26
Das Telefon klingelte. Nicht mein Handy, das in Reichweite auf dem Nachttisch lag, sondern der Hotelapparat auf dem gegenüberliegenden Schreibtisch. Ich musste aufstehen, wollte aber nicht. Ich schloss die Augen wieder und hoffte, dass der Anrufer aufgeben würde. Fehlanzeige. Der Klingelton dröhnte in meinen Ohren, wurde lauter und lauter. Ich fluchte. Es hörte nicht auf, und ich erhob mich.
»Ja?«, meldete ich mich.
»Die Rezeption. Hier ist ein Herr für Sie. Es ist wichtig, sagt er. Er ist schon unterwegs.«
»Bitte? Ich bin gerade erst aufgewacht! Was für ein Herr? Ich bin doch noch gar nicht …«
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Ich schaute an mir herunter. Außer einem alten ausgeleierten T-Shirt trug ich nichts. Es klopfte heftiger.
»Ja, Moment«, rief ich. Ein Herr? Wer sollte mich morgens besuchen kommen? Enrico, Franco – weitere Männer kannte ich nicht in Leipzig. Konnte ich denen diesen Anblick zumuten?
Ich beschloss, dass es mir egal sein konnte, und öffnete die Tür.
Weder Enrico noch Franco standen vor mir, sondern ein älterer grauhaariger Mann. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und guckte ihn fragend an. Dunkle Augen musterten mich.
»Frau Laumann? Jessica Laumann?«
Ich fröstelte. Er wusste doch von dem Hotelangestellten, dass ich hier wohnte. Was sollte die Frage?
»Wer sind Sie, und was wollen Sie von mir? Ich bin gerade erst aufgewacht. Muss mir etwas anziehen«, meckerte ich und wollte schon wieder die Tür schließen. Der Fuß des Unbekannten hinderte mich daran. Gleichzeitig hielt er mir einen Ausweis vor das Gesicht. »Kriminalpolizei«, las ich.
»Lorenz Staufenberg«, stellte sich der Fremde vor.
»Polizei? Ist etwas passiert? Oder hab ich etwas angestellt?«
»Lassen Sie uns das in Ruhe besprechen. Ziehen Sie sich etwas an, ich warte solange vor der Tür.«
Er zog die Tür hinter sich zu, und ich stand einen Moment orientierungslos im kleinen Flur meines Hotelzimmers. Anziehen, befahl mein Gehirn, und mein Blick fiel auf die Kleidung von gestern Abend, die ich zum Lüften über den Stuhl gehängt hatte. Egal, was mich dieser Kommissar fragen wollte, wir würden das in den Frühstücksraum verlegen. Ich griff zu Pulli und Jeans, roch daran und zog die Nase kraus, schlüpfte aber dennoch hinein. Im Bad wusch ich mir das Gesicht, fuhr mit den Fingern durchs Haar und sprühte mir ein wenig Parfüm hinters Ohr. Meine Schuhe standen gerade da, und ich schlüpfte hinein.
»Das ging aber schnell«, begrüßte mich der Kommissar. »Gehen wir doch in den Frühstücksraum.«
Es war kurz vor zehn Uhr, ich bezweifelte, dass wir noch etwas bekommen würden.
»Frau Laumann, ich weiß von Rosalia Sauer, dass Sie hier sind. Was ist Ihr Grund für den Besuch in Leipzig?«, begann er mich auf dem Flur zu verhören.
»Wenn Sie mit Frau Sauer gesprochen haben, wird Sie Ihnen auch das erzählt haben.«
»Ich würde es gern von Ihnen hören.«
»Ihr Mann liegt hier im Krankenhaus. Er wollte mich sehen. Daraufhin bin ich nach Leipzig gekommen.«
»Sie leben in der Nähe von Düsseldorf, sagte mir Elvira, die Köchin der Familie Sauer.«
Ich nickte. »Genauer gesagt in Neuss.«
»Fanden Sie diese Bitte nicht ungewöhnlich?«
»Es geht so. Herr Sauer wollte mir etwas Wichtiges mitteilen. Über meinen Vater. Nachher wollte ich ihn im St.-Barbara-Krankenhaus besuchen.«
»Daraus wird nichts.«
Wir hatten den Frühstücksraum erreicht, ich wollte mich gerade setzen. Sein letzter Satz ließ mich innehalten. »Wieso nicht? Natürlich werde ich gleich hingehen.«
Er blickte mich ernst an und sagte: »Herr Sauer ist tot.«
Ich blieb stehen, schaute nach der Kellnerin, die mir einen Kaffee bringen sollte.
»Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe, Frau Laumann?«
»Ja.« Meine Stimme klang ganz normal.
Dann erfolgte ein Schmerz im Fuß, und um mich herum wurde es schwarz.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden und sah meine nackten Füße gegen die orangefarbene Wand gelehnt. Mein erster Gedanke war, dass meine Fußnägel schmutzig waren. Ich krümmte die Zehen zusammen, damit es niemandem auffiel.
»Da sind Sie ja wieder. Haben Sie mich erschrocken. Hätten Sie mich nicht vorwarnen können? Kippen einfach um. Stellen Sie sich vor, ihr Kopf wäre gegen die Tischkante geschlagen, das hätte richtig schiefgehen können. Das war knapp.«
Er war aufgeregt, nervös, dieser Staufenberg. Schien sich wirklich Sorgen um mich zu machen. Die Kellnerin stand hinter ihm, gestikulierte wild, redete unaufhörlich.
»Geht schon.« Ich rappelte mich auf und nutzte dabei seinen Arm als Stütze.
»Wirklich?«
Ich nickte. Das war ein untrügerisches Zeichen, dass ich mich gefangen hatte – ich verfiel schon wieder in alte Muster. Nicken, den Kopf statt den Mund sprechen zu lassen. Sofort überkam mich erneut ein Schwindelgefühl.
»Es tut mir leid«, sagte er.
»Mir geht es gut«, erwiderte ich. »Ich hab nur zu wenig gegessen in den letzten Tagen.«
Ich setzte mich. Die Kellnerin hielt mir ein Schnapsglas vor die Nase. Der Geruch von Kümmel und Alkohol benebelte meinen Geist.
»Leipziger Allasch, ein Allheilmittel. Danach geht es Ihnen besser. Glauben Sie mir.«
Wider besseres Wissen nahm ich einen Schluck und spürte jeden Tropfen meine Speiseröhre entlanglaufen. Im leeren Bauch angekommen, verbreitete der Alkohol tatsächlich ein wohliges Gefühl.
»Wie ist er gestorben? Hat das Herz doch nicht mitgemacht? Es sah doch alles gut aus.«
»Er wurde erstickt.«
Ob Kriminalbeamte diesen Tonfall lernten? Gab es dafür vielleicht sogar Kurse? Einfühlsam. Seine Stimme stand im krassen Gegensatz zu dem Gesagten.
»Von wem?«, fragte ich. »Und wieso?«
»Das gilt es herauszufinden. Erklären Sie mir bitte genau, was er Ihnen sagen wollte. Und dann wüsste ich gern, was Sie gemacht haben, seit Sie in Leipzig sind.«
Völlig perplex schaute ich ihn an. Dann lachte ich laut auf. »Sie glauben, dass ich … aber nein, nicht wirklich, oder? Okay, ich war gestern Nachmittag kurz bei ihm im Krankenhaus, habe aber nichts von ihm erfahren. Dann bin ich in die Stadt. War in der Nicolaikirche. Abends hat mich Frau Sauer zum Essen eingeladen. Gegen halb zehn hat mich ein Taxi zurück ins Hotel gebracht. Für all das gibt es Zeugen. Der Taxifahrer kann sich bestimmt an mich erinnern. Irgendwo hab ich die Rechnung noch.«
Lorenz Staufenberg beobachtete mich aufmerksam, meine Hände und ihr Tun. Ins Gesicht schauen konnte er scheinbar nur bei der Mitteilung von Todesfällen.
