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Ich saß im Heck des Taxis, nannte dem Fahrer das Hotel und dachte an Mutter. Was würde sie von dieser ganzen Geschichte halten? Wenn Mutter gewusst hätte, dass es jemanden gab, der ihr Informationen über meinen Vater geben konnte, hätte sie trotzdem immer wieder versucht, sich das Leben zu nehmen? Die Erinnerungen an das erste Mal hatten sich in mein Gehirn gebrannt. Ich konnte die Bilder jederzeit abrufen.

Es war ein ganz normaler Tag im Mai gewesen. Die Sonne schien, seit Tagen konnte man ohne Jacke aus dem Haus gehen. Nichts deutete am Morgen darauf hin, dass dieser Tag anders enden könnte als alle anderen.

Gegen Mittag kam ich aus der Schule. Ich ging damals zur Dreiköniginnen-Grundschule in die vierte Klasse. In der Küche sah ich ein vorbereitetes Mittagessen. Mutter hatte mein Lieblingsgericht gekocht: Kartoffelknödel mit selbst gemachter Tomatensoße. Auch wenn das niemand nachvollziehen konnte, war es bis zu diesem Tag meine Leibspeise.

Der Kühlschrank war ungewöhnlich voll. Verwundert schaute ich auf Unmengen von Milch, Käse, meine Lieblingswurst und Joghurt mit Vanillegeschmack. Sogar Cola. Ich nahm mir eine kleine Flasche und schaute mich um, ob Mutter nicht plötzlich hinter mir auftauchte. Aber sie kam nicht. Ich ging in mein Zimmer, brachte meinen Schulranzen weg und schaute staunend auf die Stapel gewaschener und gebügelter Wäsche, die auf meinem Bett lagen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte, und streifte durch die Wohnung.

Ich fand sie schließlich im Schlafzimmer. Die Jalousien waren heruntergelassen, und sie schlief. Leise schloss ich die Tür wieder hinter mir und machte mich über mein Mittagessen her. Noch heute fühle ich die Bauchschmerzen, wenn ich daran dachte. Danach setzte ich mich an den Schreibtisch und erledigte meine Hausaufgaben.

Als ich Mutter danach immer noch nicht wecken konnte, wurde ich nervös. Ich klingelte bei Gerda, druckste herum und aß hektisch einen Keks nach dem anderen, bis ich endlich mit der Sprache herausrückte. »Mutter liegt im Bett. Ich glaube, sie ist sehr krank. Sie wird gar nicht wach.«

Mutter hatte alles vorbereitet, nur nicht bedacht, dass die Menge an Schlaftabletten nicht ausreichen könnte. Gerda erfasste die Situation sofort. Statt einen Krankenwagen zu rufen, nahm sie die Sache selbst in die Hand. Löste Salz in lauwarmem Wasser auf und flößte es ihr ein. Ich vertraute ihr, sie wusste, was zu tun war, auch wenn ich damals überhaupt nicht verstand, was passiert war. Das kam erst viel später. Im Nachhinein bin ich Gerda sehr dankbar. Wer weiß, wo ich hingekommen wäre, hätten die Behörden von Mutters Labilität und Todessehnsucht erfahren.

Meine Mutter erholte sich nur langsam, und niemand sprach über den Vorfall. Ein paar Jahre ging alles gut. Bis sie versuchte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Wieder fand ich sie. Im Badezimmer. Sie lag in der Wanne, im warmen, von ihrem Blut rot gefärbten Wasser. Damals war ich achtzehn, ich wusste, in welcher Richtung man die Pulsadern öffnen musste, um erfolgreich zu sein. Sie nicht. Und wieder half Gerda. Sie untersuchte die Schnitte, stellte fest, dass sie nicht tief waren, und legte zwei Druckverbände an.

Auch damals sprach niemand darüber.

Aber nun hatte sie es geschafft. Sie war tot. Wenn auch nicht allein aus eigener Kraft. Ich sah wieder und wieder das ernste und vorwurfsvolle Gesicht des Arztes vor mir. Es verfolgte mich. Haben Sie denn nichts bemerkt? Nein. Hatte ich nicht. Und selbst wenn, was hätte ich tun können? Als sie während des Einkaufens zusammenbrach und ins Krankenhaus eingeliefert wurde, war es zu spät. Es gab keine Heilung. Mutter lag in der weißen Krankenhausbettwäsche und wirkte zufrieden. Mit schwacher Stimme beruhigte sie mich. Ihr dritter Selbstmordversuch war geglückt. Weil sie nichts unternommen hatte. Wie perfide.

»Wo ich hingehe, ist alles gut. Er wird mir verzeihen, wenn ich ihn endlich wiedersehe«, flüsterte sie mir zu.

»Wir sind da, junge Frau«, riss mich der Taxifahrer aus den Gedanken. Er nannte den Fahrpreis, der mir nicht zu hoch erschien. Ich reichte ihm einen Fünfzig-Euro-Schein und bat ihn, auf zwanzig herauszugeben.

Während er nach dem Wechselgeld suchte, sagte er: »Sie sollten nicht zu viel grübeln.«

Ich blieb stumm und wartete auf mein Geld. Ich nahm ihm den Ratschlag nicht übel, wollte aber nichts erklären.

»Sind Sie das erste Mal in Leipzig?«

Ich bestätigte mit einem Kopfnicken.

»Ich biete auch Stadtrundfahrten an. Bin ein guter Fremdenführer. Wenn Interesse besteht, einfach anrufen.« Er reichte mir mit der Quittung eine Visitenkarte und lächelte mich an. »Leipzig ist eine tolle Stadt, mit viel Geschichte. Es lohnt sich.«

Ich nahm beides und verabschiedete mich.

Im Hotelzimmer war meine Müdigkeit verflogen. Die Erinnerungen wühlten mich auf. Der Unterschied zwischen meinem, Mutters und Gerdas Leben und dem der Familie Sauer war riesig. Es gab nur einen Menschen auf dieser Welt, der mich verstehen und mir vielleicht so etwas wie Trost geben könnte. Gerda nahm nach dem zweiten Klingeln ab.