33

Es war ein langer, aufregender Tag gewesen. Magenspiegelung, die Angst vor dem Eingriff, und nun folgte das bange Warten auf die Ergebnisse. Staufenberg verbot sich, daran zu denken. Viel mehr beschäftigte ihn das Gespräch mit Georg Hille. Wenn er diesem Pseudoarzt, wie er ihn in Gedanken nannte, glauben konnte, war er, Lorenz Staufenberg, ein menschliches Auslaufmodell. Er saß in seinem Fernsehsessel, hielt eine Flasche Köstritzer in der Hand und dachte an das Gespräch mit Hille. Es hatte ihn mehr aufgeregt, als er zugeben wollte.

»Ja, Sauer und ich haben an der Sporthochschule hier in Leipzig gearbeitet. Ich hab immer nach Talenten Ausschau gehalten. Ich war Schwimmtrainer, und mir hat die Arbeit viel Spaß bereitet. Die jungen Mädchen konnte man formen, in die richtige Richtung beeinflussen. Während der DDR-Zeit standen uns alle Möglichkeiten zur Verfügung, wir hatten freie Hand. Nur die Erfolge waren wichtig. Wie wir dahin kamen, interessierte niemanden. Es war eine schöne Zeit.«

Staufenberg hatte mit wachsendem Unmut zugehört, als Hille die damals gängigen Praktiken aufzählte. Er hatte an die Frau vom Völkerschlachtdenkmal denken müssen.

»Sagt Ihnen der Name Schönherr etwas? Elke?«

Hille verneinte. »Müsste ich die kennen? Der Name sagt mir nichts, sie war nicht bei Olympia, oder? An die kann ich mich alle erinnern.«

»Nein, so weit ist sie nicht gekommen.«

Staufenberg hakte nicht weiter nach. Es war offensichtlich, dass für Hille nur Titel zählten und er sich wirklich nicht an seine ehemalige Schülerin erinnern konnte. Kalt wie eine Hundeschnauze.

»Sie reden von leistungssteigernden Mitteln. Amphetamine, Anabolika, Steroide?«

Wieder erklang dieses selbstgefällige Lachen. »Nein, natürlich nicht. Wir dopen nicht. Das wäre strafbar. Aber eine Zugabe von individuellen Mischungen an Mineralstoffen und Vitaminen inklusive eines auf den Menschen abgestimmter Ernährungsplans bringt erstaunliche Verbesserungen. Der Erfolg zählt. Das ist doch heute noch viel mehr gefragt als früher. In einer Leistungsgesellschaft wird erwartet, dass man perfekt funktioniert. Sauer verfügte über großes Wissen diesbezüglich. Er arbeitete im Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport. Wie profitieren hier von seinen Kenntnissen. Oder eher: profitierten.«

Staufenberg nickte, ohne etwas zu verstehen. »Wie meinen Sie das?«

»Unser Institut ist ein Ort, an dem ausgebrannte Manager, Banker und Wirtschaftsbosse ihre Akkus aufladen. Wir analysieren das Blut, schauen, welche Substanzen fehlen, um einhundertfünfzig Prozent geben zu können. Nahrungsergänzungsmittel heißt das Zauberwort. Nach maximal einer Woche sind die Herrschaften wieder in der Lage, ihrem Job nachzugehen. Und falls ein bisschen zu viel Fett über den Hosenbund schaut, können wir, seit Dr. Klühspieß hier ist, auch das beheben. Dann dauert der Aufenthalt bei uns etwas länger und kostet etwas mehr, aber der Patient verlässt uns noch vollkommener!«

Hilles Begeisterung sprühte aus jeder Pore. Staufenberg schüttelte den Kopf.

