert, auf ganz normalem Kopierpapier, DIN-A4-Format, weiß, achtzig Gramm.

Staufenberg presste die Lippen aufeinander und grinste gequält, während er sich vorstellte, wie das Papier untersucht worden war, bevor es an ihn weitergegeben wurde. Als ob er Opfer eines heimtückischen Anschlags werden könnte. Was für ein absurder Gedanke! Natürlich hatte er im Laufe der Jahre Verbrecher überführt und verhaftet, und sicher war ihm nicht jeder wohlgesonnen. Aber Kontaktgift? Briefbombe? Er schüttelte den Kopf. Lächerlich.

Noch zwei Wochen. Dann hatte dieser Irrsinn ein Ende.

Er schaute wieder auf das Papier, und sein Grinsen verschwand. »Todesengel«, wiederholte er. Kein schöner Gedanke. Eine schreckliche Vorstellung, wenn dies sein letzter Fall wäre und ungelöst bliebe. Ein Serientäter war schwer zu fassen, innerhalb der verbleibenden vierzehn Tage, die ihm im aktiven Dienst noch blieben, war es wahrscheinlich unmöglich. Er dachte an vergleichbare Fälle der letzten Jahre. Ein Mehrfachmörder in Leipzig, das war nicht das, was er sich für seine letzten Arbeitswochen wünschte.

»St.-Barbara-Krankenhaus? Kenn ich nicht. Weiß jemand von euch, wo das ist?« Er sah sich im Büro um.

»Das ist ein kleines Klinikum auf der Nürnberger Straße. Kirchlicher Träger.« Camilla saß bereits am Computer und hatte die Homepage der Einrichtung vor sich. »Nichts Besonderes, Grund- und Regelversorgung. Aber es gibt Gerüchte, dass das Krankenhaus in eine gemeinnützige Trägerschaft übergehen soll. Das steht natürlich nicht hier, aber ich hab davon gelesen.« Camilla pustete die Ponyfransen in die Höhe. »Dass dort ein Todesengel sein Unwesen treiben soll, halte ich für unwahrscheinlich. Sonst hätte uns ein Angehöriger doch bestimmt schon mal informiert.«

»Woher kennt der Schreiber mich?«, murmelte Staufenberg. »Der Brief ist persönlich an mich gerichtet. Ich kenne niemanden dort. Sagt euch der Name Heinrich Brinkmann etwas?«

Camilla und Tom schüttelten die Köpfe.

»Mir auch nicht. Schaut mal, was ihr über ihn herausbekommt. Ich geh hin. Ist ja nicht weit bis zur Nürnberger. Es liegt ja sonst nichts an, oder?«

»Der Chef-Chef wollte dich sprechen. In einer Viertelstunde hast du einen Termin bei ihm.«

»Sag ihn ab. Und erklär Brünner, dass etwas dazwischengekommen ist. Arbeit geht vor, das ist doch sein Lieblingsspruch.«

Camilla verzog das Gesicht. »Du weißt, dass er …«

»Arbeit geht vor«, wiederholte Staufenberg und hob die Hände entschuldigend in die Höhe.

Camilla verdrehte die Augen, bevor sie mit Tom sein Büro verließ.

Staufenberg sah den beiden nach und überlegte, wie es mit ihnen weitergehen würde, wenn er nicht mehr da war. Durch die Glasscheibe beobachtete er, wie Tom mit Händen und Füßen auf Camilla einredete. Wie immer ignorierte sie seine temperamentvollen Gesten und griff ruhig und besonnen zum Telefon. Sie war das totale Gegenteil ihres Kollegen. Staufenberg war noch nicht sicher, wer seine Nachfolge übernahm, doch er hoffte, dass sein Vorgesetzter Walter Busch vorziehen würde. Er war ein ruhiger Mensch, der kein überflüssiges Wort sprach, aber über einen messerscharfen Verstand verfügte. Außerdem kannte er die beiden jüngeren Kollegen, wusste, wie gut sie sich ergänzten. Ein Neuer von außen würde viel Zeit mit neuen Regeln und dem Reorganisieren des gut laufenden Betriebs vergeuden und die Effizienz des Teams damit zuerst einmal zunichtemachen.

