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Lorenz Staufenberg setzte sich hinter das Steuer einer dunkelblauen Limousine. Es war ein seltsames Gefühl, in einem Polizeiwagen zu sitzen, auch wenn es ein Zivilfahrzeug war. Ich berichtete dem Kommissar noch einmal, was mir Brand erzählt hatte. Von Motschegiebschen. Staufenberg kannte den Ausdruck und lachte, als er ihn hörte: »Marienkäfer, ja man sieht fast ein kleines Mädchen in einer roten Strickjacke vor sich, wenn man das hört.«

Ich schloss die Augen und hing Tagträumen und Gedanken nach. Ich stellte mir vor, ich wäre das Kind, das mit einer roten Strickjacke über eine Wiese lief. Aber ich war kein Marienkäfer, schon gar kein Motschegiebschen. Ich war Jessica Laumann, die Analytikerin, die Kluge. Die, die gut rechnen konnte, und die, die Chemie und Physik spannend fand. Die, die selten rausging, mit anderen Kindern nichts anfangen konnte und lieber las. Die, für die Nähe bedrohlich wurde und die sich an keinen Kosenamen gewöhnen konnte.

Fairerweise musste ich zugeben, dass auch ich für niemanden einen Spitznamen hatte. Mutter war Mutter. Weder Mama, Mutti und schon gar nicht Mami. Gerda war immer Gerda. Nähe, Körperkontakt – Fehlanzeige. Bei jedem Versuch, mir sanft über den Kopf zu streichen, wurde ich steif wie ein Brett. Ich wollte keine Nähe. Das war mein gutes Recht.

Der Kommissar fuhr langsamer. »Halten Sie mal mit die Augen nach einem Parkplatz auf. Wäre schön, wenn wir in der Nähe des Eingangs parken könnten.«

Noch bevor ich antworten konnte, war er fündig geworden. Ich stieg aus und atmete tief ein. Staufenberg verfolgte jede meiner Bewegungen. Das irritierte mich, doch ich wusste nicht, ob es mich belustigte oder bedrohte.

Die Eingangstüren schoben sich auseinander, als wir auf sie zutraten, und wir liefen zielstrebig zur Information. Der Kommissar gab mir mit einer beinahe unsichtbaren Geste zu verstehen, dass ich fragen sollte. Diesmal saß ein Mann hinter der Glasscheibe. Ich grüßte und fragte, wo Herr Brand liege.

»Kennen Sie seinen Vornamen?«

Ich verneinte.

»Dann kann ich Ihnen nicht helfen.« Er biss in sein Butterbrot.

Ich wartete. Er kaute genüsslich, schaute mal hier-, mal dahin. Nur nicht zu mir. Ich wurde wütend.

»Guter Herr«, begann ich mit freundlicher Stimme, »wie wäre es denn, wenn Sie trotzdem mal nachschauen würden? So viele Herren mit Namen Brand, die älter als sechzig Jahre sind, wird es ja wohl nicht geben.«

Meine Stimme klang zuckersüß. Gefährlich süß. Der Mann legte sein Brot zur Seite und schaute mich böse an. Ein Krümel am rechten Mundwinkel irritierte mich, meine Augen wanderten ständig dorthin. War das Ei? Ein Blick zu seinem Brot: tatsächlich gekochte Eier.

»Immer mit der Ruhe. Ich ess erst mal meine Bämme. So viel Zeit muss sein, Mädchen.«

Bämme? Den Ausdruck kannte ich nicht. Stulle, Kniffte, Bütterken, Brotzeit – aber Bämme? Musste ein typisch sächsischer Ausdruck sein. Ich schaute hilfesuchend zu Lorenz, der sich ein Lachen kaum verkneifen konnte. Von ihm war keine Hilfe zu erwarten.

Ich drehte mich um und zischte: »Ich habe nicht ewig Zeit. Herr Brand wartet auf mich.«

Warum schritt der Kommissar nicht ein? Was bezweckte er mit diesem Theater? Ich wurde wütend. Er wäre mit seinem Dienstausweis viel schneller ans Ziel gelangt.

In diesem Moment erklang eine bekannte Stimme hinter mir. »Na, Manfred, wieder essen während der Arbeitszeit? Sie wissen, was der Chef davon hält.«

Dass die Oberschwester in diesem Moment hier auftauchte, hielt ich für einen Wink des Schicksals. Ein erneuter Blickkontakt, doch Staufenberg ließ mich machen.

»Wie schön, Sie hier zu treffen!« Ich konnte ja herzlich sein, wenn ich wollte. »Sie erinnern sich sicher nicht, aber ich habe mich gestern mit Herrn Brand im Park unterhalten, als Sie dazukamen und ihn zur Untersuchung abholten. Ich wollte mich erkundigen, wie es ihm geht.«

Abschätzend betrachte sie mich. Angefangen bei meinen Haaren über meine Handtasche bis zu den Schuhen. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten.

»Sie sind eine Verwandte?«, fragte sie.

»Nein, wir haben uns gestern zufällig getroffen und sind ins Gespräch gekommen. Er schien mir sehr einsam, und ich dachte, es gefällt ihm, wenn ich ihn besuche.«

»Wie ist Ihr Name?«

Was geht Sie das an?, fragte ich mich, antwortete aber dennoch brav: »Laumann, Jessica Laumann.«

Wieder dieser abschätzende Blick. »Frau Laumann, es tut mir leid, es Ihnen sagen zu müssen. Herr Brand ist gestorben. Er hat die Operation nicht überlebt. Sein Körper wollte nicht mehr. Der Krebs war weit fortgeschritten. Endstadium.

Jetzt wurde Lorenz Staufenberg doch noch aktiv. Er zog seinen Dienstausweis aus der Tasche.

Ich mutierte zum Beobachter. Noch ein Toter, dachte ich. Wieder einer weniger, der mir etwas über meine Vergangenheit sagen konnte. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass diese Vorfälle mit mir zu tun hatten? Ich schüttelte den Kopf. Alles nur Zufall. Ich interpretierte zu viel in die Geschehnisse, bezog sie alle auf mich. Eine fremde Erfahrung.

Ich stand starr, beobachtete die Krankenschwester und den Kommissar und fühlte mich leer. Ich sah, wie die beiden weggingen, überlegte, was ich tun sollte, und folgte mit ein paar Metern Abstand. Rechts, links. Ich konzentrierte mich darauf, die Füße nacheinander im gleichen Abstand auf den Boden zu setzen. Das Ziel war ein Schwesternzimmer im ersten Stock.