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Gerdas Glas war leer. Abwechselnd schaute sie auf Flasche und Glas, unschlüssig, ob sie nachschenken sollte. Der Wein versetzte sie nicht in die Stimmung, die sie sich wünschte. Normalerweise verspürte sie nach zwei Gläsern eine Leichtigkeit, die Sorgen verschwanden. Zumindest verloren sie an Bedrohung. Außerdem wollte sie den Schmerz betäuben. Die Einsamkeit, die sie fühlte, verdrängen.
Natürlich zeigte der Alkohol Wirkung. Ihre Bewegungen wurden langsamer, das Sprechen undeutlicher. Es war nicht weiter schlimm, niemand war da, der ihren Selbstgesprächen zuhörte. Auch wenn die Zunge schwerer wurde, blieb ihr Geist klar. Sie betrachtete die dunkle Flasche, das edle Etikett intensiver. Ein Rotwein, Barolo, Jahrgang 2007. Ein guter Tropfen. Es war ihr Lieblingswein, der Jahrgang zufällig gewählt. Beim Discounter um die Ecke hatte sie ihn günstig erstanden.
2007 war ein ruhiges Jahr gewesen. Gerda ordnete die Jahre in ruhig und interessant ein, wobei ruhig gleichbedeutend mit gut war. Interessant war ein negativ behafteter Ausdruck. Wie oft hatte sie dieses Wort gehört, wenn sie erzählte, dass sie aus Leipzig stammte und Anfang der achtziger Jahre in den Westen geflüchtet war. »Wie interessant!« oder »Was für ein Abenteuer!«, hörte sie von ihrem Gegenüber. »Erzählen Sie mehr«, hauchten sie in Erwartung einer guten Geschichte.
Die hatten alle keine Ahnung. Abenteuer! Wildwestromantik! Gerda schnaufte. Diese Angst um ihr Leben würde sie nie mehr loswerden. Den Geruch der Panik, von ihr und ihren Mitreisenden, in dem kleinen Verschlag des alten Lkws roch sie noch heute. Vermischt mit den Ausdünstungen der Kunststoffplanen und billigem Schnaps. Drei Frauen, davon eine so jung, dass sie ihre Tochter hätte sein können, und ein junger Mann, der ständig seinen Flachmann aus der Hosentasche gezogen hatte, um einen Schluck zu nehmen.
Das Wort ›interessant‹ war für sie zum Synonym für Furcht, Verzweiflung und Schrecken geworden. Sie hatte den Ausdruck aus ihrem aktiven Wortschatz verbannt.
Gerda holte tief Luft, um die Zentnerlast, die auf ihren Schultern lag, zu vertreiben. Sobald sie an diesen Tag dachte, fühlte sie die Enge und das Entsetzen. Sie brauchte nur die Augen zu schließen, und die Angst übermannte sie. Angst vor der Entdeckung, vor den Verhören, vor dem Gefängnis. Warum hatte sie sich bloß darauf eingelassen? Hätte sie gewusst, dass die DDR nur noch ein paar Jahre bestehen würde, sie hätte sich das nicht angetan. Aber dann hätte sie nicht Christine kennengelernt, und Jessica wäre nie in ihr Leben getreten. Gerda erinnerte sich an die aberwitzigen Wetten, die sie mit Gott, dem Schicksal oder was auch immer abgeschlossen hatte. Wenn diese Flucht gelänge, würde sie ein besserer Mensch. Nie mehr lügen. Sobald sie Arbeit fand und Geld verdiente, würde sie einen hohen Betrag spenden. Sie würde sich den Menschen annehmen. Ihr waren die absurdesten Ideen in den Sinn gekommen. Dass das Schicksal ihr Christine zuwies und Gerda so schnell ihre Versprechen einlösen musste, hatte sie nicht geahnt.
Sie schenkte nach. Ihr drittes. Als die rote Flüssigkeit in das Kristallglas lief, ignorierte Gerda alle Empfehlungen. Der Rotwein sollte im Glas atmen können, sagten die Sommeliers, doch das interessierte sie nicht. Sie wollte nicht genießen, sie wollte vergessen. Mit vorgebeugtem Oberkörper schlürfte sie die Flüssigkeit, ohne das Glas anzuheben. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch nur einen der edlen Tropfen verschüttete, war zu groß.
Sie schloss die Augen, als der Barolo die Speiseröhre hinablief. Christines Gesicht schob sich immer wieder vor ihr inneres Auge. So jung, so hübsch, so stark! Und jetzt war sie tot.
Gerda hatte sie stets für ihr Selbstbewusstsein bewundert. Sie war arrogant, überheblich und abweisend gewesen. Trotzdem faszinierte sie die Damen in ihrer Umgebung. Nicht nur Gerda. Erst viel später erfuhr sie von Christines Schwangerschaft. Niemand ahnte etwas, nichts hatte während der Flucht darauf hingedeutet. Weder Heißhungerattacken auf saure Gurken und Schokolade oder Übelkeit hatten ihren Zustand verraten. Für Christine eine Frage der Disziplin.
