19

Ich schlenderte durch die Leipziger Straßen zurück zum Hotel. Das Schicksal von Tanjas Freundin berührte mich. Vieles konnte ich nachempfinden, allerdings neigte ich nicht zu emotionalen Kurzschlussreaktionen. Die Dinge sind, wie sie sind. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, aus großer Höhe in den Tod zu springen. Begannen die Knie zu zittern, wenn man in die Tiefe blickte? Oder sah man in die Ferne, genoss die Weite und das Gefühl von Freiheit? Losgelöst von allen Zwängen? Bis zum Aufprall? Spürte man den Boden, den Schmerz? Was kam dann? Mein Drang, alles zu hinterfragen, brachte mich manchmal zu seltsamen Überlegungen. Ich schob die Gedanken zur Seite und blickte auf die Uhr.

Viel Zeit blieb mir nicht, bis mich Rosalia Sauer abholen käme. Ich duschte und stand dann vor dem Kleiderschrank. Normalerweise trug ich Jeans und T-Shirt. Wenn es kälter wurde, zog ich einen Strickpullover darüber. Uni, ohne Muster. Muster verwirrten mich. Blusen besaß ich, von einer weißen Ausnahme abgesehen, keine. In Röcken und Kleidern fühlte ich mich unwohl. Mein Schuhschrank beherbergte vier Paar Sneaker. In Leder je ein helles und ein dunkles Paar, wobei das dunklere mit Kunstpelz gefüttert war. Die gleiche Konstellation besaß ich aus Stoff.

Die Auswahl für diesen Abend war nicht groß, und zum ersten Mal überkam mich das Gefühl, dass ich an meinem Stil etwas ändern sollte. Ich entschied mich für ein dunkelblaues T-Shirt, da die Farbe gut mit meinen Augen harmonierte, band die Haare zu einem Zopf zusammen und tuschte mir die Wimpern. Mein Spiegelbild gefiel mir, und ich fühlte mich gewappnet für den Abend mit einer mir völlig Unbekannten.

Ich hatte keine genaue Vorstellung davon gehabt, was das für Menschen waren, die meinen Vater gekannt hatten. Aber die vornehm wirkende Dame, die am Eingang meines Hotels stand, hatte ich nicht erwartet.

»Sie müssen Jessica sein. Guten Abend.«

Auf ihren hohen Pumps schritt sie grazil auf mich zu. Sie trug ein dunkelblaues Blusenkleid, dazu eine mehrreihige Perlenkette. Darüber trug sie einen eleganten Wildlederblazer. Am Mittelfinger der linken Hand blitzte ein großer heller Stein. Ich ertappte mich bei der Frage, ob er echt war. Wenn ja, schleppte Rosalia Sauer ein Vermögen mit sich herum. Die Uhr, auch eine Nobelmarke, glänzte. Die schulterlangen dunkelbraunen Haare wurden von einer übergroßen Sonnenbrille, die auf dem Kopf thronte, in Form gehalten.

Wie albern, dachte ich. Es war Abend, fast dunkel. Rosalia Sauer sah wie eine der Frauen aus, die ich in Zeitschriften bewunderte oder verabscheute – je nachdem, wie meine Stimmung war. Ich reichte ihr die Hand, unfähig, etwas zu sagen.

»Ich freu mich sehr. Das Auto steht da vorn. Mein Sohn Enrico wartet auf uns.«

Das Auto, auf das sie zeigte, war ein dunkelblauer Mercedes. Ich kannte mich mit Autos nicht aus, doch der Stern war nicht zu übersehen. Ich folgte ihr zum Wagen, nahm auf der Rückbank Platz und begrüßte den jungen Mann, der mich keines Blickes würdigte.

»Das ist Enrico. Und das ist Jessica«, stellte uns Rosalia Sauer vor.

