13

An der Rezeption fragte ich nach einem Stadtplan. Der junge Mann, jetzt etwas freundlicher, händigte mir einen aus und erkundigte sich, ob ich etwas Bestimmtes besichtigen wollte. Ich verneinte. Dann überlegte ich es mir anders und fragte, ob das St.-Barbara-Krankenhaus weit entfernt wäre.

»Nein, das ist ganz in der Nähe. Sie können sogar zu Fuß gehen. Oder mit der Straßenbahn bis zum Bayerischen Platz fahren.«

Er zeichnete mir das Krankenhaus auf meinen Plan ein, und ich bedankte mich. Ich war hier, um etwas in Erfahrung zu bringen. Wenn mir dieser Ewald Sauer etwas über meinen Vater mitteilen konnte, dann wollte ich allein mit ihm sein. Warum nicht jetzt schon mal die Lage sondieren? Auf Anhieb fand ich die richtige Haltestelle. Sogar das Ticket am Automaten bereitete mir keine Schwierigkeiten. In vier Minuten sollte die Bahn kommen. Mit mir warteten nur wenige Leute. Die Bahn kam pünktlich, und ich stieg ein. Ein junger Mann rutschte zur Fensterseite, damit ich mich setzen konnte, doch ich schüttelte den Kopf. Vor lauter Aufregung, den Ausstieg zu verpassen, blieb ich stehen und hielt mich an der Stange seines Sitzes fest. Ich schaute hinaus und bewunderte die schönen Fassaden. Leipzig hatte ich mir ganz anders vorgestellt.

Der junge Mann neben mir telefonierte, und ich lauschte seinem Dialekt. Es wirkte nett, sympathisch. Er lächelte mir zu und sprach unbekümmert weiter. Soweit ich verstand, verabredete er sich für den Abend mit ein paar Freunden.

Plötzlich sprach er mich an. »Schulldchnsä«, hörte ich. Verstehen konnte ich ihn nicht.

»Bitte?«, erwiderte ich, und er lachte.

»Ich muss aufstehen, die nächste Haltestelle ist meine. Bayrischer Platz«, sagte er in fast einwandfreiem Hochdeutsch.

»Natürlich. Bayerischer Platz, da muss ich auch raus«, rief ich und merkte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg.

»Sie sind nicht von hier, das hört man. Wo müssen Sie denn hin?«

Ich nannte mein Ziel, und der Fremde bot mir an, mich zum Krankenhaus zu begleiten. Ich lehnte dankend ab. Ich dachte an die unfreundliche Dame am Düsseldorfer Bahnhof und wunderte mich über die Hilfsbereitschaft der Leipziger. Sie schienen mir viel netter und freundlicher als die Menschen am Niederrhein. Es fiel mir schwer, diese Herzlichkeit anzunehmen. Der junge Mann war glücklicherweise nicht beleidigt, sondern erklärte mir fast ohne Dialekt den Weg.

Mir wurde warm. Das lag nicht nur an der Sonne, die auf meinen Oberkörper schien, sondern auch daran, dass ich nicht wusste, was mich erwartete. Was würde ich erfahren? Meine nassen Hände wischte ich an den Oberschenkeln ab. Ich gab es ungern zu, doch ich hatte Angst. Krankenhäuser bedrückten mich. Im wahrsten Sinne des Wortes. Mir saß ein dicker Kloß im Hals, und auf meinem Brustkorb lagen Betonklötze. In der Zeit, als ich meine Mutter mehrmals täglich im Krankenhaus besucht hatte, war ich ständig kurzatmig gewesen. Auch jetzt fühlte ich diese Beklommenheit.

Ich rief mir die Wegbeschreibung in Erinnerung und stand ein paar Minuten später vor dem Gebäude. Noch einmal atmete ich tief ein und schritt durch den Eingang. Einen Moment ließ ich den Innenraum auf mich wirken, bevor ich auf den Glaskasten zuging.

Die Dame am Empfang strahlte mich an. »Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«

»Guten Tag«, antwortete ich. »Ich möchte gern Ewald Sauer besuchen. Herzinfarkt.«

Sie schaute auf den Monitor, lächelte mich mitleidig an und erwiderte: »Dr. Ewald Sauer liegt auf der Intensivstation.«

Ich erschrak über den Doktortitel. Das hatte ich nicht gewusst, und während mir die nette Frau den Weg auf die Station erklärte, ging meine Phantasie mit mir durch. Dr. Sauer war vielleicht der Gefängnisarzt gewesen, der meinen Vater behandelt hatte.

