25
Staufenberg saß im Wohnzimmer und wartete, dass Frau Sauer wiederkam. Elvira, die Haushälterin der Familie, bot ihm zum dritten Mal etwas zu trinken an. Jedes Mal hatte er dankend abgelehnt. Seine Gedanken wanderten zu dem Toten. Erstickt durch ein Kissen? Es sah ganz danach aus. Aber das war gar nicht so einfach durchzuführen. Es erforderte Kraft und Willen. Allerdings war im Fall von Ewald Sauer mit wenig Gegenwehr zu rechnen gewesen. Wenn der Angriff unerwartet kam und das Opfer im Schlaf überraschte, war es auch einer zierlichen Frau möglich. So wie Frau Sauer.
»Entschuldigen Sie, dass Sie so lange warten mussten. Ich … mein Körper …«, stammelte sie, als sie eintrat.
Staufenberg betrachtete sie neugierig. Er hatte schon vielen Familienangehörigen eine Todesnachricht gebracht, aber nie so eine Reaktion wie hier erlebt. Die meisten reagierten mit Tränen, andere wurden sprachlos vor Trauer. Manche lachten. Aggressionen, Fassungslosigkeit, Schreikrämpfe, Unglauben. Er dachte, er hätte im Laufe der Jahre alles erlebt. Aber Frau Sauer hatte ihn nach der Überbringung der schlechten Nachricht nur angeschaut und sich dann sofort entschuldigt: »Ich muss mal ins Bad.«
Er war ihr hinterhergelaufen, weil er befürchtete, sie könnte sich etwas antun. Im Flur hatte er gestanden und gelauscht. Die Würgegeräusche waren eindeutig gewesen. Spülung, Wasserrauschen. Er war zurückgegangen und hatte gewartet.
Jetzt saß sie ihm gegenüber und starrte ihn an.
»Möchten Sie etwas trinken? Oder essen vielleicht? Elvira macht einen wunderbaren Marmorkuchen. Manchmal backt sie auch andere Köstlichkeiten. Sie ist eine wunderbare Bäckerin. Sie kann süß und herzhaft. Und alles wird wunderbar luftig, nie hart. Wir lieben ihre Backkünste. Sie kocht auch fabelhaft …«
»Frau Sauer, ich muss mit Ihnen über Ihren Mann sprechen.«
»Ja, er ist ein wundervoller Mann. War, muss ich ja nun sagen. Tot. Ich kann es gar nicht glauben, es fühlt sich unwirklich an. Ewald ist so ein starker Mann. Gewesen. So unglaublich präsent. Er wusste, dass die Herzoperation eine Kleinigkeit war. Also nach der Untersuchung von Professor Dr. Müller. Vorher hatte er ein bisschen Panik, dass sein Leben zu Ende gehen könnte. Albern, nicht wahr?«
»Frau Sauer, Ihr Mann ist keines natürlichen Todes gestorben. Wir ermitteln in einem Mordfall.«
Sie legte den Kopf schief und schob ihre Unterlippe nach vorn. »Mord? Aber wer sollte denn Ewald ermorden wollen?«
»Hat er sich Feinde gemacht? Er ist doch ein erfolgreicher Mann, führt eine Privatklinik. Gibt es dort vielleicht Unstimmigkeiten? Streit über die Führung oder Ähnliches?«
»Nein. Im Institut ist alles in Ordnung, wir sind wie eine große Familie. Vor Kurzem haben wir sogar noch einen Schönheitschirurgen in unseren Kreis aufgenommen. Wissen Sie, wir betrachten das Ganze als gesamtheitliches Konzept. Für ein erfülltes Leben gehören ein gesunder Körper und eine ausgeglichene Psyche zusammen. So haben wir unser Institut aufgebaut. Und es wird gut besucht. Wir planen sogar zu expandieren. Düsseldorf, München. Dort sitzen die Banker, Manager, die so eine Einrichtung annehmen. Privat, ganz diskret. Aber luxuriös. Ich kann Sie gleich mal herumführen. Es ist Ewalds ganzer Stolz.«
Staufenberg wusste nicht, wie er ihr Verhalten deuten sollte. Sie stand unübersehbar unter Strom. Er befürchtete, dass sie jeden Moment zusammenbrechen könnte.
»Gibt es in Ihrem Institut jemanden, der sich um Sie kümmern kann? Sie sollten nicht ohne Aufsicht sein.«
»Natürlich. Mein Mann legt großen Wert auf gutes Personal. Sein Kollege, Georg Hille, ist Arzt. Wir haben einen Anästhesisten und examinierte Schwestern. Wir helfen den Menschen. Bauen Sie wieder auf, wenn sie sich zu viel zugemutet haben. Erschöpfungsphasen hat man immer mal wieder in seinem Leben, und es gibt ständig neue Herausforderungen. Wir helfen, dass der Mensch mit den an ihn gerichteten Anforderungen besser umgehen kann. Wir werden die Arbeitsbedingungen im gehobenen Managementbereich nicht verändern können, wohl aber den Umgang damit. Da ist jeder Einzelne gefordert. Meditation, Sport, gesunde Ernährung, gegebenenfalls mit Nahrungsergänzungsmitteln, aber auf jeden individuell zugeschnitten. Ein Ausgleich zwischen Anspannung und Entspannung muss geschaffen werden. Dann sind Sie, ist jeder in der Lage, mit allen Herausforderungen klarzukommen.«
Rosalia Sauers emotionales Plädoyer für das Lebenswerk ihres Mannes war beeindruckend.
