35
Staufenberg beschloss, zu Fuß zur Wohnung des alten Saale zu gehen. Er nahm seine neuen Vorsätze ernst. Außerdem halfen frische Luft und Bewegung beim Nachdenken.
Zwanzig Minuten später stand er vor der Tür. Claas begrüßte ihn aufgeregt. »Opa hat sich in Schale geworfen. Er freut sich, dass Sie zugesagt haben. Ich habe Kaffee gekocht und Kuchen gekauft. Marmorkuchen. Ich hoffe, Sie mögen den.«
Staufenberg bezweifelte in diesem Moment, dass dieses Treffen eine gute Idee war und ihn irgendwie weiterbringen würde. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass er wenigstens eine gute Tat beging. Und vielleicht hatte der alte Saale doch etwas aufgeschnappt, was wichtig für diesen Fall war.
Die Begrüßung war herzlich und rührte Staufenberg sehr. Der alte Mann saß da und reichte ihm die Hand. »Sie waren immer ein Guter. Sie erinnern sich bestimmt nicht mehr an mich.«
»Doch, natürlich«, beeilte sich Staufenberg zu sagen.
»Ich hab nicht mehr viel Zeit und werde es deswegen kurz machen. Junge, geh mal schauen, wo meine blaue Strickjacke ist. Mir wird kühl.«
Claas wollte widersprechen, verschwand dann aber sichtlich verstimmt, als er den entschlossenen Gesichtsausdruck seines Großvaters sah.
»Der Junge muss nicht alles wissen. Ich kann mich noch gut an die Zeit kurz vor der Wende erinnern. Sie sicher auch, oder?«
Staufenberg nickte. »Damals machten Gerüchte, sich widersprechende Anordnungen und Befehle die Runde. Ein verirrter Haufen von Staatsdienern, denen die Ordnung abhandengekommen war. Wir waren ein Teil davon, und ich habe wie alle anderen gehofft und erwartet, dass die da oben alles richten würden.«
»Ich gehöre zu denen, die die DDR damals gern wiedergehabt hätten«, sagte Saale. »Das ist zum Teil bis heute noch so. Ich gebe aber zu, es hat mehr damit zu tun, dass ich, je älter ich werde, keine Veränderung mehr mag. Hab zu viel gesehen. Zu viel geglaubt und mich zu oft verrannt. Damals hab ich nicht das Gefühl gehabt, in einem Unrechtsstaat zu leben. Fand es gut, dass man mich zur Wiedergutmachung mithelfen ließ, Verbrechen aufzudecken. Wenn auch nur als geheimer Mitarbeiter.«
An seiner Schläfe pochte eine dunkle Ader. Das Reden strengte ihn an. »Und deshalb hab ich auch geschwiegen. Aber als mir Claas von dem Sauer erzählt hat, da wurde ich hellhörig. Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan hab, nie gewesen, und ich hab meine Strafe abgesessen. Da hab ich den auch kennengelernt.«
»Wen haben Sie wo kennengelernt?«, fragte Staufenberg irritiert.
»Na, den Sauer, im Gefängnis.«
»Sie müssen sich irren. Dr. Sauer war nie im Gefängnis.«
»Glauben Sie nicht alles, was in den Akten steht. Das hat man ganz oft gemacht.«
»Was meinen Sie, Herr Saale? Ich verstehe Sie nicht.«
Der alte Mann lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Ader an der Schläfe pochte heftiger. Als er den Blick wieder hob, sah er Staufenberg eindringlich an.