Während der Fahrt schaute ich aus dem Fenster, nahm aber nichts von der Umgebung wahr. Alles kam mir unwirklich vor, als steckte ich in einem fremden Körper fest. Ich hing meinen Gedanken nach und überlegte gerade, wie ich vorgehen sollte, als der Wagen anhielt.

»Wir sind da.«

Ich stieg aus. Wir standen vor einer alten Villa, die in zartem Rosa gestrichen war. Alles wirkte gepflegt und wohlhabend und wollte so gar nicht zu diesem Mann im Krankenbett passen, den ich am Nachmittag gesehen hatte. Automatisch zog ich Vergleiche zu meinem Zuhause. Zu der Drei-Zimmer-Wohnung im Mehrfamilienhaus an der Kantstraße, dem alten Golf von Gerda und meinem klapprigen Fahrrad. Ein bisher unbekanntes Gefühl überkam mich. Fühlte sich so Neid an?

»Zwei Straßen weiter hat mein Mann sein Institut. Wenn es Sie interessiert, zeige ich es Ihnen gern.«

»Institut?«, fragte ich, weil ich vermutete, dass man diese Frage von mir erwartete.

»Ja, er hat sich auf psychische Störungen spezialisiert. Süchte, Burn-out, aber auch Prävention. Er gibt Seminare, wie man sein eigenes Bewusstsein stärken kann, um mit den Anforderungen im Beruf klarzukommen. Seine Patienten sind vor allem Manager, Banker. Und damit auch die Gattinnen nicht zu kurz kommen, ist vor ein paar Monaten ein Schönheitschirurg mit einer eigenen Praxis ins Institut eingestiegen. Aber nicht nur die Damen begeben sich unters Messer, auch die Männer. Der Erfolgsdruck ist ja heutzutage immens, und schöne Menschen haben es einfach leichter. Das ist ja bekannt.«

Sie lachte und schloss die Haustür auf. Ich schaute sie mir genauer an. Pralle Lippen, und die Stirn glatt wie ein Babypopo.

»Herzlich willkommen!« Sie hielt mir die Tür auf, und ich trat ein. Pompös, fiel mir spontan ein. Wieder dachte ich an unsere Wohnung in Neuss. An die alte durchgesessene Couch und den Backofen, der nicht mehr richtig aufheizte. Bilder meiner Mutter kamen mir in den Sinn, wie sie nach einem langen Arbeitstag als Kassiererin erschöpft vor dem alten Fernseher einschlief. Das hier war eine völlig andere Welt.

Das Innere des Hauses war geschmackvoll eingerichtet. Alles wirkte wie einem Möbelprospekt entsprungen. Hohe Decken, Stuck, feiner Putz an den Wänden. Fenster bis zum mit edlem Parkett belegten Boden. Viel Glas, noch mehr Edelstahl. Designerlampen. In der riesigen Küche hantierte eine robust aussehende Frau, die mich neugierig anschaute, als ich den Raum betrat.

»Das ist unser Gast, Elvira. Hat alles so weit geklappt?«

»Ja, Frau Sauer. In einer Viertelstunde serviere ich die Suppe.«

»Ein Aperitif, Jessica? Ich darf Sie doch Jessica nennen, oder?«

Ich nickte. Es kam mir vor, als könnte ich seit Tagen nur noch meinen Kopf bewegen. Ein Kopfnicken, wenn ich jemandem beipflichtete, ein Schütteln, wenn sich Widerspruch in mir regte. Was war bloß los mit mir? War das der Schock? Meine Art, mit Unvorhergesehenem umzugehen? Oder war ich kraftlos, wurde meiner Mutter immer ähnlicher, ließ mich treiben, reagierte, funktionierte, statt Dinge aktiv und selbstbestimmt anzugehen?

Wieder wollte ich meinen Gedankengang mit Kopfschütteln kommentieren, stoppte die Bewegung jedoch rechtzeitig ab, bevor ich sie ausführen konnte. In diesem Augenblick machte ich mir zum ersten Mal ernsthaft Gedanken über meinen Geisteszustand.

