10
Gerda brachte mich in ihrem alten 3er-Golf zum Düsseldorfer Hauptbahnhof. Sie sprach nicht viel, doch wanderte ihr Blick während der Fahrt immer wieder zu mir. Erst als sie auf den Parkplatz abbog, ergriff sie wieder das Wort.
»Jessica, mir tut es leid, aber du weißt, wie deine Mutter ist. War«, korrigierte sie sich. »Sie hat sich komplett verweigert, wenn man weiter gebohrt hat. Hat auf stur geschaltet. Ich habe nicht mehr aus ihr herausgekriegt. Dir hat sie doch auch nichts erzählt. Aber du hast auch nicht gefragt. Warum hast du sie nicht gelöchert, nachgehakt? Dir hätte sie solche Fragen eher verziehen.« Dann fügte sie noch hinzu: »Und vielleicht auch beantwortet.«
Ich wusste nichts zu erwidern und stieg aus.
»Warte, Jessica«, rief Gerda.
Ich legte meinen Arm auf der geöffneten Autotür ab und guckte sie fragend an.
»Die sind für dich.« Sie drückte mir eine blaue Butterbrotdose in die Hand. »Mit Leberwurst. Die, die du so gern magst.«
Ich nahm die Plastikdose und nickte ihr zu.
»Ruf an, wenn ich dir helfen kann.«
Ich nickte erneut, schüttelte dann den Kopf.
Sie schaute mich nachdenklich an. »Trotzdem. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, melde dich. Viel Glück«, fügte sie leiser hinzu.
Ich warf die Tür mit einem kräftigen Schwung zu und drehte mich um in Richtung Bahnhofseingang. Es waren viele Menschen unterwegs. Schüler, die ihre Rücksäcke über eine Schulter trugen. Anzugträger mit Laptoptaschen und Reisende, die ihre Rollkoffer hinter sich herzogen. Einige hatten Gepäckstücke, die über vier Rollen verfügten. Die zog man nicht hinter sich her, sondern schob sie an der ausgezogenen Stange. Es sah einfach aus, bis ich eine Dame beobachtete, die stehen geblieben war und nicht bedachte, dass der Koffer auf vier Rollen auf leicht abschüssigem Boden weiterlief. Ich musste grinsen, als ich in das Gesicht der Frau blickte.
Mein Gleis befand sich ganz am Ende. Ich ging weiter und hing meinen Gedanken nach. Natürlich hatte Gerda recht. Mutter war ein sturer Mensch gewesen. Wenn sie etwas wollte, beziehungsweise nicht wollte, dann setzte sie ihren Kopf durch. Egal wie ihre Umwelt darauf reagierte. Ihr hatte es geholfen, nie wieder ein Wort über ihre Liebe zu verlieren. Alles andere war egal. Alles andere und jeder. Auch ich.
Irgendwie hatten immer alle geglaubt, in meinem Sinn gehandelt zu haben. Wieso maßten sich andere an zu wissen, was für mich am besten war? Niemand hatte mich gefragt. Niemand mit mir diskutiert. Ich wollte Antworten, Gründe und Motive. Ich musste etwas ändern, mich neu erfinden. Die Suche war mein neuer Motor, setzte mich in Gang, trieb mich vorwärts.
Acht Uhr dreißig. Ich stand am Bahnsteig, Gleis 18, und sah mich um. Viele Reisende, eindeutig erfahrene Bahnkunden. Während ich mich dreimal an der Tafel vergewisserte, dass ich auch wirklich am richtigen Bahnsteig stand, saßen die meisten ruhig und entspannt da und tranken noch einen Kaffee aus dem Pappbecher oder lasen Zeitung. An etwas zu lesen hatte ich gar nicht gedacht. Auch wenn ich noch zehn Minuten Zeit bis zur Abfahrt hatte, wollte ich mich nicht von meiner Position entfernen. Die Angst, der Zug könnte ohne mich abfahren (oder der Mut würde mich in letzter Minute verlassen), war zu groß.
Eine Durchsage erklang. Ich verstand nur die Hälfte. Dummerweise auch nur genau diese Hälfte bei der englischen Wiederholung. In mir kroch die Angst hoch, dass etwas mit meinem Zug los war. Verspätung? Ausfall? Nervös blickte ich zur Anzeigetafel. Es wurde keine Änderung angekündigt. Die ältere Dame neben mir schnallte ihre Handtasche quer über die Brust und nahm ihren Rollkoffer mit nur zwei Rollen zur Hand.
