31

»Sie erwartet uns. Soll ich dich abholen?«

Im ersten Moment wusste ich nicht, wer mich anrief. Ich erkannte weder die Stimme, noch fiel mir ein, wer sich mit mir verabreden wollte. Ich schaute auf die Uhr. Fast neun. Nach der gestrigen Stadtrundfahrt hatte ich mich aufs Bett gelegt und bis jetzt durchgeschlafen. Ungläubig schüttelte ich den Kopf und versuchte, mit mehrmaligem Blinzeln die Müdigkeit zu vertreiben. Dann fielen mir Tanja und ihre Freundin Elke ein. Und die Tante.

»Guten Morgen, Tanja. Gib mir eine halbe Stunde. Dann komm ich an die Straße.«

Ich schaffte es in zwanzig Minuten. Tanja begrüßte mich mit einer Umarmung, und ich stieg in ihr Auto.

»Dann wollen wir mal. Ich habe ein paar Gebäckstücke besorgt. Für dich Leipziger Lerchen. Schön, dass du mitkommst.«

Die Tante war mir auf den ersten Blick sympathisch. Im Gegensatz zu Elkes Mutter war sie kaum geschminkt. Falls doch, sah ich es zumindest nicht. Wir saßen um den Küchentisch herum. Die mitgebrachten Teilchen standen auf dem Tisch und warteten darauf, verzehrt zu werden.

»Sie sind also Freunde von Elke?«, sagte die Tante. »Ich freue mich, dass ich Sie beide kennenlerne. Leider hat sie nie etwas über Sie erzählt. Sie war sehr verschlossen.«

»Das hast du nett ausgedrückt.« Elkes Mutter nuschelte. Sie klang angetrunken, aber ich konnte nirgendwo Alkohol entdecken.

»Ich habe Elke in einem Kino kennengelernt.«

»Wer geht schon allein ins Kino? Zu meiner Zeit hat man da ganz andere Dinge gemacht, als einen Film anzuschauen.« Ein kehliges Lachen erklang.

Offensichtlich war Miriam Schönherr das Verhalten ihrer Schwester peinlich. »Rebecca, leg dich doch einen Moment hin. Du schläfst so schlecht in letzter Zeit, da kann ein Mittagsschläfchen nur gut für dich sein.«

»Willst mich wohl loswerden, was? Aber das haben schon ganz andere versucht, das gelingt dir nicht!« Sie schüttete sich aus einer kleinen silbernen Flasche etwas in die Kaffeetasse.

»Rebecca, es ist früher Morgen, ich bitte dich! Du hast noch nicht einmal etwas gegessen.«

»Na und? Ist doch mein Leben. Niemand hat mir da hineinzureden.« Ihr Lallen wurde stärker.

»Komm, Rebecca, bitte. Du wirst sehen, nach einem kleinen Schläfchen geht es dir viel besser.«

Völlig unerwartet ließ sich die angetrunkene Frau aus dem Zimmer führen.

»Ich komme gleich wieder«, flüsterte Miriam Schönherr uns zu, bevor sie ihre Schwester aus dem Raum begleitete.

»Sieht aus, als plagten sie Gewissensbisse wegen ihrer Tochter«, sagte ich, »das passt gar nicht zu dem, was du mir erzählt hast.«

Bevor Tanja antworten konnte, kam Frau Schönherr, die Nette, wie ich sie in Gedanken nannte, wieder herein.

»Man kann meiner Schwester viel nachsagen, aber sie ist eine Mutter, die ihr Kind verloren hat. Jeder trauert anders.« Sie nahm wieder Platz und wandte sich an mich. »Wo haben Sie denn Elke kennengelernt? Es ist unschwer zu überhören, dass Sie nicht von hier sind.«

Ich lächelte. »Nein, Sie haben richtig festgestellt, ich komme aus Neuss. Ich wollte hier jemanden besuchen.«

»Familie? Entschuldigen Sie, wenn ich zu neugierig bin.«

»Nein, es ist etwas komplizierter.«

In kurzen Sätzen erklärte ich ihr meine Familiengeschichte. Tanja brannte darauf, den Rest zu erzählen.

»Und stellen Sie sich vor: Jessica kommt hierhin, um einen geheimnisvollen Mann kennenzulernen, der ihr mehr über ihren Vater erzählen kann. Und kurz bevor sie ihn besuchen kann«, sie machte eine dramaturgische Pause, »stirbt er. Ist das nicht tragisch?«

Mir war das peinlich. Zum Glück hatte ich ihr nicht erzählt, dass auch Mord nicht ausgeschlossen wurde. So viel Aufmerksamkeit wollte ich gar nicht haben, schließlich waren wir wegen Elke hier.