Rosalia Sauer ging zu dem gegenüberliegenden Schrank und öffnete ein Fach, indem sie die Tür nach vorn zog. Eine Bar kam zum Vorschein. So etwas hatte ich noch nie in einem Möbelgeschäft gesehen, zumindest nicht in denen, die ich aufsuchte. Vermutlich war das eine Sonderanfertigung. Geölte Eiche mit eingelassenen Halogenleuchten.

Sie schüttete eine bernsteinfarbene Flüssigkeit in ein Kristallglas, ließ es ein paarmal kreisen und roch dann daran. Es schien, als würde bereits der Duft entspannend auf sie wirken.

»Kommen Sie, wir setzen uns schon mal an den Tisch. Elvira macht das alles. Ich habe sie gebeten, etwas Typisches der Leipziger Küche zu kochen. Sie kocht phantastisch.«

»Sie haben eine eigene Köchin?«

»Ja, Elvira ist Köchin und kümmert sich auch sonst um alles im Haus. Ich hab so viel mit dem Institut zu tun. Was machen Sie denn beruflich?« Doch ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie bereits weiter. »Die Schwester rief mich vorhin an und sagte, dass Sie doch schon im Krankenhaus waren und Ewald sich aufgeregt hat. Aber jetzt geht es ihm wieder gut, sie haben ihn sogar von der Intensivstation verlegt.«

Ich wartete auf einen anklagenden Blick, einen vorwurfsvollen Tonfall, aber in Rosalia Sauers Benehmen fand sich nichts davon. Sie erwartete auch keine Erwiderung, was ich sehr angenehm fand, denn ich hätte nicht gewusst, was ich sagen sollte. Außer, dass es mir leidtat.

»Ah, da kommt Elvira. Haben Sie den Jungs Bescheid gegeben?«

Im selben Moment betraten Enrico und, wie ich annahm, sein Bruder, den Raum. »Franco«, stellte er sich vor und reichte mir seine Hand. Er warf mir einen freundlichen Blick zu. Der junge Mann verbreitete einen Duft nach Orangen und Zitronen, einen heimeligen, angenehmen Geruch, der mich für ihn einnahm.

»Franco, du hast wieder mit dem Eau de Toilette übertrieben«, tadelte ihn Rosalia Sauer.

Er grinste und nahm neben mir am Tisch Platz.

Der lange massive Eichenholztisch war mit weißen Tischsets gedeckt. Es sah edel und teuer aus, und ich ermahnte mich in Gedanken, darauf aufzupassen, nicht zu kleckern. Elvira servierte eine phantastisch duftende Suppe. Erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich war.

»Jetzt wird gegessen«, sagte die Köchin, nachdem sie die Suppenterrine auf den Tisch und die Suppe mit einer silbernen Schöpfkelle verteilt hatte. »Kartoffelsuppe. Guten Appetit, greift zu, kalt schmeckt sie nicht.«

Elvira gefiel mir. Herzlich, geradeheraus, ohne viel Schnörkel. An ihr wirkte nichts aufgesetzt, während ich bei Rosalia Sauer das Gefühl nicht loswurde, dass ihre Freundlichkeit nur gespielt war. Sie verkörperte für mich eine Welt, in der ich nicht wusste, wie ich mich bewegen sollte. Vor mir standen Wasser-, Weißwein- und Rotweinglas. Stoffservietten. Silberbesteck. Kerzenleuchter. Sie würden Zeugen meines Versagens werden.

»Noch einmal ganz offiziell: herzlich willkommen, Jessica. Schön, dass Sie hier sind. Es ist sicher alles sehr verwirrend für Sie, oder? Aber jetzt genießen wir erst einmal. Wir werden noch Zeit zum Plaudern finden. Guten Appetit allerseits.«

Ich nickte und wartete einen Moment, bevor ich nachahmte, wie die anderen mit ihren Servietten umgingen. Als ich sie ordentlich auf meinen Schoß ausgebreitet hatte, legte ich die linke Handfläche neben den Suppenteller. Ich gab es ungern zu, doch die Familie Sauer schüchterte mich ein. Immer wieder sah ich von meinem Teller auf und überprüfte, ob die anderen sich noch genauso verhielten wie wenige Momente zuvor, damit ich bloß keinen Fauxpas beging.