»Die haben die Identitäten getauscht. Stellen Sie sich Folgendes vor: Ein regimetreuer Bürger, in diesem Fall ein erfolgreicher Sporttrainer, schwängert ein junges Mädchen. Man muss ihn aus dem Verkehr ziehen. Das Mädchen flieht in den Westen, der Trainer wird offiziell der Fluchthilfe angeklagt und inhaftiert. Inoffiziell wird er nach Russland geschickt, um sich dort in Sachen Doping weiterzubilden. Aber irgendwann muss er wieder zurück, man will in der DDR nicht auf seine Kenntnisse verzichten. Es wird ein Ersatzmann gesucht und gefunden. In diesem Fall ein Mediziner, ein schüchterner Kerl ohne Familie. Man lockt ihn mit Aussicht auf bahnbrechende Forschungen in Russland ins Stasibüro. Nur kommt der arme Kerl nicht nach Russland, sondern ins Gefängnis. Dort stirbt er. Zufall? Ich glaube nicht. Aber der Weg nach Leipzig ist frei für unseren Dopingspezialisten. Der Tote wird für Kummerer ausgegeben und beerdigt. Der richtige Kummerer kehrt mit falscher Identität, als Dr. Sauer, nach Leipzig zurück. Man feilt ein wenig an den Lebensläufen, und alles ist in bester Ordnung.«
Er wirkte erschöpft. »Beweisen kann ich es nicht. Irgendwo gibt es bestimmt noch Unterlagen, aus denen man Rückschlüsse ziehen kann, wenn die nicht alles haben vernichten lassen. In den offiziellen Stasiakten gibt es sicherlich nichts. Das durfte nicht publik werden. Das Mädchen, das Kummerer geschwängert hatte, war auch ein perfektes Opfer. Die haben sich immer Mädchen ausgesucht, an denen sie die Dopingmittel ausprobieren konnten. Waisen aus dem Heim oder Kinder aus zerrütteten Familienverhältnissen. Alles arme Seelen, denen keiner auch nur eine Träne nachweinte, wenn es schiefging. Menschliche Versuchskaninchen. Und dann wurden sie fallen gelassen und unter Druck gesetzt, damit sie niemanden etwas erzählten. Ich würde gern wissen, was aus der Kleinen vom Kummerer geworden ist, die in den Westen abgehauen ist. Ob sie ein gesundes Baby zur Welt gebracht hat, wenn sie es überhaupt überlebt hat.« Die letzten Worte hauchte er. Er verlor zusehend seine Kraft.
Staufenberg schaute den alten Mann nachdenklich an. »Was mir nicht in den Kopf will, ist, warum niemand die Verwandlung von Sauer und Kummerer bemerkt hat.«
»Wem hätte das denn auffallen sollen? Sauer lebte zurückgezogen. Pflegte keine engen Freundschaften, hatte keine Familie. Und so ein Russlandaufenthalt kann jeden verändern.«
Staufenberg nickte. So konnte es gewesen sein. Es war eine Erklärung.
Der alte Mann lehnte sich abgekämpft an die Lehne seines Sessels. Er schloss die Augen. »Mehr weiß ich nicht, aber dieser Kummerer war kein netter Mann. Dem trau ich sehr viel zu.«
Staufenberg reichte Saale die Hand und verabschiedete sich.
Zu Fuß ging er zurück in die Dimitroffstraße. Das Gespräch mit Claas’ Großvater hatte ihn beunruhigt. Er dachte an alte Akten, an Unterlagen, die verschwinden sollten, und an seine Kartons, die in seinem Auto auf ihn warteten. Ein Gedanke setzte sich fest und ließ sich nicht vertreiben. Statt ins Büro zu gehen, setzte er sich ins Auto und fuhr nach Hause. Er musste es wissen, jetzt. Karton für Karton schleppte er in seine Wohnung. Nacheinander holte er die Papierstapel aus den Kisten heraus. Das erste Blatt informierte ihn über den ungefähren Zeitpunkt der darunterliegenden Haufen. Er überflog die Zahlen, Daten und Fakten. Er wusste, wonach er suchte. Es dauerte nicht lange.
Ungläubig schaute er darauf. Las es wieder und wieder und konnte es doch nicht glauben. Alles, was hier stand, bekräftigte die Aussage des alten Mannes. Aber er wusste nicht, was er mit diesem Wissen anfangen sollte. Was hätte Klara getan?
Je näher seine Pensionierung kam, umso mehr vermisste er sie. Warum hatte sie es nicht mit ihm ausgehalten? Er wusste die Antwort, er musste sich das nicht jedes Mal fragen. Drei Jahre war sie an seiner Seite gewesen. Hatte mit ihm gelacht, diskutiert und gestritten. Sie hatten sich angeschrien und geliebt. Sonntags waren sie, wenn es seine Zeit zuließ, in die Stadt gegangen, hatten einen Kaffee getrunken und Leipziger Lerchen gegessen. Klara hatte das Gebäck aus Mürbeteig, Mandeln, Nüssen und Erdbeerkonfitüre geliebt und sich nie mit nur einem zufriedengegeben.