Dass sich im Laufe der Jahre eine so enge Beziehung zwischen den beiden unterschiedlichen Frauen entwickeln würde, hatte niemand ahnen können.
Gerda nahm das Weinglas und schwenkte den Rotwein ein paarmal hin und her. Es war noch zu voll, ihre Bewegungen zu schwungvoll. Dieses Mal schwappte die rote Flüssigkeit über den Rand und bekleckerte ihre Bluse. Wie entfernt man Rotwein?, kam ihr in den Sinn. Sie zuckte die Schultern. War das wichtig? Nein. Christine war tot, Jessica allein in Leipzig auf Spurensuche. Ich hätte sie begleiten sollen, dachte Gerda. Dann zuckte sie mit den Schultern. Jessica hätte es niemals zugelassen. Sie war noch unnahbarer, als es Christine je gewesen war.
Eine Frage stellte sich Gerda wieder und wieder. Seit Jahren. Warum war sie bei Christine geblieben? Woher kam dieses Verantwortungsgefühl? Warum hatte sie sich das angetan?
Gerda lachte kurz auf, es klang wie ein Grunzen. Sie schüttelte heftig den Kopf, und erneut drohte der Wein auf ihre Bluse zu schwappen.
Vielleicht war es der Altersunterschied gewesen. Vielleicht Gerdas Einsamkeit. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie die innere Leere nicht füllen können. Sie war allein gewesen, all ihre anderen Verwandten hatten im Westen gelebt. Das Abenteuer der Flucht gab ihr für eine Zeit lang das Gefühl von Leben. Doch während sie noch im Lkw unter der Plane saß und den Geruch der Angst, der sie umhüllte, einatmete, wusste sie, dass die Flucht nichts an ihrer Einsamkeit ändern würde.
Die Begegnung mit Christine schien ihr wie ein Wink des Schicksals. Ihre Geschichte rührte sie. Diese Blauäugigkeit und das blinde Vertrauen, dass alles gut werden würde. Christine war so jung, so verletzbar und ohne Plan.
Es kam, wie Gerda es erwartet hatte. Christines Freund erschien nicht. Es tat weh, ihre Verwandlung zu sehen. Ihre Selbstsicherheit bröckelte. Sie wurde stiller und ruhiger. Die Schwangerschaft schien an ihr vorbeizugehen, Gerda glaubte sogar, dass sie das Kind irgendwie verschwinden lassen wollte. Sie traf keinerlei Vorbereitungen für die Geburt, alles schien ihr egal.
Gerda war in ihrem Element. Sie organisierte Christines Leben, und die junge Frau ließ sich dankbar führen. Wenn Gerda ganz ehrlich zu sich selbst war, musste sie zugeben, dass sie froh war, dass Christine allein war. Dass dieser Typ nie aufgetaucht war. Sie hatten übergangsweise zusammen in einem kleinen Appartement gewohnt, und nun sorgte sie für zwei gegenüberliegende Wohnungen auf einer Etage. Sie strich das Kinderzimmer, organisierte die Babyausstattung und besorgte Christine den Job als Kassiererin, den sie nach der Geburt der Kleinen und dem Mutterschutz annehmen konnte. Jessica. Ihre Jessica. Sie war bei der Geburt dabei gewesen. Als Arzthelferin wusste sie, was zu tun war. Das war der schönste Tag in ihrem Leben, als sie dieses kleine Baby in ihrem Arm hielt.
Jahrelang lebte sie in Angst, dass Erich doch noch auftauchen und ihr Christine wegnehmen würde. Oft lag sie nachts wach, geplagt von Sorgen und Alpträumen. Wie hatte sie gebibbert und gezittert! Und dann kam die erlösende Nachricht von seinem Tod.
In ihrer grenzenlosen Erleichterung bemerkte sie nichts von Christines Bestürzung. Sie bemerkte nicht, dass damals etwas in Christine starb. Ihr Lebenswille brach. Verschwand. Sie wurde still, melancholisch zuweilen. Doch Gerda sprach nicht mit ihr darüber. Sie glaubte, Totschweigen sei die beste Art, damit umzugehen. Kurz danach versuchte Christine sich zum ersten Mal das Leben zu nehmen.
Gerda war erschüttert. Sie tauschte die eine Angst gegen eine noch viel schlimmere. Denn auch in all den Jahren danach hatte sie sich nie sicher sein können, dass Christine es nicht wieder versuchte.
Gerda trank einen großen Schluck. Abtauchen in den Alkoholrausch. Vergessen. Christine war tot, und sie war allein. Eine Komödie lief im Fernsehen, und während die Schauspieler einen Gag nach dem anderen lieferten, wurde Gerdas Stimmung immer gedrückter.
Was machte Jessica? Was fand sie heraus? Was, wenn sie nicht mehr zu ihr zurückkommen würde? Die Angst klammerte sich fest um Gerdas Magen und drückte zu.