Staufenberg blickte auf den Monitor seines Computers. Das Mailprogramm informierte ihn darüber, dass dreiunddreißig ungelesene E-Mails in seinem virtuellen Postfach lagen. Sein Blick glitt über den Schreibtisch. Wie immer sah dieser ausgesprochen ordentlich aus. So, als würde sein Besitzer seine Aufgaben zeitnah abarbeiten. Dem war natürlich nicht so. Staufenberg hatte seinen eigenen Ordnungssinn, das ja, aber er ließ auch gern mal was liegen. Er war ein Hochstapler. Ganz links auf seinem Schreibtisch stapelte er jedes Blatt Papier, das ihn erreichte, ordentlich aufeinander. Interne Memos, E-Mails, die Camilla ihm ausgedruckt in einer Postmappe übergab, Briefe, Rundschreiben. Alles, was an Papierkram über seinen Tisch ging. Nicht alle Nachrichten wurden von ihm gelesen. Sicherlich überflog er das eine oder andere, aber er war der Meinung, dass rund neunzig Prozent der Schreiben unwichtig waren und den Verfassern nur zur Befriedigung ihrer eigenen Eitelkeit dienten. Das Wesentliche ging in dem krankhaften Drang, alles und jeden über jedes noch so unwichtige Detail zu informieren, unter. Neben dem linken Stapel mit der ›eingehenden Post‹ befanden sich seine Aufzeichnungen zu dem jeweiligen Fall, den er gerade bearbeitete.

Nach einiger Zeit, wenn sich keine Katastrophe ereignet hatte, nahm Staufenberg einen Pappkarton, legte beide Stapel hinein und stellte den Karton in den Schrank. Wenn der Schrank zu voll wurde, packte er alle Kartons in eine größere Kiste. Die kam irgendwann in den Keller. Er hatte dort als Einziger im Haus eine eigene Ecke, in der die Kisten mit seinen Unterlagen lagerten. Wer das mal genehmigt hatte, war unbekannt. Das wusste nur Staufenberg selbst, dem es egal war, was die anderen dachten. In zwei Wochen wäre er hier raus, und dann würde er die Stapel, die Kartons und die Kisten im Keller einfach vergessen.

Er sah auf die Uhr. Fast Mittagszeit. Regelmäßige Mahlzeiten hatte ihm der Arzt gegen die immer häufiger auftretenden Magenschmerzen empfohlen. Er blickte zum Kalender. Noch vier Tage bis zur Spiegelung. Er schob die düsteren Gedanken zur Seite und beschloss, unterwegs etwas zu essen. In der Nähe des Krankenhauses gab es sicherlich einen Bäcker. Er steckte zwei neue Gartenprospekte in eine Plastiktüte, um sich beim Warten im Restaurant oder Bistro die Zeit zu vertreiben, und überlegte kurz, ob er sein Büro abschließen sollte, wie es die neueste interne Richtlinie vorsah – verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder.

»Camilla, ich bin weg. Hab aber für Notfälle das Handy dabei.«

Sie sah ihn erstaunt an, ohne etwas zu sagen.

Staufenberg öffnete die Tür des Vorzimmers und trat auf den Flur. Fünf Sekunden später klingelte sein Mobiltelefon. Er nahm ab. Es war Camilla.

»Ich wollte wissen, ob du mir diesmal die Wahrheit gesagt hast und tatsächlich das Telefon eingesteckt hast.«

Staufenberg lachte kurz auf, dann unterbrach er die Verbindung. Er überprüfte mit seinen Händen die Hosentaschen und vermisste sein Portemonnaie. Hatte er es auf dem Schreibtisch vergessen? Er ging zurück und blieb vor der leicht geöffneten Tür stehen, als er seinen Namen hörte. Neugierig lauschte er den Worten der Kollegin.

»Ich werde Staufenberg vermissen«, sagte sie. »Bei ihm weiß man wenigstens, was man hat. Mir graut es, wenn die Gerüchte stimmen und Walter unser neuer Chef wird. Aber der Brünner hält sich bedeckt. Sagt kein Ton.«

»Er ist Staufenbergs erste Wahl. Er sagt, Walter wäre gar nicht so schlimm. Also fachlich, menschlich kann ich mir kein Urteil erlauben. Er erzählt ja nie etwas Persönliches. Mir fällt es immer schwer, ihn als Mensch zu sehen. Er ist so …« Tom suchte offenbar vergeblich nach einem passenden Wort.

»Aalglatt. Ein Roboter würde seine Arbeit nicht anders machen. Außerdem riecht er fürchterlich. Nach alt. Mein Opa roch so.«

»Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Ich gehe jetzt in die Kantine. Willst du nicht doch mitkommen?«

Staufenberg fand seine Geldbörse in der Innentasche der Jacke. Er verzog das Gesicht. Warum hatte er sie dorthin gesteckt? Er hörte, wie ein Stuhl im Büro zurückgeschoben wurde, und zuckte zusammen. Keinesfalls wollte er beim Lauschen erwischt werden. Er eilte davon. Camilla mochte ihn. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Mit Walter würde er noch mal reden. Vielleicht half es ja.