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Der Kommissar hatte die Oberschwester gebeten, sich um mich zu kümmern. Ich wollte nicht. Doch ich hatte keine Chance. Ein Blick der resoluten Frau reichte, um zu erkennen, dass ich mich in einem Ausnahmezustand befand. Sie geleitete mich in die Cafeteria, besorgte mir ein Glas Wasser und setzte sich zu mir.

»Geht’s wieder? Sie kannten Herrn Brand doch gar nicht, oder?«

Ich nickte, um die erste Frage zu bestätigen. Dann schüttelte ich den Kopf, um die zweite zu verneinen. Sie änderte die Taktik.

»Was haben Sie nun vor? Soll ich Ihnen ein Taxi bestellen, das Sie nach Hause bringt?«

Das war eine gute Frage. Nach Hause? Zu Gerda? Nein, nicht zurück nach Neuss. Ich war hier und wollte herausfinden, was es für ein Geheimnis um meinen Vater gab.

»Haben Sie Dr. Sauer betreut?«, fragte ich.

Schwester Bertha sah mich nachdenklich an. »Nicht direkt, aber natürlich kannte ich ihn. Warum fragen Sie?«

»Er ist auch tot.«

Ich nervte sie, das sah ich ihr an. Aber sie ging nicht auf mich ein.

»Ihnen geht es wirklich gut? Dann lass ich Sie jetzt allein«, sagte sie stattdessen und stand auf.

»Ja, natürlich. Danke.«

Ich blieb sitzen und überlegte, was ich nun tun könnte. Mit der Straßenbahn ins Hotel fahren wäre eine Möglichkeit. Doch die Aussicht auf viele Menschen und Gedränge schreckte mich ab. Mir fiel der nette Taxifahrer ein. Ich kramte in meiner Handtasche nach der Visitenkarte.

Ich schaute der Schwester nach, wie sie mit schnellen Schritten verschwand. Erst dann suchte ich mein Handy, überlegte einen Moment, verwarf die Bedenken und rief an.

Erst als ich im Taxi saß, erkannte mich der Fahrer. »Haben Sie es sich überlegt? Wollen Sie doch eine Stadtrundfahrt?«

Er lachte mich an, und in diesem Moment dachte ich: Warum eigentlich nicht? Allein im Wagen zu sitzen, einem fremden Menschen zuhören, ohne selbst viel reden zu müssen – das klang herrlich.

»Wenn Sie Zeit haben?«

Er rieb sich die Hände und schaute mich freudestrahlend an. »Ich zeig Ihnen mein Leipzig, es ist eine wunderbare Stadt! Übrigens, mein Name ist Thomas Walter.«

Er fuhr mitten auf den Marktplatz, ich blieb im Wagen sitzen, und er erklärte mir die Kaufmannsstadt Leipzig. Wie alles begann, wie diese Stadt es geschafft hatte, ein Ort von Weltformat zu werden. Fasziniert hörte ich ihm zu, und es blieb nicht aus, dass er mich fragte, was mein Grund für den Besuch sei. Mich fremden Menschen anzuvertrauen kam mir falsch vor. Auch wenn ich den Mann sehr sympathisch fand, konnte ich nicht über meinen Schatten springen. Ich sagte, dass ich wegen einer Familiengeschichte hier sei. Er lächelte.

»Familien schreiben die komischsten Geschichten, nicht wahr? Wenn Sie Leipzig nicht kennen, haben Sie die Person viele Jahre nicht gesehen, oder?«

Ich lächelte zurück, das musste als Antwort reichen. Mir fehlte die Lust, mehr zu erzählen. Das Reden überließ ich ihm. Und das machte er wirklich gut. Er brachte mir die Geschichte der Stadt nahe, zeigte mir einen der ersten Schrebergärten Deutschlands, und ich bat ihn anzuhalten. Ich stieg aus und dachte an den netten Herrn Brand.

Der Taxifahrer erzählte mir von einem gewissen Moritz Schreber, und mich faszinierte, dass die Geschichte der typisch deutschen Schrebergartenkultur hier in Leipzig ihren Anfang gefunden hatte.

Es ging weiter bis zur russischen Kirche. Er fuhr verkehrt herum in die Einbahnstraße und hielt rechts vor der Kirche. »Die müssen Sie sehen«, erklärte er mir.

