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Staufenberg trat auf die Straße und beäugte skeptisch den Himmel. Sollte er das Fahrrad nehmen? Er entschied sich dagegen, denn er ging die Strecke lieber zu Fuß. Er wollte das Wetter spüren.

Während der letzten Jahre, in denen es für ihn nichts anderes als seine Arbeit gegeben hatte, hatte ihn immer häufiger das Gefühl überfallen, die Jahreszeiten zu versäumen. Voller Vorfreude wartete er in den Wintermonaten auf den Frühling und stellte dann überrascht fest, dass er ihn verpasst hatte. Das Erblühen der Krokusse und der Narzissen war ihm auch dieses Jahr überhaupt nicht aufgefallen. Und dann lagen plötzlich wieder die Magnolienblüten auf der Erde und der Fliederduft in der Luft. Kurze Zeit später konnte Staufenberg dann in den Supermärkten Dominosteine und Marzipankartoffeln kaufen.

So ging es mit ihm nicht weiter. Klara hätte sich gefreut, wenn sie seine Verwandlung mitbekommen hätte. Doch dafür war es zu spät. Nur noch wenige Tage Schnüffelei, Kombinieren und Zusammenhänge herstellen, wo keine waren, um sie dann wieder zu verwerfen. Oder Hinweise finden, die sie verstärkten. Keinem Verdächtigen trauen. Er seufzte. Das hatte Karla zermürbt. Sein ständiges Misstrauen gegen alle und jeden. Nichts glauben, wofür es keine Beweise gab. Ob er dieses Verhalten ablegen könnte? Auf seine alten Tage? Am Ende dieses Falles warteten Tomaten und Kartoffeln auf ihn. Aber nur, wenn er ihn löste. Mit einem ungelösten Fall würde er seinen Ruhestand nicht genießen können. Er warf einen kurzen Blick in die Tüte. »Nutzgärten zum Träumen« lautete die Schlagzeile eines Prospekts. Er lächelte und blieb an der Ecke Dimitroffstraße/Peterssteinweg stehen. Eine Gruppe älterer Touristen stand neben ihm. Eindeutig Touristen. »Schau mal, das Ampelmännchen mit dem lustigen Hut gibt es ja wirklich«, hörte er eine Frau sagen.

Ostalgie, dachte er. Das war übrig geblieben. Die DDR auf Ampel- und Sandmännchen reduziert. Er war sich nicht sicher, ob er sich darüber ärgern oder schmunzeln sollte. Er lief ein paar Schritte weiter und bog dann rechts auf die Windmühlenstraße ab, nach ein paar Metern wieder links auf die Nürnberger. Gleich war er im St.-Barbara-Krankenhaus, das sich in unmittelbarer Nähe der Uniklinik Leipzig befand. Praktisch, dann war der Weg zur Gerichtsmedizin nicht so weit.

Staufenberg betrat das Krankenhaus an der Ecke zur Seeburgstraße. In direkter Nachbarschaft zur Uniklinik wirkte es seltsam deplatziert. Ein Gebäude von 1900, das unter Denkmalschutz stand. Staufenberg wusste, dass das St. Barbara nur deshalb wirtschaftlich rentabel war, da es zum größten Teil mit freien Ärzten kalkulierte, die auf Honorarbasis arbeiteten.

Er blieb in der Eingangshalle stehen und schaute auf die Infotafel. Die Innere Station befand sich im zweiten Stock. Er nahm die Treppe statt des Aufzugs. Das Krankenhaus hatte sich trotz moderner Geräte und Apparaturen den Charme eines historischen Gebäudes erhalten. Unwillkürlich fragte er sich, was sich innerhalb dieser Mauern schon alles abgespielt hatte. Er stellte sich die Krankenschwestern der damaligen Zeit vor, wie sie mit ihren weißen Gewändern und langen Hauben durch die Gänge eilten. Ein Hauch von Wehmut überkam ihn.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Ein junger Mann stand plötzlich vor ihm. Staufenberg brauchte einen Moment, um sich wieder im Hier und Jetzt einzufinden.

»Ja. Gern«, antwortete er, und bevor er richtig überlegen konnte, ging ihm die Lüge über die Lippen: »Ein alter Schulkamerad, Bernhard Brinkmann, liegt hier, hat man mir gesagt. Ich wollte ihn besuchen. Freut ihn sicher.«

Der junge Mann schaute ihn erstaunt an. »Pfleger Claas Saale« stand auf dem Namensschild an seiner Brust.