»Heißt das, dass Sie hier Ihre Dopingerfahrungen«, er unterbrach sich, »Entschuldigung. Ich meine natürlich Ihre Erfahrungen mit Nahrungsergänzungsmitteln, die Sie zu DDR-Zeiten gesammelt haben, zu Geld machen?«

Das Lachen des Arztes erklang schon wieder in seinen Ohren. »Was für eine treffende Formulierung! Ja, so ist es. Genial, oder? Natürlich läuft das alles etwas anders als früher. Bei uns muss niemand Muskeln aufbauen, bei uns geht es darum, das Gehirn zu Höchstleistungen anzustacheln. Natürlich muss der Rest des Körpers ebenfalls funktionieren. Jeder Kunde wird erst einmal gründlich untersucht. Wir stellen fest, wie der Stoffwechsel arbeitet, wie freie Radikale abgefangen werden. Stressminimierung. Aufgrund diverser Blutuntersuchungen erstellen wir einen individuellen Behandlungs- und Bewegungsplan. Und der Erfolg gibt uns recht. Es ist sehr lukrativ. Für beide Seiten.«

»Was ist mit Nebenwirkungen? Gesundheitlichen Schäden? Was können Sie über Spätfolgen sagen?«

Hille lächelte süffisant. »Wie gesagt, wir haben in der DDR viel gelernt, und Dr. Sauer war ein Experte auf dem Gebiet. Was glauben Sie denn, wie ein Wirtschaftsboss seinen Zwanzig-Stunden-Tag schafft, sechsmal die Woche, an fünfundzwanzig Tagen im Monat? Da brauchen Sie Energie, die Sie nach vorn bringt. Ihre Zeit ist zu kostbar zum Schlafen. Wir kriegen das hin. Deshalb kommen die Menschen zu uns.«

»Gab es nie Komplikationen bei Ihren Patienten? Oder sollte ich besser ›Kunden‹ sagen?«

»Natürlich nicht. Wie kommen Sie denn darauf?«

Staufenberg hatte genug gehört und das Gespräch beendet. Er glaubte Hille kein Wort. Es war ein offenes Geheimnis, dass zu DDR-Zeiten gedopt wurde, auch wenn es niemand zugab. Er schüttelte sich, als er jetzt an Hilles selbstgefälligen Gesichtsausdruck dachte, und hörte mit einem Ohr den wichtigsten Nachrichten des Tages zu.

In New York war der UN-Sicherheitsrat zu einer Dringlichkeitssitzung wegen Syrien zusammengekommen. Der Dow Jones hatte etwas zugelegt, und die Finanzmittel des Internationalen Währungsfonds würden aufgestockt werden. Die Mutter des toten Säuglings war gefunden worden. Eine Einundzwanzigjährige aus Hoyerswerda. Ein Zeugenhinweis im Zuge der Fernsehsendung Kripo Live hatte die Ermittler auf die richtige Spur gebracht. Was für eine Welt. Milliarden wurden für den Rettungsfonds bereitgestellt, doch eine junge Frau ließ man im Regen stehen. Aber das war seine ganz persönliche Meinung.

Staufenbergs Gedanken schweiften in die Vergangenheit. Natürlich hatte es Kindstötungen auch in der DDR gegeben. Das Böse lag nicht im System der Regierung, sondern im Menschen selbst. Auch wenn die Obersten der Welt hatten glauben machen wollen, dass es in der DDR kaum Verbrechen gab. Es war seltsam, er hatte seinerzeit nicht glauben wollen, dass die DDR dem Ende zuging. Die Demonstranten nicht verstanden, war hin und her gerissen gewesen zwischen Pflichtgefühl und Neid. Sie hatten sich eine Freiheit genommen, die sein Job ihm nicht ermöglicht hatte.

Damals hatte er auch vor dem Runden Eck gestanden, und gebetet, dass niemand nervös am Abzug spielte und irgendwann durchdrehte. Auf dem Platz waren sie, Massen von Leipzigern. Zögernd und dennoch entschlossen. Scharfschützen versteckt auf den Dächern. Es brodelte, niemand wusste mehr als er, wie knapp sie alle der Katastrophe entgangen waren. Es gab unterschiedliche Auffassungen, warum nichts passiert war. Fakt war, dass sich niemand in der Lage gesehen hatte zu schießen. Es hatte unzählige Depeschen an Entscheidungsträger gegeben, die wiederum nichts entscheiden wollten oder konnten und sie zum nächsthöheren Vorgesetzten weitergereicht hatten.

Bis es zu spät war.

Alles, was danach passierte, war Geschichte. Die DDR-Vergangenheit. Auch Staufenberg hatte sich in einem Freudentaumel befunden, bis dieser Anruf kam. Erst viel später begriff er, dass alles schon viel früher begonnen hatte. Die Aufräumarbeiten, wie man es auch nennen konnte.