»Entschuldigen Sie bitte. Betraf die Durchsage den ICE nach Leipzig?«, sprach ich sie an.
Sie blieb scheinbar widerwillig stehen. Ein abschätzender Blick durchleuchtete mich. »Ja.«
»Ich konnte nicht verstehen, was da gesagt wurde.«
»Das kommt von den Kopfhörern und der lauten Musik. Die jungen Menschen von heute hören alle schlecht. Stundenlange Beschallung von Bässen. Das hält kein normales Ohr aus. Die haben alle einen Hörschaden. Ich kann mit meinen vierundsechzig Jahren die Flöhe husten hören.«
Mir fehlten die Worte. Ich beschloss, ihren Beitrag zu ignorieren, und fragte höflich: »Um was ging es denn in der Durchsage?«
Ich schaute zur Bahnhofsuhr. Noch fünf Minuten bis zum planmäßigen Eintreffen des Zuges. Welche Informationen fehlten mir? Musste ich zu einem anderen Gleis? Fiel der 545 aus? Ich wurde unruhig.
»Die Wagen der ersten Klasse liegen im Abschnitt B. Da geh ich jetzt hin«, teilte mir die ältere Dame mit. Sie betonte jede Silbe, sprach sehr laut – als würde ich kein Deutsch verstehen. Dann drehte sie sich um, zog den Rollkoffer hinter sich her und würdigte mich keines Blickes mehr.
Was bedeutete das? Abschnitt B? Mein Ticket war für die zweite Klasse. Musste ich etwas tun?
Ein junger Mann grinste mich an. Er zeigte mit dem Finger auf eine Tafel. »Wagenstandsanzeige. Da schauen Sie, in welchem Abteil Sie sitzen, dann wissen Sie den Abschnitt.«
Ich fühlte mich dumm und unterdrückte den Impuls, mich zu erklären. Der junge Mann lächelte mich immer noch an. »Kommen Sie, ich zeige es Ihnen. Sie fahren nicht oft Zug?«
»Das erste Mal«, erwiderte ich.
Er zeigte mir die Tafel, und ich kramte meinen DIN-A4-Ausdruck des Onlinetickets hervor. Zwischen all den Zeichen fand ich in meiner Hektik die Sitzplatzreservierung nicht. Der Fremde beugte sich über mich und zeigte mit dem Finger auf die Informationen, die ich brauchte, dann auf die Anzeigetafel. Ich bedankte mich, schämte mich und begab mich zu Abschnitt C.
Der Zug fuhr pünktlich ein, und ich fand problemlos mein Abteil. Die Platzreservierung hatte geklappt, und ich lehnte mich im Sitz zurück. Bis Hannover würde ich Ruhe haben, erst dort musste ich umsteigen. Der Anschlusszug fuhr vom gleichen Bahnsteig ab, vom gegenüberliegenden Gleis. Der Schaffner erklärte mir das sehr geduldig, während er das Ticket mit meiner Kreditkarte abglich.
Das waren gute Nachrichten. Kein Suchen, kein Hetzen, um den richtigen Zug zu finden. Ich blickte aus dem Fenster, ließ die Landschaft und die Häuser vorbeiziehen und hing meinen Gedanken nach, die noch immer unkontrolliert in meinem Kopf umherschwirrten. Ich war verwirrt, wie in Watte gehüllt.
Das Verhältnis zu meiner Mutter war seltsam gewesen. Wenn ich sie mit den anderen Müttern meiner Bekannten verglich, gab es kaum Gemeinsamkeiten. Zum ersten Mal fragte ich mich, ob ich mir eine andere Mutter gewünscht hätte. Hatte mich ihr Verhalten gestört? Nein, ich schüttelte den Kopf. Nein, sie war so, wie sie war. Und ich hatte sie akzeptiert. Punkt. Ich wusste von ihrer Trauer um ihre große Liebe, meinen Vater.