»Was denken Sie, wollte Dr. Sauer Ihnen über Ihren Vater erzählen? Sie sind vierhundert Kilometer gefahren. Ahnen Sie, worum es gehen könnte? Hat Ihnen Ihre Mutter etwas erzählt? Mit ihr muss ich auch sprechen.«
»Das wird schwierig. Sie ist gestorben. Letzte Woche. Krebs.«
Einen Moment blieb es still.
»Leider hat sie mir nicht viel erzählt. Es gibt ein offizielles Schreiben, in dem steht, dass mein Vater, Erich Kummerer, 1983 im Krankenhausgefängnis hier in Leipzig gestorben ist. Ich bin davon ausgegangen, dass Dr. Sauer ihn kannte und mir vielleicht etwas über ihn erzählen kann. Gestern, als ich kurz bei ihm war, versuchte er noch etwas zu sagen, aber er war zu schwach. Die Schwester musste kommen, sie tat so, als hätte ich den Patienten aufgeregt. Dabei hab ich gar nicht mit ihm gesprochen.«
Die Kellnerin erschien neben mir, und ich bat um einen Kaffee. Dann erzählte ich weiter. »Mutter ist damals schwanger aus der DDR geflüchtet. Es war abgemacht, dass er ihr folgen sollte. Aber er wurde als Fluchthelfer verhaftet und hat das Gefängnis nicht überlebt.«
Das Gesicht des Kommissars wirkte maskenhaft, undurchdringlich. »Ihre Mutter stammt aus Leipzig? Und ihr Vater auch?«
Ich nickte. »Aber ich weiß kaum etwas über ihre Zeit hier. Meine Mutter ist in einem Heim aufgewachsen und hat nicht viel von sich und ihrem Leben vor meiner Geburt erzählt. Sie hat nie über die Vergangenheit gesprochen, und ich habe nicht gefragt.«
»Wie ist der Vorname Ihrer Mutter?«
»Christine.« Die Kellnerin stellte eine Kaffeetasse vor mich. »Aber ich hatte gestern im Krankenhauspark eine seltsame Begegnung.«
Ich berichtete von dem Gespräch mit dem älteren Patienten, der mir von dem kleinen Marienkäfer-Mädchen erzählt hatte. »Ich habe keine Ahnung, ob das Hirngespinste eines senilen alten Mannes sind. Aber sprechen wollte ich auf jeden Fall noch einmal mit ihm. Er liegt auch in diesem Krankenhaus. Brand heißt er, so hat ihn diese dicke Schwester angesprochen, als sie ihn draußen aufgespürt hat. Den Vornamen weiß ich nicht. Aber er hat von einer Christine gesprochen und dass ich ihr ähnlich sehe. Mich hat das beschäftigt. Ich frage mich noch immer, ob er vielleicht von meiner Mutter gesprochen hat. Das trifft alles zu. Nach dem Tod der Großeltern ist das Mädchen, das er meinte, in ein Heim gekommen. Das passt, meine Mutter ist auch ganz früh Waise geworden. Vielleicht ist das ein Hinweis. Können Sie da nicht nachfragen? Sie haben doch ganz andere Möglichkeiten. Stellen Sie sich vor, er könnte mir vielleicht von Mutters Vergangenheit erzählen.«
Ich schnappte nach Luft. Dieser ungewohnte emotionale Ausbruch erschöpfte mich. Der Kommissar ging nicht darauf ein. Ich schwieg. Zu viele Gedanken kreisten in meinem Kopf. Dann eben nicht, dachte ich.
»Eine Frage hab ich noch.« Etwas interessierte mich. So langsam funktionierte mein Verstand auch wieder.