Ich stieg aus, während er einen Parkplatz suchte. Ein Zettel an der Tür der Kirche erklärte, dass sie erst wieder in einer Stunde geöffnet werden würde. Herr Walter zuckte mit den Schultern und grinste. »Es gibt noch mehr zu besichtigen.«

Ich stieg wieder ein, dieses Mal auf den Beifahrersitz, und wir fuhren zum Völkerschlachtdenkmal. Ich hielt die Luft an, als er mal wieder eine rote Ampel ignorierte. Für Taxis, zumindest für das von Thomas Walter, galten in Leipzig andere Verkehrsregeln. Er hielt plötzlich an, und noch im Auto begann er, die Geschichte des Denkmals zu erzählen.

Ich stieg aus und nahm die Landschaft in mir auf. Die Sonne schien, alles wirkte friedlich. Bäume, Rasen – so viel Grün. Einige Touristen hielten sich am Fuße des Denkmals auf, andere sah ich die Treppen innerhalb des Mahnmals emporsteigen. Mit dem Wasser vor dem Bauwerk hätte es ein romantischer Ort sein können, doch alles wirkte zu groß. Zu angsteinflößend und martialisch hässlich.

»Hier hat sich vorgestern eine junge Frau hinuntergestürzt, habe ich gehört«, sagte ich.

»Ja, ich weiß, ich habe es auch gelesen. Sie war sofort tot. Es war und ist immer wieder ein Ort für Selbstmörder. Wollen Sie hoch? Zumindest rein? Sie sollten sich die Ruhmeshalle ansehen.«

Ich schaute hinauf, auf das Monument der Geschichte, fühlte mich klein und mickrig. Und dachte an den Tod. Niemals zuvor war ich so häufig mit Sterben konfrontiert gewesen wie in den letzten Tagen. Ich schüttelte den Kopf. Nein. Ich wollte diesen Ort nicht erleben.

Der Taxifahrer nahm es gelassen und erzählte weiter über seine Stadt. »Kennen Sie die Gothic-Szene? Die treffen sich einmal im Jahr hier. Ganz klein haben sie 1992 angefangen, damals waren es vielleicht eintausendfünfhundert Leute. Alle schwarz. Aber so düster sind die gar nicht. Beschäftigen sich nur mit Tod. Der gehört ja zum Leben dazu.«

Schon wieder Tod.

»Dieses Jahr werden zwanzigtausend Besucher erwartet. Dann müssen Sie mal hierhin kommen. Das Picknick im Clara-Zetkin-Park ist ein Highlight. Das heißt jetzt aber nicht mehr nur Gothic, sondern Wave-Gothic, aber wie die es nun nennen, ist mir ja egal. Da können Sie Gestalten und Verkleidungen sehen – vom Feinsten. So was geht hier in Leipzig. Keine Krawalle, einfach nette Leute, gute Stimmung. Vielleicht ein bisschen unheimlich, wenn so viele Menschen in schwarzer Kleidung in der Stadt herumlaufen. Aber wie gesagt, der Tod gehört zum Leben dazu.«

Damit hatte er ja recht. Tod und Leben waren unzertrennlich miteinander verknüpft.

»Bringen Sie mich ins Hotel?«, bat ich ihn.

»Ich rede zu viel, nicht wahr? Das sagt meine Frau auch immer.«

»Nein, nein«, beeilte ich mich zu erwidern. Ich wollte ihn nicht kränken. »Ich bin nur müde. Es war ein anstrengender Tag.«

Ich zahlte den vereinbarten Preis, und er brachte mich zurück zum A & O.

»Wenn Sie noch mehr wissen wollen, rufen Sie an. Ich mach das gern.«

Eine halbe Stunde später lag ich auf dem Bett und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Mein Vater, meine Mutter, Herr Brand, Gerda, Sauer, der Kommissar – alle tauchten auf. Ich träumte von Marienkäfern, die schwammen und fortflogen, als ich mich näherte. Dann verwandelte sich der Marienkäfer in einen Hai mit riesigen Zähnen. Dabei machte er seltsame Geräusche, die ich kannte, aber nicht verstand. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass mein Handy klingelte.