»Es tut mir sehr leid, aber Sie können Herrn Brinkmann nicht besuchen.«

»Ist er schon entlassen worden? Bin ich zu spät?«, fragte Staufenberg scheinheilig.

Der junge Mann wurde blass. »Nein, das ist es nicht, aber Herr Brinkmann ist sehr krank gewesen und … Kannten Sie ihn gut, Herr …?«

Staufenberg überhörte die Frage nach seinem Namen. »Seit Ewigkeiten. Aus Schultagen. Aber wieso sagen sie ›kannten‹? Sie meinen, er ist …?«

Claas Saale erwiderte: »Kommen Sie mit, da vorn gibt es eine kleine Sitzgruppe. Ich habe einen Moment Zeit. Da gibt es etwas, was Sie wissen müssen.«

Staufenbergs Gewissen meldete sich. Der junge Pfleger bemühte sich, ihm schonend die schlechte Nachricht mitzuteilen, die er schon längst wusste. Sie nahmen in zwei altmodischen Clubsesseln Platz.

»Es tut mir sehr leid. Aber Herr Brinkmann ist verstorben. Sein Herz, wissen Sie, hat nicht mehr mitgespielt. Erst sah es so aus, als sei die Operation gut verlaufen, doch dann war sein Allgemeinzustand zu schwach. Er ist ganz friedlich eingeschlafen.«

»Er war immer der Aktivste von uns allen. Hat viel Sport gemacht.« Staufenberg spielte seine Rolle gut.

»Ja, das sah man. Er war sehr fit. Eigentlich habe ich erwartet, dass er die Operation gut übersteht.« Der Blick des Krankenpflegers verlor sich kurz im Nichts. Nach ein paar Sekunden sah er Staufenberg wieder an. »Kennen Sie Familienangehörige von Herrn Brinkmann? Niemand hat ihn besucht.«

»Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich weiß nicht, ob er verheiratet war.«

Der junge Mann rutschte auf dem Sessel hin und her.

Staufenberg war lang genug Kommissar, um zu merken, dass dem jungen Mann etwas auf der Seele lag. »Stimmt etwas nicht?«, fragte er direkt.

Der junge Mann druckste herum. »Sie sind der Erste, der nach ihm fragt. Komisch.«

»Was ist daran komisch?«, hakte Staufenberg nach.

»Nichts«, antwortete der junge Mann.

Eine ältere Dame in weißem Kittel kam auf die beiden zugeeilt. »Claas, ich brauche Sie«, rief sie mit schriller Stimme.

»Die Oberschwester. Die Arbeit ruft.« Dann fügte er leise hinzu: »Wenn Sie einen Tipp von mir haben wollen, ich würde nachbohren, warum Brinkmann so plötzlich gestorben ist.«

»Ich habe Ihnen meinen Namen noch nicht genannt. Staufenberg, Lorenz Staufenberg heiße ich. Sagt Ihnen der Name etwas?«

Der Pfleger stockte, sein Gesicht wurde noch blasser. »Woher? Ich meine, warum sind Sie …?«

Staufenberg lächelte nachsichtig. »Ist ja gut, Herr Saale, nicht wahr?«

Claas Saale sah erschrocken auf.

»Ihr Namensschild«, lächelte Staufenberg. »Ich habe Ihre Nachricht erhalten und würde mich gern mit Ihnen unterhalten. Wann haben Sie Zeit?«

Der Krankenpfleger schluckte und schaute auf die Uhr. »Okay. Gegen vier? Dann hab ich Feierabend, und wir können uns in dem Café hier um die Ecke treffen. Einverstanden?«

Staufenberg taxierte den jungen Krankenpfleger. Würde er wirklich kommen? Nicht selten hatte er erlebt, dass ein potenzieller Zeuge kurz vor dem entscheidenden Moment kalte Füße bekam und es sich noch einmal anders überlegte. Es war wichtig, schon beim ersten Gespräch einige Informationen zu erhalten. Ansonsten stand man schnell mit leeren Händen da.

Gerade wollte er zu seiner ersten Frage ansetzen, als er die ältere Frau im weißen Kittel wieder auf sie zukommen sah. Er wechselte in einen unverbindlichen Plauderton, als sie an ihnen vorbeirauschte. »Herzlichen Dank. Sie sind sehr freundlich gewesen. Auf Wiedersehen, Herr Saale.«

Doch anstatt zu gehen, zog er den jungen Mann in ein leeres Zimmer und schloss die Tür.