»Ja?«
»Wie haben Sie festgestellt, dass er erstickt wurde?«
Der Kommissar schaute aus dem Fenster. »Zu dem jetzigen Zeitpunkt unserer Ermittlungen kann ich Ihnen noch nichts Genaues sagen. Ich vermute, dass sich jemand in den frühen Morgenstunden in das Krankenzimmer geschlichen und höchstwahrscheinlich ein Kissen auf sein Gesicht gepresst hat.«
»So einfach?«, staunte ich. »Warum hat niemand etwas bemerkt?«
»Die Frage haben wir uns auch schon gestellt. Ich habe keine Antwort. Noch nicht.«
»Als seine Frau mich vor ein paar Tagen anrief, sagte sie, er läge im Sterben. So schlimm war es dann aber wohl doch nicht. Und jetzt ist er tot. Ironie des Schicksals.«
Ich nahm einen Schluck Kaffee. Angewidert verzog ich das Gesicht. Er war kalt und ungenießbar. Schlimmer als kalter Kaffee war für mich, wenn Kaffee in einer Glaskanne stundenlang auf der Heizplatte der Maschine warm gehalten wurde.
»Wie lange bleiben Sie in Leipzig, Frau Laumann?«
»Möchten Sie, dass ich bleibe? Darf ich die Stadt nicht verlassen? Steh ich auf der Liste der Verdächtigen?« Spöttisch sah ich ihn an.
»Ich werde mich sicher noch einmal mit Ihnen unterhalten müssen. Das ist einfacher, wenn Sie vor Ort sind.« Er stand auf, nahm seine Jacke und reichte mir die Hand. »Für heute reicht es. Es tut mir sehr leid. Vielleicht kann ich etwas über Ihren Vater herausfinden. Oder sogar erfahren, was Herr Sauer Ihnen mitteilen wollte. Ich gehe bald in Pension, und wenn es keine Staatsgeheimnisse sind, werde ich es Ihnen gern verraten.«
Der Kommissar nickte kurz mit dem Kopf – das machte ihn für mich auf Anhieb sympathisch – und drehte sich um. Dann plötzlich hielt er inne. »Was halten Sie davon, wenn wir diesen Herrn Brand gemeinsam aufsuchen? Ich stelle die Fragen, Sie hören zu. Wir erfahren beide etwas.«
Irritiert schaute ich ihn an. »Warum nicht?«, erwiderte ich langsam. »Wann?«
»Machen Sie sich fertig, dann nehme ich Sie mit. Ich warte solange hier und frühstücke.«
»Das ist eine gute Idee«, sagte ich und lief aus dem Frühstücksraum, hinauf in mein Zimmer.
Ich beschloss, unter die Dusche zu springen, und putzte mir auch dort die Zähne. Dann schlüpfte ich in ein Paar neue Jeans, ein weißes T-Shirt und einen grauen Pullover. Der Einfachheit halber band ich mir einen Pferdeschwanz und zog feste Schuhe an. Ich brauchte keine Viertelstunde, bis ich wieder im Frühstücksraum war. Der Kommissar biss gerade in ein Körnerbrötchen und bat mich, Platz zu nehmen. »So viel Zeit muss sein.«
Die Kellnerin stellte ein Glas frisch gepressten Orangensaft vor mich hin, und der Kommissar schmierte mir ein halbes Brötchen. Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal so verwöhnt worden war.
»Essen Sie, Sie können es vertragen. Wer weiß, was noch alles passiert.«
Ob die Formulierung Absicht war? Was erwartete er noch? Oder war man als Kommissar immer darauf vorbereitet, dass etwas passierte? Die seltsamsten Gefühle wechselten sich in mir ab, nur Hunger verspürte ich keinen.
»Wie haben Sie die Kellnerin dazu gebracht, noch Frühstück zu reichen? Die Zeit ist doch vorbei«, fragte ich.
Er hob lachend seinen Dienstausweis in die Höhe.
Plötzlich zuckte ich zusammen. Da war er wieder. Wie immer, wenn ich emotional stark belastet war, schmerzte mein rechter Fuß. Der Arzt sprach von einer Art Phantomschmerz. Eine logische Erklärung gab es dafür nicht. Seit Jahren war der Arzt mit der Entwicklung meines Fußes zufrieden. Doch jedes Mal, wenn ich mich aufregte oder in stressige Situationen geriet, gab es diese durchdringenden Schmerzen.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte Staufenberg.
Ich schüttelte den Kopf. »Nichts«, antwortete ich und biss in das Brötchen. »Mmh, Teewurst. Habe ich schon ewig nicht mehr gegessen.«
Wir lachten uns an. Wir verstanden uns.