Die Gerüchteküche brodelte Oktober 1989. Die Stimmung bei der Kriminalpolizei war gespannt. Umstrukturierungen waren an der Tagesordnung. Einer seiner Vorgesetzten, den Namen hatte er nicht mehr parat, es gab zu viele, rief ihn zu sich.

Er sollte Akten vernichten. Man brauche sie nicht mehr, erklärte ihm der Vorgesetzte, an dessen Uniform er sich erinnern konnte, nicht aber an das Gesicht. Einheitsgesichter. Wäre sein damaliger Dienstherr im Polizeidienst geblieben, hätte man dann erfahren, dass Staufenberg den Befehl nicht ausgeführt hatte? Fast die Hälfte der ehemaligen Volkspolizisten hatte nach dem Zusammenbruch der DDR gehen müssen. Er hatte nicht dazugehört. Und jetzt war sein Dienst fast zu Ende. Er hatte alles überstanden, überlebt.

Die Akten. Er hatte sie immer noch. Als er damals mit dem Stapel in sein Büro zurückgekehrt war, klingelte das Telefon. Andere wichtige Dinge mussten sofort erledigt werden. Die Papiere legte er zu seinen persönlichen Unterlagen und vergaß sie. Irgendwann kamen sie zu den anderen im Keller des Präsidiums. Und dort lagen sie noch immer. Camilla hatte ihm gesagt, dass in den nächsten Tagen ein abschließbarer Container zur Aktenvernichtung angeliefert würde. »Zeit zum Aufräumen«, hatte sie ihm lachend erklärt.

Sie hatte recht, er hätte es schon vor langer Zeit tun sollen. Doch jetzt, da sein Dienst beinahe Vergangenheit war, würde er es endlich angehen. Die ganzen privaten Aufzeichnungen, Überlegungen, die er nie hatte wegwerfen können und wollen – jetzt war es an der Zeit. Und dazwischen befanden sich diese Blätter, auf denen, soweit er sich erinnerte, hauptsächlich Namen und Daten gelistet waren. Ja, es war Zeit, sein Leben zu ändern, die alten Zöpfe abzuschneiden. Er war endlich beim Arzt gewesen, bereitete sich auf eine gesunde Ernährung vor und freute sich von ganzem Herzen auf seinen Schrebergarten.

Aber noch war es nicht so weit. Er stand auf, ging zum Kühlschrank und holte sich ein weiteres Bier. Mittlerweile hatte ein Krimi im Fernsehen begonnen. Er schaute, wie seine TV-Kollegen Fälle in fünfundvierzig Minuten lösten, und seufzte tief. Er hatte noch ein paar Tage.

»Saale«, murmelte er vor sich hin. Der Großvater des jungen Pflegers Claas. Er lehnte in seinem Sessel zurück und dachte nach. Er hatte nicht gern mit Geheimen zusammengearbeitet. Meist waren es Verurteilte und Kleinverbrecher. Natürlich hatten alle Decknamen. So wie Klaus. Ein schmieriger Typ, dem es Freude bereitet hatte, andere zu bespitzeln. Er hatte seine Finger in einem ganz unappetitlichen Fall von Grabschändung gehabt. Eine Gruppe von Kriminellen hatte in alten Familiengräbern am Leipziger Friedhof nach Zahngold gesucht. Staufenberg schüttelte sich. Das war einer der ekeligsten Fälle gewesen, an dem er gearbeitet hatte. Diesen Klaus hatte man als geheimen Mitarbeiter rekrutiert, und Staufenberg hatte ein paarmal mit ihm zu tun gehabt. Nach jeder Begegnung mit ihm hatte er das Gefühl gehabt, er müsse sich die Hände waschen. Dieser wabbelige, weiche Händedruck. Feucht und kalt. Wie ein toter Fisch.

Dann erinnerte er sich an Saale. Oder ›Moschus‹. Der war anders gewesen. Unauffällig. Er war in diesen Kunstdiebstahl verwickelt gewesen. Ein kleines Licht. Man nahm ihm seine Reue ab und stellte ihn als inoffiziellen Mitarbeiter ein. Als Wiedergutmachung am System.

Das nächste Bier war ausgetrunken, und Staufenberg holte sich eine neue Flasche. Im Schrank fand er noch eine Tüte Chips, die er mit ins Wohnzimmer nahm.

Er schaute zum Kalender, bald war es zu Ende. Und das war gut so.