»Sie sind bei meinem Vater gewesen?«, fragte Franco unvermittelt.

Ich nickte. »Ja, aber er war sehr benebelt von den Tabletten. Morgen kann ich ihn besuchen. Die Schwester klang zuversichtlich.«

Rosalia Sauer berührte mit der Serviette kurz den Mund, trank einen winzigen Schluck von dem Weißwein und bemerkte: »Das wollte ich ja noch erzählen. Dein Vater, Franco, liegt auf Zimmer 112. Für den Fall, dass du ihn auch besuchen möchtest.« Wieder erklang ihr unnatürliches Lachen. »Morgen stehen noch eine paar Untersuchungen an, aber alle sind bester Dinge, dass er spätestens übermorgen entlassen werden kann. Auf eigenes Risiko zwar, aber ich bin der Meinung, er kann sich besser in seinem eigenen Haus erholen.« Sie nahm noch einen Schluck Wein. »Wie schmeckt es?«

»Gut«, beeilte ich mich zu sagen. Meine Gedanken wanderten zu Mutter. Mir hatte sich nie die Frage gestellt, in welches Zimmer sie gelegt wurde. Dort, wo Platz war, mit drei anderen zusammen.

»Hat er ein Einzelzimmer?«, fragte ich. Es klang, als würde ich von einer Hotelbuchung sprechen und nicht von einem Krankenhaus.

Rosalia Sauer schaute mich verständnislos an. »Natürlich. Ewald ist es nicht gewohnt, mit anderen einen Raum zu teilen. Außerdem gefährdet es natürlich den Genesungsprozess, wenn man an diese ganzen Erreger und Bakterien denkt. Um Himmels willen, wie soll man dann dort seine Ruhe finden und gesund werden?«

Mutter war im Krankenhaus gestorben – aber auch ein privates Zimmer mit ihrer Glückszahl an der Tür hätte daran nichts ändern können.

Rosalia Sauer wechselte das Thema. »Elvira hat Typisches aus dieser Region gekocht. Und ich habe einen Müller-Thurgau ausgesucht. Das ist unser Lieblingswein. Wussten Sie, dass Sachsen bereits im 12. Jahrhundert ein Weinanbaugebiet war? Wir haben gute Reben, gute Weine.«

Ich hörte kaum zu, mir lag etwas ganz anderes auf dem Herzen. »Kannten Sie meinen Vater auch?«

Frau Sauer legte das Besteck zur Seite und schaute mich aufmerksam an. Ich sah förmlich, wie sie sich die Formulierung zurechtlegte.

»Nein, nicht wirklich. Ewald hat mir nichts von ihm erzählt. Ich weiß nur, dass es meinem Mann sehr wichtig ist, Sie zu sprechen.«

Elvira kam herein, räumte die Teller ab, ohne jemanden anzuschauen. »Es hat gut geschmeckt«, sagte ich in ihre Richtung und lächelte sie an.

»Danke, das Hauptgericht kommt jetzt, natürlich Leipziger Allerlei. Nach Originalrezept.«

Als sie weg war, nahm ich den Faden wieder auf. »Was hat er denn gesagt? Woher wussten Sie, dass wir in Neuss leben? Und wie haben Sie mich gefunden?«

»Es tut mir sehr leid, Jessica. Aber ich habe keine Antworten für Sie. Ich hoffe, Sie werden morgen von Ewald alles erfahren. Als dieser Infarkt kam, hatte er wirklich Angst, dass es zu Ende geht. Er sagte immer: ›Das muss sie wissen!‹ Und als ich nachgefragt habe, denn er hat sich nicht beruhigen können, sagte er mir, dass ich unbedingt eine Jessica Laumann aus Neuss informieren solle. Laumanns gibt es nicht so viele in Neuss.«