Miriam Schönherr beteuerte, wie leid ihr das täte, und goss jedem eine Tasse Kaffee ein. »Dann sind Sie völlig allein? Haben Sie Geschwister?«

Ich verneinte.

»Einsamkeit kann schlimm sein«, sagte sie, stellte ein Tellerchen mit Einmalportionen Kaffeesahne und einen Zuckerstreuer in die Mitte des Tisches und setzte sich wieder. Die Leipziger Lerchen blieben unberührt. Mir knurrte der Magen, doch ich wollte nicht als Erste zugreifen. Es kam mir irgendwie nicht richtig vor.

»Ich fühle mich schuldig an Elkes Selbstmord. Ich hätte merken müssen, was sie vorhat. Wir haben oft geredet, aber scheinbar nie über ihre wahren Gefühle.«

Sie nahm die Zuckerdose, schüttete zweimal kräftig und rührte gedankenverloren in ihrer Tasse herum. Das Schaben des Löffels über den Porzellanboden klang zu laut in meinen Ohren, und ich hoffte inständig, dass sie aufhören würde. Sie stoppte das Rühren nicht, schaute weiter in die Tasse, als könne sie dort etwas sehen.

»In welchem Film waren Sie?«

Mir war nicht klar, was sie meinte, doch Tanja antwortete sofort. »Eine romantische Komödie. Mit Happy End.«

»Ja, so etwas mochte sie. Früher bin ich häufig mit ihr ins Kino gegangen. Sie mochte den ›Filmpalast‹, während ich lieber in die ›Passage‹ ging. Dann hab ich den neuen Job angefangen, und ich hatte keine Zeit mehr.«

Es wurde wieder still. Mein Magenknurren war deutlich zu hören.

»Ach du meine Güte. Sie haben Hunger. Ich hol schnell ein paar Teller. Sehr nett, dass Sie etwas mitgebracht haben, auch wenn ich gar keinen Appetit habe. Wir hätten auch gar nichts dagehabt. Aus Gewohnheit. Elke hat immer alles aufgegessen, sofort und alles auf einmal. Sie hat mit Essen, speziell mit den Mengen, ein Problem. Hat alles in sich hineingestopft. Ich wollte ihr helfen und habe nie auf Vorrat, sondern immer nur für eine Mahlzeit eingekauft. Ich bin in unserer Wohngemeinschaft für den Einkauf zuständig. Meine Schwester ist keine Hausfrau.«

Ich behielt meine Meinung für mich und fragte mich nur im Stillen, wofür sie überhaupt zuständig sein sollte.

»Warum hat Elke so viel gegessen? Warum konnte sie nicht aufhören? Hat sie mit Ihnen darüber gesprochen?«, fragte Tanja.

»Nein, nicht wirklich. Sie fühlte sich unwohl, aber in der letzten Zeit hatte ich das Gefühl, dass sie besser mit allem zurechtkam. Sie hatte sich für den Bundesfreiwilligendienst beworben und eine Zusage bekommen. Es war schön zu sehen, dass sie Zukunftspläne machte. Sie hat auch erzählt, dass sie eine eigene Wohnung suche. Hat ein großes Geheimnis darum gemacht. Ich wusste nur, dass sie nicht allein wohnen wollte. Ich hab gedacht, sie hätte einen Freund gefunden, und mich riesig für sie gefreut. Wurde ja auch Zeit, Elke ist dreiunddreißig. Aber Genaues weiß ich nicht, denn so etwas durfte ihre Mutter nicht mitbekommen. Sie hätte sich nur lustig darüber gemacht.«

»Das Verhältnis zwischen den beiden war nicht gut, oder?«

»Nein. Es war schwierig, aber ich kann irgendwie auch Rebecca verstehen. Sie ist, was Männer angeht, sagen wir mal … sehr leichtsinnig. War sie schon immer. Elke war ein Produkt aus so einer Liaison. Als er wusste, dass er Vater wird, hat er sich aus dem Staub gemacht. Dann kamen eine Menge Kerle, deren Gesichter und Namen ich mir gar nicht erst gemerkt habe. Rebeccas nächste große Liebe war Elkes Trainer. Es schien alles rosig. Sie hat große Pläne gemacht, wenn Elke dann mal berühmt wäre. Na ja, und dann hat Elkes Körper nicht mitgemacht. Alle Träume lagen in Trümmern. Georg hat sich nicht mehr gemeldet. Seitdem macht Rebecca Elke für ihr verpfuschtes Leben verantwortlich. Das hat sie ihr nicht verziehen. Nie.«

