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Die Nacht war unruhig für Staufenberg gewesen. Bereits gegen fünf Uhr früh stand er auf. Ausnahmsweise war er am Abend rechtzeitig ins Bett gegangen und nicht im Fernsehsessel eingeschlafen. Er wollte für die Untersuchung ausgeruht sein. Trotzdem fühlte er sich wie erschlagen. Heute war es so weit. Der Tag, den er im Kalender rot umrandet hatte. Ein Termin, den er zweimal verschoben hatte. Aus Angst. Vor der Untersuchung, vor den Ergebnissen. Dieser Facharzt, Richter, hatte ihn informiert, dass er Gewebeproben entnehmen würde. Ein paar Tage müsste er bis zu den Ergebnissen warten.
Um acht Uhr sollte er in der Praxis sein. Natürlich nüchtern. Keinen Tee, keinen Kaffee. Er fragte sich, wie er die drei Stunden bis dahin überstehen sollte. Nachdem er seine Morgentoilette erledigt hatte und angezogen war, setzte er sich an den Küchentisch. Im Radio, das leise im Hintergrund vor sich hin dudelte, lief ein Schlager über die Liebe. Staufenberg blendete den Text aus und notierte stattdessen ein paar Gedanken zum aktuellen Fall. So langsam gewöhnte er sich an die vermutete Existenz eines Todesengels. Gleichwohl zählte er den Tod Sauers nicht zu dessen Taten.
Oder diese Morde hatten eine ganz andere Bedeutung. Vielleicht waren die Hinweise auf den Todesengel ein Ablenkungsmanöver, um den Mord an Sauer zu vertuschen? Auch wenn Staufenberg in seiner gesamten Laufbahn zugegebenermaßen noch nie so ein plumper Versuch untergekommen war. Allerdings würde er dann eine Mittäterschaft, zumindest Mitwisserschaft, von Claas Saale nicht ausschließen können. Natürlich war es ebenso gut möglich, dass jemand aus dem Umfeld des Instituts etwas gegen den Doktor gehabt hatte.
Doktor – da war es wieder. Dieses Magendrücken, das leichte Brennen und Unwohlsein. Staufenberg schaute auf die Uhr und erschrak. Noch eine Stunde bis zu seinem Termin, es wurde Zeit. Er legte die Notizen zur Seite, schaute noch einmal in den Spiegel. Ich hätte mich auch rasieren können, dachte er. Doch dafür war es nun zu spät.
Ein paar Minuten später stand er auf der Straße und machte sich auf den Weg. Eine halbe Stunde Fußweg hatte er überschlagen. Das würde ihn, so hoffte er, beruhigen. Er betrachtete jedes Blumenbeet, jeden Briefkasten, als würde er ihn das letzte Mal sehen. Selbst die Nachbarin von schräg gegenüber, eine dicke, bösartige Frau, bedachte er mit einem Lächeln, als sie mit grimmiger Miene ihre Mülltüten entsorgte. Staufenberg erkannte Glas, Plastik, alles in einem Beutel. Keine Mülltrennung. Er hatte sie ertappt. Deshalb ihr griesgrämiger Gesichtsausdruck.
Als er an der Bäckerei vorbeiging und ihm der Duft frisch gebackener Brötchen in die Nase stieg, knurrte sein Magen. Er schloss eine Wette mit sich selbst ab: Wenn er die Magenspiegelung gut überstehen würde und die Gewebeproben unauffällig wären, würde er seine Ernährung komplett umstellen. Obst und Gemüse statt Pommes und Schokolade.
Die Sprechstundenhilfe begrüßte ihn lächelnd. »Guten Morgen, Herr Staufenberg. Sie sind aber früh dran. Zur Gastroskopie, oder?«
»Magenspiegelung«, antwortete Staufenberg leise.
»Ja, ja, sag ich ja. Sie sind allein? Sie sollten doch eine Begleitperson mitbringen. Sie dürfen nach dem Eingriff nicht Auto fahren. Ihnen wird ein Beruhigungsmittel gespritzt. Wie wollen Sie denn wieder nach Hause kommen? Sie sollten nicht allein sein.«
Ich bin mein ganzes Leben allein, wollte er antworten. Stattdessen sagte er: »Es ist alles geregelt, ich werde nachher abgeholt.« Dass ihn ein Taxi ins Präsidium fahren würde, müsste diese Person nicht wissen.
Seine Hände wurden feucht, als er im Behandlungsraum Platz nahm. Der Arzt kam, warf einen Blick in seine Akte und erklärte ihm noch einmal die Vorgehensweise. Eine Helferin besprühte seinen Rachen, jemand setzte eine Spritze, und Staufenberg dachte an den Todesengel. Wie durch einen Nebel vernahm er die Stimme des Arztes und war ganz überrascht, als die Untersuchung schon wieder zu Ende war.
»Wir schicken die Proben ein. Eigentlich sieht es ganz gut aus, ich konnte nichts Abnormes entdecken. Trotzdem kann immer noch …« Er brach den Satz ab. »Ich will Ihnen ja keine Angst machen. Aber Sie können natürlich mit einer gesunden Lebensweise viel zu Ihrer Gesundheit beitragen. Treiben Sie Sport? Ach, ich will gar keine Lügen hören. Sie bleiben jetzt noch hier für eine gute halbe Stunde liegen, und dann können Sie abgeholt werden.«
»Mir geht es gut, ich brauche keine halbe Stunde Ruhe.« Staufenberg stand auf und setzte sich direkt wieder hin. Seine Knie gaben nach, sobald er sie belasten wollte.
Die Schwester lächelte nachsichtig. »Das glauben alle Patienten. Vor allem die männlichen. Bleiben Sie liegen. Ich hole Sie gleich ab. Wenn Sie zur Toilette müssen, rufen Sie, damit ich Sie begleiten kann.«
So weit kommt es noch, dachte Staufenberg und schloss die Augen.