Ein gequältes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Mein Mann ist es nicht gewohnt, dass man ihm widerspricht oder einen Wunsch abschlägt. Ich freue mich, dass Sie hier sind und ich Sie kennenlernen darf.« Ihr Lächeln wurde breiter, aber nicht ehrlicher. Sie zuckte mit den Schultern. »Mehr kann ich nicht sagen. Aber was wissen Sie denn von Ihrem Vater?«

Ich blickte beschämt auf die Tischdecke. »Nicht viel. Außer dass er im Gefängnis gestorben ist. An einer Lungenentzündung.«

Es wurde sehr still am Tisch. Ich spürte, ich sollte mehr dazu sagen, mich erklären, doch ich blieb stumm. Ich wollte nicht.

In die Stille hinein klingelte das Telefon. Alle zuckten zusammen, selbst ich. In den letzten Tagen hatte jeder Telefonanruf eine gravierende Änderung meines Lebens nach sich gezogen. Das Krankenhaus, das sich gemeldet hatte, um mir zu sagen, dass Mutter gestorben war. Rosalia Sauer, die mich nach Leipzig gebeten hatte.

»Elvira wird abnehmen«, sagte Enrico.

»Und wenn es das Krankenhaus ist?« Rosalia Sauer sprang auf.

Im selben Moment verstummte das Klingeln. Wir lauschten, bis Elvira laut brüllte: »Rufen Sie nie wieder an, sonst informieren wir die Polizei!«

»Der schon wieder.« Enrico grinste und sagte dann an mich gewandt: »Seit ein paar Wochen belästigt uns jemand am Telefon.«

»Aha. Was will er denn?«, fragte ich.

»Nichts, aber wir sollten trotzdem die Polizei einschalten. Das muss bald mal aufhören.«

Erneut kehrte Stille am Tisch ein. Jeder schien zu überlegen, worüber man als Nächstes unverbindlich sprechen könnte. Die Gesprächsthemen drohten sich in Luft aufzulösen. Doch Enrico rettete die Situation und schaute mich erneut eindringlich an.

»Was machen Sie? Beruflich und in Ihrer Freizeit? Welchen Sport treiben Sie?«

Er ratterte die Worte herunter. Elviras Eintreffen bewahrte mich vor einer Antwort. Sie stellte die Teller vor uns hin, ohne jemanden ins Gesicht zu blicken, und verschwand wieder.

Aber Enrico hatte mich nicht vergessen. Er wiederholte seine Fragen. »Sport? Schwimmen? Laufen?«

Ich lächelte. »Nein, ich habe einen Bürojob. Zahlen sind mein Metier. Ich arbeite als Programmiererin. Manchmal gehe ich am Rhein spazieren, aber langsam. Laufen ist nichts für mich, und schwimmen hab ich nie gelernt.«

Enrico hielt meinem Blick stand. Ich sah trotzig zurück und wollte nicht glauben, was ich in seinen Augen las: Er hielt mich für blöd. Zurückgeblieben. Ganz eindeutig.

»Sie können nicht schwimmen? Das kann doch jedes Kind.«

Ich fühlte mich schuldig und wusste nicht, warum. Meine Mutter war nie mit mir schwimmen gewesen. Aber das war ja keine Todsünde.

»In unserer Familie wird Sport sehr großgeschrieben. Nur in einem gesunden und schönen Körper mag ein gesunder Geist wohnen. Das ist das Motto unseres Instituts«, erklärte Frau Sauer.