»Wenn er es doch nur auf den Erfolg ihrer Tochter abgesehen hat, war er es ja wohl nicht wert, und sie sollte froh sein, dass sie ihn losgeworden ist!« Ich war empört. Außerdem war mir das Verhalten von Elkes Mutter unbegreiflich. »Lebt er noch? Was macht dieser Georg heute?«

»Georg Hille. Ja, er lebt noch immer in Leipzig. Hat Karriere gemacht. Früher war er am FKS beschäftigt.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »FKS

»Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport. Es war eine wissenschaftliche Einrichtung an der Hochschule für Körperkultur, hier in Leipzig. Dort wurden die Sportler betreut und beraten, wie sie ihren Körper am besten trainieren, um die Konkurrenz abzuhängen. Nach der Wende hat er mit einem Kollegen ein Gesundheitsinstitut in Leutsch eröffnet. Ein ganz nobles Ding, und es scheint gut zu laufen. Ab und zu sehe ich ihn in Zeitschriften abgebildet, wenn er mit Dr. Sauer eine Spende an ein Kinderheim übergibt. So als könnte er kein Wässerchen trüben.«

Ich schnappte nach Luft. »Dr. Sauer?«

»Ja, in Leutsch befindet sich diese Privatklinik. Haben sich auf so komische Kurse und Behandlungen für reiche Manager spezialisiert. Scheint ja gut zu gehen. Obwohl, da fällt mir ein, dass dieser Sauer gerade erst gestorben ist.«

Tanja begriff plötzlich, was mich so schockierte. »Ist das …?«, fragte sie, und ich konnte nur mit dem Kopf nicken.

»Ja.«

Mehr sagte ich nicht. Mein Verstand arbeitete wieder. Gab es hier Verbindungen? Der verstorbene Herr Brand hatte von Leistungssport gesprochen. Meine Mutter war laut seiner Aussage eine gute Sprinterin gewesen. Das konnte doch alles kein Zufall sein!

Wir tranken noch einen Kaffee und schwiegen einen Moment. Tanja durchbrach die Stille plötzlich: »Wie haben Sie das gemeint, dass Sie für Elkes Tod verantwortlich sind?«

Tanjas Stimme war zu laut, die Frage zu direkt. Es klang, als habe sie die ganze Zeit überlegt, wie sie sie am geschicktesten stellen sollte, und dann den richtigen Moment verpasst. In meinen Mund hatte ich gerade einen Bissen des Mürbeteiggebäcks und verschluckte mich. Niemand klopfte mir auf den Rücken oder reichte mir ein Glas Wasser. Tanja und Elkes Tante schauten sich in die Augen, bis Miriam den Blick senkte. Dann stand sie langsam auf und ging zur Kaffeemaschine. Sie blieb, ohne ihre Tasse oder unsere aufzufüllen, regungslos stehen, beide Arme auf der Arbeitsplatte aufgestützt. Ich unterdrückte einen Hustenreiz.

»Wir führten eine Diskussion. Über das Sterben. Es erscheint mir jetzt makaber. Aber ich sagte ihr, dass ich nicht leiden wollte. Wenn ich merken würde, dass mein Leben nicht mehr lebenswert wäre, würde ich mir das Leben nehmen. Was bleibt denn, wenn man ein Wrack ist und niemand einen liebt?«

Sie drehte sich um, blickte uns abwechselnd an. »Ich hab dabei an die vielen alten einsamen Menschen gedacht, aber sie hat meine Worte wohl auf sich selbst bezogen. Sie hat sich nichts anmerken lassen und aß einfach weiter. Nie wieder hat sie das Thema angeschnitten. Aber als ich erfuhr, dass sie sich vom Völki gestürzt hat … Es war, als hätte ich neben ihr gestanden und ihr den tödlichen Stoß verpasst. Es ist meine Schuld.« Tränen liefen ihr übers Gesicht.

Tanja stand auf. Sie ging langsam auf die fremde Frau zu und nahm sie in den Arm. »Und ich bin der Grund gewesen, warum sie sich ungeliebt fühlte. Ich habe sie abgewiesen«, flüsterte sie.

Ich konnte nichts sagen. Auch ein Kopfnicken war unangebracht. Aber ich wusste ganz genau, wie sich die beiden fühlten.