Für mich war ihr passives Verhalten normal gewesen, ich hatte sie nicht anders gekannt. Sie hatte alles für mich getan, was ihr möglich gewesen war. Versorgte mich, achtete auf meine Gesundheit und darauf, dass ich immer »ordentlich im Zeug« war. So nannte sie das. Das war ihr wichtig. Die Leute sollten nicht merken, dass wir wenig Geld hatten und dass sie alleinerziehend war. Gefühlsduselei war in unserer kleinen Welt fremd. Das war für mich in Ordnung gewesen. Was ich allerdings unterschwellig immer geahnt hatte, wurde jetzt nach ihrem Tod zur Gewissheit.
Geliebt hatte sie mich nie.
Gerda, die Außenstehende, war mir emotional näher als meine eigene Mutter. Zwar konnte ich ihre Gefühle nicht in gleichem Maß erwidern, doch das war für sie in Ordnung. Ich war ihr Ersatzkind. Das Kind, das sie nie gehabt hatte. Zum ersten Mal fragte ich mich, warum sie eigentlich nie einem Mann begegnet war, in den sie sich hatte verlieben können. Und wieso fand ich es erst jetzt eigentümlich?
Sie hatte geholfen, mich zur Welt zu bringen, und war immer in unserer Nähe gewesen. Seit dieser illegalen Reise aus Leipzig, aus der DDR heraus, auf der sie sich kennengelernt hatten. Illegal, gesetzwidrig, kriminell. Meine Mutter gerade mal siebzehn, schwanger und voller Ideale. Ihr Freund wollte nachkommen, so schnell wie möglich. Gerda kümmerte sich. Nahm sie mit zu ihren Verwandten an den Niederrhein, nach Neuss. Sie teilten sich erst ein Zimmer, später eine gemeinsame Drei-Zimmer-Wohnung. Übergangsweise, eigentlich. Als klar war, dass mein Vater nie kommen würde, mieteten sie zwei nebeneinanderliegende Wohnungen auf der Kantstraße. Und da hatten wir alle gelebt, bis zu Mutters Tod.
Warum hatte ich nie nachgefragt?
Ich schaute mir die Mitreisenden an. Versuchte, in ihren Gesichtern zu lesen, ihre Geschichte anhand ihres Aussehens zu erraten. Zum dritten Mal stand die Frau von schräg gegenüber auf. Ihre Handtasche dicht an sich geklemmt, ängstlich auf ihren zurückbleibenden Koffer blickend, ging sie erneut zu den Toiletten. Reizdarm? Nervöse Blase? Sie kam zurück und sah anders aus. Erst als ich ganz genau hinsah, entdeckte ich rosafarbenen Lippenstift. Die Haare waren blondiert und struppig, die Falten um Augen, Nase und Mund zeugten von Verbitterung, Entbehrung und Enttäuschung. Doch in ihrem Blick lag eine Vorfreude, die ihrem ganzen Körper eine positive Ausstrahlung verlieh. So hatte ich meine Mutter nie gesehen. Gerechterweise fragte ich mich, ob es mir überhaupt aufgefallen wäre.
Welche wichtigen Dinge wollte mir der Freund meines Vaters mitteilen? War er überhaupt ein Freund von ihm gewesen? Warum hatte er bis jetzt geschwiegen?
Ich erhob mich. Der nächste Halt war Hannover. Viel zu früh stand ich im Übergang zweier Waggons, aus Angst, das Umsteigen zu verpassen. Als wir in die selbst ernannte Expo-Stadt einfuhren, drückte ich ungeduldig auf den Türöffner, der nicht sofort reagierte. Hektisch betätigte ich ihn ein zweites Mal. Ich atmete erleichtert auf, als ich auf dem Bahnsteig stand. Gegenüber wartete mein Anschlusszug, und auch hier fand ich sofort meinen reservierten Sitzplatz.
Durch meine Grübeleien verging die Zeit viel zu schnell. Ich bekam von der Landschaft nicht viel mit, und jeder Blick zu einem anderen Menschen im Abteil ließ mich wieder an meine Mutter denken. Sie war anders gewesen, ganz anders als jeder, der hier saß. Wie ich.
In Leipzig stieg ich aus, angenehm überrascht, dass alles gut gegangen war. Die Horrorszenarien der letzten Nacht waren Einbildung geblieben: Ausfall der Klimaanlage oder Heizung, doppelt belegte Plätze, Verspätungen, Selbstmörder, Zugentgleisung. Nichts davon war geschehen. Auch wenn ich nicht abergläubisch war, wertete ich es als gutes Omen für die nächsten Tage.