»Für Ewald steht immer der Mensch im Mittelpunkt. Das ist unbestritten. Da können auch noch so Fremde das Gegenteil behaupten. Und jetzt ist er tot!«, schrie sie plötzlich und wedelte wild mit den Armen über ihrem Kopf herum. Ihr Gesicht wurde leichenblass, und sie rang nach Luft.
Endlich, dachte Staufenberg, während er um Hilfe rief. »Elvira, kommen Sie bitte, schnell! Informieren Sie den Notarzt. Sofort!«
Rosalia Sauer krümmte sich auf dem Boden. Sie hechelte, keuchte, zwang sich zum Sprechen. »Jessica, Sie müssen Jessica informieren!«
»Ganz ruhig, Frau Sauer, es kommt sofort Hilfe.«
Elvira brachte ein feuchtes Tuch und legte es ihrer Chefin auf die Stirn. »Georg kommt gleich«, sagte sie leise und streichelte ihr über die Wange.
Es dauerte keine fünf Minuten, bis ein Mann von ungefähr sechzig Jahren mit einer Arzttasche im Raum stand. »Was ist passiert?«
»Dr. Hille, nehme ich an?«
Der Fremde nickte und kniete sich neben den Körper der Arztgattin. Routiniert zog er eine Spritze auf, gab sie der Kranken. Anschließend bat er Staufenberg zu helfen, sie auf das Sofa zu legen.
»Was ist passiert?«, wiederholte er seine Frage.
»Mein Name ist Lorenz Staufenberg. Ich habe Frau Sauer über den Tod ihres Mannes informiert. Erst wirkte sie sehr gefasst, dann kam dieser Zusammenbruch.«
»Ewald ist tot? Was? Das kann ich nicht glauben. Es war doch ein ganz normaler Eingriff, nichts Weltbewegendes. Ich hab noch mit Müller gesprochen, der war ganz zuversichtlich, dass Ewald heute entlassen wird. Gab es etwa Komplikationen?«
»Nein, wir ermitteln in einem Todesfall infolge von Fremdeinwirkung.«
Georg Hille schaute ihn irritiert an. »Fremdeinwirkung? Sie meinen … Mord? Das ist völlig unmöglich. Wer soll denn etwas gegen Ewald haben? Diese Telefonanrufe waren doch harmlos. Keiner hat die ernst genommen, schon gar nicht Ewald. Was für ein Unsinn!«
»Was für Anrufe?«, hakte Staufenberg nach. »Wir brauchen jede Information. Wenn Sie etwas wissen, dann heraus damit.«
Georg Hilles Gesichtsmuskeln zuckten. Staufenberg beobachtete, wie er mit sich rang, was er erzählen konnte. Oder durfte. Rosalia Sauer bekam von alldem nichts mit.
»Vor drei Monaten ungefähr begannen diese Anrufe«, begann er stockend. »Sie gingen an das Institut, genauer an die Durchwahl von Ewalds Büro. Diese Nummer ist kaum jemandem bekannt. Der Anrufer hat seinen Namen nicht gesagt. Er hat gar nichts gesagt, man hörte nur Atmen. Das macht natürlich Angst, aber es ist niemand bedroht worden. Ewald hat Büroanrufe auch an seine Privatnummer weitergeleitet, damit er immer erreichbar war. Seltsamerweise rief dieser Mensch auch abends immer wieder an. Ich gehe davon aus, dass sich der Anrufer einen Scherz daraus gemacht hat. Als es noch mein Büro war, hab ich immer sofort aufgelegt.«
»Wie meinen Sie das, als es noch Ihr Büro war? Wie ist das zu verstehen?«
»Ach so, das können Sie ja nicht wissen. Wir haben unser Institut erweitert und einen Chirurgen ins Boot geholt. Dr. Klühspieß ist für ästhetische Eingriffe verantwortlich. Es gab ein wildes Rotieren der Büros, und Ewald ist in mein altes gegangen. Dr. Klühspieß hat Ewalds Büro bekommen, und ich bin in das neue gezogen.« Er wandte sich an Rosalia Sauer, fühlte ihren Puls. »Sie wird Ihnen heute nicht mehr weiterhelfen können. Sie braucht Ruhe. Mein Gott, was für ein Schock!«
Staufenberg nickte. Eine Frage hatte er dennoch. »Sagt Ihnen der Name Jessica etwas?«
»Nein, wer soll das sein?«
Elvira meldete sich aus dem Hintergrund. »Sie war zum Abendessen hier. Vorgestern Abend. Jessica Laumann. Frau Sauer hat mich nicht immer in ihre privaten Dinge einbezogen, aber das hat sie mir erzählt. Sie musste diese unbekannte Frau auf Wunsch ihres Mannes ausfindig machen. Warum, weiß ich nicht.«
»Wissen Sie, wo sie wohnt?«
»Sie ist im A & O abgestiegen. Sie kommt aus der Nähe von Düsseldorf. Franco hat vorgestern den Wagen gefahren, als die gnädige Frau sie abgeholt hat.«