Er hatte keine Ahnung gehabt, dass sie schon länger mit dem Gedanken spielte, ihn zu verlassen, als sie an einem dieser Sonntagnachmittage im Café am Thomasplatz saßen und sie ihr Gebäck nicht anrührte. »Es geht nicht, Lorenz«, hatte sie gesagt.
Er sah sie an, überlegte, was sie wohl meinen könnte. Erst als sie ihm nicht in die Augen blickte, befiel ihn eine dunkle Ahnung, dass das Ende ihrer gemeinsamen Beziehung bevorstand.
»Ich hab mir das lange angeschaut. Du bist Polizist, ein guter, soweit ich das beurteilen kann.«
»Was hat mein Beruf mit uns zu tun?«, fragte er und wusste doch die Antwort bereits. Mit ungläubigem Gesichtsausdruck nahm er ihre Erklärungen entgegen.
Zum Schluss sagte sie: »Zu einer anderen Zeit vielleicht, an einem anderen Ort?«, stand auf und ging.
Klara war gerade an der Tür angekommen, als er mit seinem Unterarm die Tassen und Teller vom Tisch fegte und laut fluchte. Sie waren allein im Gastraum. Die Bedienung wusste, wer er war, und traute sich nicht, ihn zur Rede zu stellen. Sie stand erschrocken und eingeschüchtert an der Theke, blickte Klara mit angstgeweiteten Augen an.
»Das meine ich, Lorenz«, waren ihre letzten Worte an diesem Sonntag, bevor sie verschwand. Er sah sie nicht wieder, bis zu dem Tag im Krankenhaus. Soweit er wusste, hatte es nach ihm keinen anderen Mann an ihrer Seite gegeben.
Anfangs versuchte er noch, sie umzustimmen, weil sie ihm fehlte. Sie glaubte seinen Versprechungen nicht, dass er sich ändern wolle. Irgendwann sah er ein, dass seine Versuche, sie zurückzuerobern, ins Leere liefen. Sie verabredeten, dass sie einmal in der Woche miteinander telefonieren wollten, wenn er die Bemühungen, sie umzustimmen, aufgeben würde. Er hielt sich daran. Die Telefonate waren ihm heilig, ihre Stimme zu hören gab ihm Kraft. Selbst als der Umbruch nah war und sie auf den Montagsdemonstrationen mitmarschierte, telefonierten sie. Sie sprachen über das Wetter, über Alltägliches, doch niemals über aktuelle Politik. Als die Mauer fiel, lag Staufenberg mit einem komplizierten Beckenbruch im Krankenhaus. Klara rief ihn an, redete über ganz Alltägliches, bis sie zum Schluss sagte: »Die Mauer ist gefallen. Es gibt keine DDR mehr.«
»Ja«, war seine Antwort. Wäre er, wie so viele Kollegen, nicht übernommen worden, wären Klara und er vielleicht wieder ein Paar geworden. Doch Lorenz Staufenberg war ein guter Kommissar.
Klara hatte immer die Idee mit dem Schrebergarten gehabt. Als sie noch zusammen gewesen waren, hatte sie davon geträumt, sich einen zuzulegen, wenn er Rentner wäre. Dann hatte sie sich in bunten Farben ihre gemeinsame Zukunft in der Laube ausgemalt, die sie bewirtschaften wollten. Mit Nutzgarten, verschiedenen Gemüse- und Obstsorten und ein paar duftenden Zierrosen.
Dann schlug der Krebs zu. Als sie ihm von ihrer schweren Erkrankung erzählte, war es bereits zu spät, und er hatte nur noch eine Woche mit ihr, bevor sie elendig verreckte. Anders konnte er das nicht nennen. Vollgepumpt mit Morphium, gezeichnet von Schmerzen und Angst, ein Abklatsch der lebenslustigen und energischen Frau, die er sein ganzes Leben lang gekannt und die meiste Zeit davon geliebt hatte.
Er seufzte. Jessica erinnerte ihn an Klara. Nicht nur an ihr Aussehen, sondern auch an alles, was hätte sein können. Versäumnisse, die er bereute. So wie Jessica musste Klara als junges Mädchen gewesen sein. Warum brachte ihn der letzte Fall an seine emotionale Grenze? Warum gab ihm das Schicksal nicht einen einfachen Raubmord, den er aufklärte, um dann endlich in den wohlverdienten Ruhestand zu gehen?