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Claas riss die Zimmertür von 112 auf und rief: »Ist das nicht ein schöner Morgen? Die Sonne scheint, die Blumen blühen.«

Er pfiff ein paar Töne und stellte das Tablett auf den Nachttisch. Claas war von seinen Kollegen vorgewarnt worden. Der Patient von 112 war ein versnobter Arzt, der mit nichts zufrieden war. Man hatte ihn vor zwei Tagen ein paar Stents gesetzt, und er sollte heute, nach der Visite, entlassen werden. Auf eigenen Wunsch.

Claas hatte die Erfahrung gemacht, das man solchen Menschen am besten mit viel Freundlichkeit begegnete. Damit nahm man ihnen von Beginn an den Wind aus den Segeln. Außerdem hatte Claas gute Laune. Sein Knie schmerzte nicht mehr, und sein Verein wollte ihn trotz der Schlappe während des Turniers wieder im Tor sehen. Er betätigte den Schalter für die Jalousie, und während das Rollo nach oben fuhr, breiteten sich die Sonnenstrahlen auf dem Bett des Patienten aus.

»Guten Morgen, Dr. Sauer«, rief Claas erneut. »Es ist ein wunderbarer Tag. Und Sie können heute nach Hause.«

Immer noch keine Antwort. Claas blickte auf die Bettdecke, die der Patient über das Gesicht gezogen hatte. Nur ein paar einzelne graue Haare lugten hervor. Erst jetzt bemerkte er, dass das Kopfkissen neben dem Bett lag. Er eilte hinüber und schlug die Bettdecke zurück. Für einen Moment verharrte er in Schockstarre. Dann schrie er auf. Das durfte, konnte nicht sein! Der Mann war tot.

Claas sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Hier auf der Station trieb ein Todesengel sein Unwesen. Mit vorgehaltener Hand, als könnte ihn diese vor weiteren Schreien schützen, betrachtete er den Patienten. Er lag auf dem Rücken. Augen und Mund waren nicht ganz geschlossen. Nichts deutete auf äußere Verletzungen hin. Claas nahm die Hand des Patienten und suchte trotzdem nach einem Puls. Vergeblich. Die Hand fühlte sich schlapp an, keine Leichenstarre. Also war er bereits ein paar Stunden tot.

Wie hatte das passieren können? Wo war die Nachtschicht gewesen? War Sauer vielleicht im Schlaf gestorben? Claas hielt das für unwahrscheinlich. Was ging hier auf der Station vor? Natürlich starben Patienten, das war völlig normal. Doch bei Ewald Sauer war keine komplizierte Operation vorangegangen. Die Einsetzung der Stents war ein Routineeingriff. Das hier war kein natürlicher Tod.

Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Was konnte er tun? Wem konnte er vertrauen? Claas schaute in das Gesicht des alten Mannes, versuchte etwas zu erkennen. Es gab Berichte, dass sich Gefühle zum Zeitpunkt des Todes in den Gesichtszügen festsetzten. Er suchte nach Angst, Entsetzen.

Doch in diesem Antlitz fand er nichts außer Frieden. Vielleicht war Dr. Sauer doch im Schlaf gestorben? Claas schaute auf das Kissen, das auf dem Boden lag, und dachte angestrengt nach. Ersticken war schwer nachzuweisen. Er suchte auf Sauers Händen und Unterarmen nach verdächtigen Einstichen. Nichts. Es gab hier so viele Möglichkeiten, unentdeckt zu töten – was, wenn Claas sich irrte? Ihm fiel niemand im Krankenhaus ein, dem er vertrauen konnte.

Sein Entschluss stand fest. Er griff in seine Hosentasche und nahm sein Handy, das er trotz des Verbots immer in seiner Gesäßtasche trug. »Herr Staufenberg? Hier spricht Claas Saale. Es ist etwas Schreckliches passiert.«