Unwillkürlich dachte ich an die vielen Momente, wenn ich mich nackt vor den Spiegel stellte, die schlaffe Haut an den Innenseiten meiner Oberschenkel beäugte und entschied, endlich Sport zu treiben. Dieser Gedanke verschwand, wenn ich die Badezimmertür hinter mir schloss, und kehrte erst zurück, wenn ich nach einem Aufstieg in den vierten Stock fast auf meine Zunge trat und minutenlang kein Wort herausbrachte. Meine guten Vorsätze erneuerte ich pünktlich und regelmäßig an jedem Neujahrsmorgen. An der Umsetzung scheiterte ich das ganze Jahr über.

Ich schaute mir die beiden Brüder genauer an. Enrico wirkte neben seinem Bruder zwar schlaksig, aber dennoch sportlich. Francos Körper war muskulöser, das T-Shirt verbarg nur unzureichend seine kräftige Armmuskulatur.

Er lächelte mich an. »Unser Vater ist ein großer Förderer des Jugendsports. In seinem Institut arbeitet sogar ein ehemaliger Trainer, der auch einige Talente für Olympia fit gemacht hat. Jetzt kümmert er sich darum, dass die Bekloppten genug an die Luft gehen.«

»Franco, ich bitte dich! In Vaters Institut gibt es keine Verrückten. Erzähl nicht so einen Unsinn!« Rosalia Sauer wandte sich an mich. »Das hatte ich ja schon erklärt, oder? Im Institut dreht sich alles um Burn-out und andere psychische Belastungen, deren Heilung und Bekämpfung. Bewegung gehört selbstverständlich zu einem gesunden Körper dazu. Denn nur in einem gesunden Körper steckt auch eine gesunde Seele.«

»Mama, du wiederholst dich. Du bist hier nicht auf einer deiner Werbeveranstaltungen!«

»Dennoch möchte ich nicht, dass Jessica ein falsches Bild von unserem Institut bekommt. Es ist eine wunderbare Einrichtung, und wir konnten schon vielen Menschen helfen.«

Ich fühlte mich als Zuschauer eines Theaterstücks, aber ich verstand die Inszenierung nicht. Ich begann zu essen, um nicht reden zu müssen.

»Wie schmeckt der Wein?« Rosalia Sauer versuchte immer wieder ein Tischgespräch in Gang zu setzen. Bis jetzt hatte ich noch gar nicht probiert und nahm ihre Frage zum Anlass, das Glas zu heben. Ich nahm einen Schluck, war über das fruchtige Aroma überrascht. Anerkennend nickte ich. »Der ist gut.«

Mehr konnte ich nicht sagen, ich hatte keine Ahnung von Wein. Er schmeckte mir, doch die typischen Bezeichnungen, mit denen Weinkenner den Rebensaft bedachten, waren mir fremd. Zur Bestätigung nahm ich noch einen Mund voll und verschluckte mich. Zu meinem Entsetzen geriet die Flüssigkeit in die Luftröhre. Ich versuchte den Hustenreiz zu unterdrücken, meine Augen tränten. Enrico reichte mir Wasser, aber die Kohlensäure machte alles nur noch schlimmer. Ich wollte raus, ins Bad, hatte Angst, ich könnte mich übergeben. Was für ein Alptraum.

Franco stand ebenso auf und haute mir fest auf den Rücken. Es tat weh, er hatte seine Kraft nicht im Griff. Frau Sauer erbarmte sich schließlich. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Gästebadezimmer«, sagte sie, und ich nickte dankbar. Mehrmals hintereinander räusperte ich mich, doch der Reiz blieb. Ich konnte nur ganz flach atmen, immer wieder schluckte ich und versuchte, den Hustenanfall zu unterdrücken.

Erst als ich die Badezimmertür hinter mir schloss, nahm ich einen tiefen Atemzug. Ein donnernder Husten war die Folge. Ich setzte mich auf den Badewannenrand und wartete, bis der Anfall vorbei war. Mit tränenden, brennenden Augen stellte ich mich vor den Spiegel und erschrak. Dicke schwarze Balken umrahmten meine Augen. Beim nächsten Mal würde ich besser wasserfeste Wimperntusche benutzen. Ob Familie Sauer glaubte, ich müsste etwas an meinem Äußeren ändern? Sie waren alle so perfekt. Niemand hatte eine krumme Nase, Leberflecken im Gesicht oder Segelohren. Ich nahm einen Schluck Wasser aus dem Wasserhahn, hustete noch einmal testweise und ging zurück, als mich kein neuer Hustenreiz überfiel.