Eine eigenartige Unruhe befiel mich. Ich fuhr mit dem Aufzug in die erste Etage. Ein leerer Gang, eine Doppeltür aus Glas, eine Sprechanlage und ein Klingelknopf erwarteten mich. Auf einem Blatt Papier stand die Aufforderung, dass man bitte nur einmal die Klingel betätigen und dann warten solle. Ich klingelte und wartete auf eine Stimme aus dem Lautsprecher. Stattdessen öffnete eine junge Schwester die Tür und fragte, was sie für mich tun könne.

»Ewald Sauer liegt hier?«

»Sind Sie eine Verwandte?«

Ich hielt die Luft an und nickte. Bloß keine falsche Erklärung abgeben, die alles erschweren würde.

Sie lächelte mich freundlich an. »Er schläft gerade. Möchten Sie ihn trotzdem sehen?«

Ich nickte wieder. Sprechen konnte ich nicht. Es war ein Wink des Schicksals, dass er schlief.

Ich zog die Schutzkleidung über, erst dann ließ mich die Krankenschwester zu ihm. Die Intensivstation, auf der meine Mutter gelegen hatte, war größer gewesen. Hier standen nur ein paar Betten. Doch die Überwachungsgeräte, Geräusche und Schläuche waren die gleichen. Es gab keinen Unterschied.

Die Schwester zeigte mir das Bett und ließ mich allein. Ich sah überall Kanülen, in denen Flüssigkeiten in und aus dem vor mir liegenden Körper transportiert wurden. Der überraschte mich allerdings sehr. Diese massige Gestalt hatte nichts mit dem schmalen Körper meiner Mutter gemein. Das erkannte ich trotz der Decke. Dann das Gesicht. Eingefallene Wangen. Tiefe Falten, Tränensäcke. Große Poren. Haare, die aus der Nase und aus den Ohren wuchsen. Auf dem Kopf hingegen fand sich kein einziges.

Der Mann öffnete die Augen, sah mich an. Eine Ewigkeit, wie mir schien. Im Gegensatz zu seinem Körper wirkte sein Blick gesund und wach.

»Jessica?«, flüsterte der Mann, und ich trat einen Schritt näher.

Er lag wieder mit geschlossenen Augen da, doch er versuchte weiterzusprechen. »Dein Vater.« Er machte eine Pause. Ich trat noch etwas näher. Er flüsterte erneut: »Dein Vater.«

Eine der Kurven auf dem Überwachungsmonitor bewegte sich stark. Ewald Sauer atmete heftig. »Er …«

In diesem Moment ertönte ein durchdringender Alarmton, und die Schwester kam ins Zimmer gerannt. Sie sah mich böse an. »Was haben Sie gemacht? Sie gehen besser. Sofort!«

»Aber ich … Er hat …«

»Gehen Sie!«

Sie zog eine Spritze auf, schob mich zur Seite. Ich bekam kein Wort der Rechtfertigung heraus und schlich mich aus dem Raum. Ich hatte nichts gemacht, und doch fühlte ich mich schuldig. Wie sollte ich das seiner Frau erklären? Erst dann begriff ich, dass mir Ewald Sauer etwas Wichtiges hatte mitteilen wollen. Was gab es, was ihn nach so vielen Jahren so aufregen konnte? Ich fühlte mich niedergeschlagen.

Statt zurück zur Straßenbahnhaltestelle zu gehen, lief ich einfach geradeaus. Rechter Hand befand sich ein kleiner Park, der zum Krankenhaus gehörte. Die Sonne lugte hinter den Wolken hervor, und ich setzte mich auf eine der Holzbänke. Ein sanfter Wind streichelte mein Gesicht.

Alles kam mir unwirklich vor. Ich war in einer Stadt, die ich nicht kannte. Die ganze ehemalige DDR war mir unbekannt. Mein Wissen bezog ich aus Reportagen und Zeitungsartikeln. Jetzt erinnerte ich mich, dass meine Mutter es mir sogar verboten hatte, an der Klassenfahrt nach Berlin teilzunehmen. Sie hatte Angst gehabt, eine unergründliche Angst, dass ich nicht mehr zurückkommen würde. Sie redete von Agenten und Kommunisten, dass man dieses Land nicht unterstützen dürfte, indem man Devisen hineinbrachte. Der Ärger war vorprogrammiert. Jeder Versuch, egal ob von den Lehrern oder Gerda, sie zu überzeugen, dass ihre Paranoia unbegründet war, schlug fehl. Sogar der Schuldirektor schaltete sich ein, doch vergeblich. Ich blieb zu Hause und besuchte die Parallelklasse. Schließlich galt die Schulpflicht. Verstanden hatte ich es damals nicht, aber genickt und gehorcht.

Ich schloss die Augen und versuchte mich zu beruhigen. »Dein Vater«, hatte Sauer gesagt. Was wollte er mir über meinen Vater mitteilen? Ich grübelte, bis mich eine fremde Stimme aus meinen Überlegungen riss.