Sie unterhielten sich angeregt, und ich blieb abrupt vor der Tür zum Esszimmer stehen, als mein Name fiel. Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand. Was redeten sie über mich?

»Warum hast du sie überhaupt eingeladen? Was soll das bringen?« Das war Enricos Stimme.

Franco antwortete: »Ich finde sie nett.«

Rosalia Sauer beruhigte ihre Söhne. »Jetzt hört aber auf, ihr beiden. Ich möchte, dass sie einen guten Eindruck von uns bekommt. Es ist eurem Vater wichtig.«

»Was der damit wohl bezweckt?«, fragte Franco.

»Er bezweckt gar nichts. Er will wissen, was aus dem Kind seines Bekannten geworden ist.«

»Bist du sicher, dass es das Kind eines Bekannten ist? Er ist dir doch nie treu gewesen. Mir kommt das seltsam vor.« Franco lachte leise.

Rosalia Sauer ging nicht darauf ein. »Für Jessica ist das alles sehr schwierig. Und wie dumm, dass sie nun auch noch diesen anonymen Anruf hier bei uns mitbekommen hat. Aber sie hat nichts gemerkt – oder was meint ihr?«

»Was soll sie denn merken? Was für ein Mensch der Gründer dieses ach so tollen Instituts tatsächlich ist? Hast du Angst, sie könnte herausfinden, dass er ein manipulativer, egozentrischer und machtbesessener Arsch ist? Für den Menschen nur Mittel zum Zweck sind?«

»Franco, bitte. Das ist unsinnig. Der Anrufer lügt.«

Ich räusperte mich und trat ins Esszimmer. »Entschuldigung«, brachte ich heraus und setzte mich, ohne jemanden anzuschauen.

Elvira hatte in der Zwischenzeit den Tisch abgeräumt und brachte das Dessert.

Franco lächelte. »Natürlich Quarkkäulchen. Das haben wir unserem Gast zu verdanken, kriegen wir auch nicht alle Tage. Die sind göttlich. Ein altes Familienrezept.«

»Noch jemand Kaffee dazu?« Elvira war leise ins Esszimmer getreten. Ich schaute auf die Uhr und schüttelte den Kopf. Kaffee um diese Uhrzeit würde mir den Schlaf rauben. »Nein, für mich nicht, danke«, antwortete ich und überlegte, wie ich mich am besten verabschieden konnte. Ich befand mich in einem Paralleluniversum. Ich saß gar nicht hier. Ich unterhielt mich auch nicht mit wildfremden Menschen, die mir das Gefühl gaben, ich wäre eine Figur in einem mir unbekannten Gesellschaftsspiel. Alles um mich herum fühlte sich unwirklich an. Das Zimmer, die Gespräche. Nur die Quarkkäulchen waren echt.

Ich brauchte Antworten und wusste, dass ich sie hier nicht bekommen würde.

»Würden Sie mir bitte ein Taxi bestellen? Es war ein anstrengender Tag, und ich möchte früh schlafen gehen, um morgen ausgeruht zu sein«, lächelte ich entschuldigend.

Niemand hielt mich zurück. Elvira bestellte ein Taxi. Es schien, als wären alle erleichtert, dass ich endlich ging. Selbst Rosalia Sauers Herzlichkeit war im Laufe des Abends abgekühlt.

»Jessica, ich wünsche Ihnen eine wunderbare Nacht. Was für ein aufregender Tag das heute für Sie gewesen sein muss.«

Ich schüttelte brav alle mir hingehaltenen Hände, dann setzte ich mich eilig in den Fond des Wagens. Mein Aufbruch ähnelte einer Flucht.